ORGASM GAP INTERVIEW

Der Penis als Maß aller Dinge

von | 11. Februar 2022

Die Klitoris hat doppelt so viele Nerven wie der Penis - bekommt beim Sex aber selten die gleiche Aufmerksamkeit. Was Pornos, die Affenwelt und Pussy Yoga damit zu tun haben, erklärt Dr. Mandy Mangler im Interview.

Er gekommen, sie nicht. Penetration mit Hilfe des Penis, die Normalität. Bücher, Filme Pornografie – sie alle zeigen den Penis, der in die Vagina eindringt. Tatsächlich sieht es in den Schlafzimmern der hetero-normativem Paare mit der ausgeglichenen Orgasmushäufigkeit mangelhaft aus. Laut einer Studie aus den USA über die Unterschiede in der Orgasmushäufigkeit bei schwulen, lesbischen, bisexuellen und heterosexuellen Männern und Frauen haben heterosexuelle Männer zu 95 Prozent und heterosexuelle Frauen nur zu 65 Prozent einen Orgasmus während des Sex. Diese 30 Prozent überraschen, weil heterosexuelle Beziehungen die meist verbreitetste und gezeigte Beziehungsform ist und im Vergleich zu bi- und homosexuellen Partnerschaften schlecht abschneidet.

Bild: Mandy Mangler

Um eine medizinisch-fachliche Einschätzung zur Orgasm Gap zu bekommen, spricht medienMITTWEIDA mit Dr. Mandy Mangler, Chefärztin der Gynäkologie des Auguste-Viktoria-Klinikums in Berlin. Sie ist Podcasterin des deutschlandweit bekannten Gyncast in dem es um die wichtigsten Stationen der Frau im Leben geht. Sie behandelt alle Themen von Sex, Liebe und Lust, aber auch mit Themen, wie den neuesten Rasurtrends, Brustkrebs oder Fehlgeburten setzt sie sich auseinander.

Wie präsent schätzen Sie das Thema Orgasm Gap im Sexualleben der Deutschen ein?

Dr. Mandy Mangler: Ich schätze das Thema als sehr relevant und vollkommen unterbewertet ein. Das ist ein Thema, womit sich die Menschen nicht auseinandersetzen. Gesellschaftlich ist es so strukturiert, dass die Sexualität und der Orgasmus der Frau keine wichtige Rolle spielen. Die Rolle, dass die Frau sexuell verfügbar ist, ist die Größere, auf die der Fokus gelegt wird. Deswegen will man mit Sachen wie dem Orgasm Gap nichts zu tun haben.

Was ist das Hauptproblem, weshalb Paare oft unter dem Orgasm Gap leiden?

Dr. Mandy Mangler: Unsere Gesellschaft ist klar männlich orientiert und strukturiert. Wir nehmen den Mann als Standard und orientieren uns auch in der Sexualität an ihm. Er braucht Penetration und Ejakulation und die Frau braucht das eben nicht, was schwierig ist. Männer haben eine schnelle Möglichkeit, Orgasmen zu bekommen und das nehmen wir als Standard und messen die Frau daran. Und dann sagt Mann schnell: „Moment mal, die braucht ja was ganz anderes, hui, das ist uns alles ganz suspekt”. Im Patriarchat, in dem wir leben, ist diese Idee, dass Frauen etwas anderes brauchen könnten, nicht richtig verankert. Das ist also die erste Hürde, die zu schaffen ist. Damit ein Paar oder Männer begreifen, dass die Frau nicht unbedingt Penetration braucht, sondern dass Penetration ein Teil der Sexualität sein kann, aber nicht der Hauptteil.

Sexuelle Handlungen an sich sind Sexualität. Frauen profitieren in ihrem Lustempfinden häufig von sexuellen Handlungen, die nicht alleine die Penetration sind. Das muss man sich erst mal klarmachen. Dazu muss man aber selbst einen sehr großen Abstand zu dem, uns lang eingetrichterten, Bild finden und sich von allen möglichen Bildern der Pornografie distanzieren. Dort wird suggeriert, dass der Penis das Pendant zur Vagina ist. Dass das weibliche Sexualorgan die Vagina und das männliche Sexualorgan der Penis ist. Das ist aber vollkommener Irrglaube. Das Sexualorgan der Frau ist die Klitoris und durch Penetration der Vagina kann die Klitoris stimuliert werden, was lustvoll sein kann.

“Die Klitoris ist das Pendant des Penis und wenn man das erstmal begriffen hat, dann kann man das nicht mehr wegdenken.”

Die Vorstellung, dass Sex nach der Penetration, dem Rein-Raus, der Ejakulation oder wenn der Mann gekommen ist, beendet ist, macht genau diesen Irrglauben evident. Wenn Sexualität also darauf beruht, haben wir einfach ein total falsches Bild.

Welcher medizinische Aspekt spielt bei dem Orgasm Gap die größte Rolle – psychisch wie physisch?

Dr. Mandy Mangler: Es ist ein physisches Problem, beziehungsweise ein Definitionsproblem. Wir verstehen die Vagina als zusammengehörig mit dem Penis, aber in Wirklichkeit ist die Klitoris das Ziel der weiblichen Lust. Wir definieren unseren eigenen Körper falsch, nicht nur gesellschaftlich. Frauen selbst sprechen meist von ihrer Vagina.

„Die Vulva wird geghostet, sie wird einfach ausgeblendet!”

Auch in den Pornos spielt die Klitoris nur ganz selten eine Rolle. Es wird penetriert, in allen Formen. Die Frau wird als vaginales Lustobjekt gesehen, in das man jederzeit irgendwas reinstecken kann – das ist völlig bizarr. Ich weiß also von keinen richtigen psychischen Ursachen für die Orgasm Gap. Männer haben andere Orgasmen als Frauen und das ist das grundlegende Definitionsproblem.

Wieso kommt der Mann statistisch schneller, hat das evolutionsbedingte Gründe?

Dr. Mandy Mangler: Ja, das hat evolutionsbedingte Gründe. Früher, wie auch heute bei manchen Affenarten, darf das dominante Männchen alle Weibchen begatten, während die anderen Männchen das nicht dürfen. Die weniger dominanten Männchen wollen das allerdings auch, um Nachkommen zu zeugen. Sie mussten sich also heimlich an die Weibchen anpirschen und dann möglichst schnell ihr genetisches Material in Form von Ejakulation loswerden.

„Die Evolution hat die weibliche Lust ein bisschen aus dem Blick verloren”.

Irgendwie funktionierte die Fortpflanzung auch ohne die weibliche Lust. Deswegen ist die Klitoris auch kleiner, sie hätte auch größer sein können und einfacher zu bedienen. Ähnlich einfach wie die des männlichen Geschlechtsorgans. Wir orientieren uns allerdings meist am Mann, dass er der Standard ist, dass er ejakulieren und eine Erektion bekommen kann. Allerdings könnten wir auch sagen, dass die Frau der Standard ist und dass eine komplexere Klitoris, die ausgiebig bedient werden muss, viel toller ist und der Mann mit der schnellen Penetration und Orgasmen der Defizitäre (mit einem Defizit belastet) ist.

Welche physischen Übungen kann man als Frau oder auch als Mann machen, um größere Chancen auf einen Orgasmus zu haben?

Dr. Mandy Mangler: Egal welches Geschlecht man hat, man profitiert schon mal davon, viel Sex zu haben. Gibt mir Sex ein angenehmes Gefühl, ich fühle mich dabei wohl, hätte das gern öfters und möchte mehr und effizientere Orgasmen haben, dann kann man Sexualität so begreifen, dass sie zu einem gehört. Sie ist dann essentiell für einen, sodass man mehrmals wöchentlich oder täglich Sexualität haben will. Ist man sich im Klaren, dass man mehr intensivere Sexualität möchte, kann man viel dafür tun. Praktisch alles, was den Beckenboden und das Genital mehr durchblutet. Man kann also Beckenbodentraining, Sex oder Selbstbefriedigung als Training betrachten oder viele andere Angebote, wie Cantienica bis hin zu Pussy Yoga auf YouTube und Co.

„Man kann sagen, mehr Sex führt zu mehr Sex– weniger Sex führt zu weniger Sex.”

Wenn ich jetzt nur einmal im Monat Sex habe, dann werde ich auch nicht auf einmal nächste Woche jeden Tag Sex haben. Das ist unwahrscheinlich. Mehr führt zu mehr und weniger führt zu weniger, wie eine Spirale oder ein Kreislauf.

Man kann außerdem noch mehr die Sexualität im Alltäglichen in sein Bewusstsein rücken. Wenn man zum Beispiel arbeitet oder andere Dinge zu tun hat, kann man sich aktiv an Dingen erfreuen, die einem Lust bereiten. Es muss nicht immer Sex sein, sondern kann auch ein schönes Essen, eine schöne Stimmung, ein schönes Bild oder ein schöner Mensch sein. Man kann sich so selbst feedbacken – ich erlebe und empfinde Lust. Später, wenn man Zeit hat, kann man diesen Gedanken wieder aufgreifen und merken: „Ok, das war sehr lustvoll, ich bin ein sinnlicher Mensch und habe auch tagsüber Momente, wo ich merke, dass ich Lust habe”. Auch hier gilt, dass mehr zu mehr führt.

Dann gibt es natürlich auch Medikamente. Für Männer Viagra, für die Frauen gibt es solche ebenfalls, die allerdings relativ sinnlos und nicht zu empfehlen sind. Es ist Quatsch, solche Medikamente als Option zu sehen, womit laut Studie ungefähr 0,5 Mal mehr Sex im Monat das Resultat ist. Die starken Nebenwirkungen und der Profit stehen in keinem Verhältnis. Für Frauen gibt es also keine richtige Option, außer an ihrem Lustempfinden zu arbeiten. Es gibt allerdings auch Menschen, die mögen Sex nicht und können getrost darauf verzichten. Sie sollen ebenfalls damit glücklich werden, ohne dass sie zu irgendetwas durch ihren Partner gezwungen werden. Das ist auch wichtig, nicht jeder hat den Bedarf nach viel Sex.

Was ist Ihnen abschließend noch wichtig zu sagen, wenn es um das Thema Orgasmus geht?

Dr. Mandy Mangler: Es ist absolut bizarr, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der Frauen in heterosexuellen Sexualkontakten zu 62 Prozent Orgasmen haben und Männer zu 95 Prozent. Ich höre oft von Frauen, die sagen, dass sie trotz ausbleibendem Orgasmus eine erfüllte Sexualität haben. Ja, weil Sexualität nicht nur Orgasmus ist, sondern auch Haut-zu-Haut Nähe und Bindung eine Rolle spielt, somit auch Oxytocin ausgeschüttet wird und man ein angenehmes Gefühl hat. Das ist auch okay so, aber wir sollten uns auch aktiv darüber bewusst sein, dass wir in einer Gesellschaft leben, die die Sexualität der Frau strukturell benachteiligt, vernachlässigt und ausblendet und deshalb ist das ungerecht mit dem Orgasm Gap. Ich könnte damit leben, wenn man sagen würde, ok, wir Frauen profitieren zum Teil von anderen Dingen, die uns Sexualität gibt, es muss nicht immer der Orgasmus sein. Grundlegend leben wir in einer patriarchalischen Gesellschaft, die Frauen insgesamt als auch andere Menschen strukturell benachteiligt. Das führt dazu, dass die Sexualität, die Bedürfnisse und Wünsche der Frau komplett gebeugt werden und das ist ein Problem. Das finde ich alles ungerecht, das ist nicht richtig so und deswegen muss man das ändern.

Text: Alicia Rabe Titelbild: Luzie Carola Rietschel 

<h3>Alicia Rabe</h3>

Alicia Rabe

ist 21 Jahre alt und studiert derzeit im vierten Semester Medienmanagement an der Hochschule Mittweida. Bei medienMITTWEIDA engagiert sie sich als Redakteurin seit dem Wintersemester 2022.