Die Bücher über die Hungerspiele hielten vor über einem Jahrzehnt eine ganze Generation in Atem, „Das Lied von Vogel und Schlange“ ließ diese Begeisterung wieder auflodern – jetzt steht die Reihe wieder in Flammen. Allgemein besteht in der Fangemeinde der Konsens, dass Suzanne Collins schreibt, wenn sie etwas zu sagen hat. Genau das demonstriert sie in „Die Tribute von Panem L. Der Tag bricht an“ erneut, indem sie ethische und moralische Problemstellungen in einer ausgefeilten Handlung von vielschichtigen Charakteren austragen lässt.
„Die Tribute von Panem L. Der Tag bricht an“ von Suzanne Collins erschien im März diesen Jahres – mit einer Auflage von 300.000 Exemplaren beim Oetinger Verlag. Das L im Titel entspricht der römischen 50, weil das Buch die 50. Hungerspiele zeigt. Diese Vorgeschichte wird von Haymitch Abernathy erzählt, dem Mentor der originalen Trilogie. Dabei liegt die Botschaft des Werkes klar auf dem Thema Propaganda. Schon die vier einleitenden Zitate machen dies deutlich. Sie zitiert dabei unter anderem George Orwell, der für seine sozialkritischen Werke bekannt ist.
Alle Propaganda ist Lüge, auch wenn man die Wahrheit sagt. Das spielt aber keine Rolle, solange man weiß, was man tut und warum.
– George Orwell, Autor von 1984
Die Tribute von Panem Trilogie - Haymitchs Rolle als Mentor
Vor über 15 Jahren begann die Reihe – und Haymitchs Zukunft.
1. Teil: Tödliche Spiele (2008)
Katniss Everdeen meldet sich freiwillig, um ihre Schwester Prim vor der Teilnahme an den 74. Hungerspielen zu retten und muss diesen Todeskampf nun an der Seite von Peeta Mellark bestreiten. Haymitch ist ihr Mentor, zunächst unwillig, doch während der Spiele unterstützt er sie so gut er kann. Dafür muss er Sponsoren aus dem Kapitol, der Hauptstadt der reichen Obrigkeit, für sie gewinnen. Die beiden sind auf einer Wellenlänge und so gelingt es den Jugendlichen die Spiele zu gewinnen – als erstes Siegespaar in der Geschichte. Doch das Schauspiel um die Gunst der Kapitolbewohner endet nicht mit den Spielen.
2. Teil: Gefährliche Liebe (2009)
Gerade als sie sich sicher glaubten, stürzen die 75. Hungerspiele die Helden wieder ins Unglück, als die Tribute der Spiele diesmal aus den früheren Gewinnern gezogen werden. Haymitch kehrt als Mentor zurück, als Peeta seinen Platz in den Spielen übernimmt, spielt jedoch insgesamt keine ausgesprochen große Rolle. Gemeinsam mit ihren Vorgängern müssen Katniss und Peeta in einer perfide konstruierten Arena um ihr Überleben kämpfen, doch im Hintergrund verwirklichen die anderen Sieger Pläne, von denen die beiden keine Ahnung haben. Schließlich endet dieser Band damit, dass die Arena zerstört und Katniss bewusstlos aus dieser herausgeholt wird.
3. Teil: Flammender Zorn (2010)
Während Katniss in einem längst zerstört geglaubten Teil des Landes darauf vorbereitet wird, die Aufstände als Symbol der Rebellion anzuführen, befindet sich Peeta in den Fängen des Kapitols. Sie beginnt mit Haymitchs Hilfe ihre Rolle anzunehmen und es gelingt ihnen, Peeta und weitere Sieger zu befreien. Schließlich arbeiten sie sich durch ein mit Fallen bestücktes Kapitol, um den Präsidenten zu töten. Letztendlich erkennt Katniss in der Anführerin der Rebellen, die die nächste Präsidentin werden will, ebenfalls gefährlich diktatorische Züge und richtet ihren Pfeil auf sie. Nach ihrem Tod kehren Katniss und Peeta, begleitet von Haymitch, in ihre Heimat zurück und gründen eine Familie. So können sie endlich sicher vor den grausamen Gefahren des nun gestürzten Systems leben.
Neue Handlung, bekannte Gesichter
„Der Tag bricht an“ begleitet den sechzehnjährigen Haymitch Abernathy vor, während und nach den 50. Hungerspielen – anlässlich dieses Jubiläums werden doppelt so viele Kinder für den blutigen Wettbewerb in der Arena ausgewählt. Die Leser:innen erfahren, wer ihn begleitet und wie die verschiedenen Tribute sich auf ihre eigene Art und Weise gegen die Spiele und die Kontrolle des Kapitols auflehnen. Zudem lernen sie mehr über frühere Versuche diese Herrschaft zu beenden, vor allem durch bereits bekannte Charaktere wie Plutarch Heavensbee, den späteren Spielemacher, und Beetee, einen der früheren Sieger. Dieser Band bietet auch mehr Hintergrundinformationen zu anderen Siegern aus der originalen Trilogie, wie zum Beispiel zu Mags und Wiress. Sie alle unterstützen und beeinflussen Haymitch auf seinem Weg. Stück für Stück überwindet der Junge aus Distrikt 12 die Hürden, die ihm in und außerhalb der Arena gestellt werden – und muss dabei mehr geliebte Menschen und Teile seiner Identität verlieren, als er je erwartet hätte.
Kritiken von Fans und Presse
Bereits am Tag der Veröffentlichung des Buches wurde deutlich, was sich in den kommenden Wochen noch festigen sollte: Die Fans sind begeistert – und gebrochen. Videos von weinenden Lesern füllten Social-Media-Plattformen. Sie sind froh, dass die Geschichte trotz ihrem bereits bekannten Ende veröffentlicht wurde und so mehr Details bietet. Vereinzelt gibt es dennoch Fans, denen die Geschichte zu langweilig, der Protagonist nicht „cool genug“ ist. Die Geschichte sei trotz neuer Informationen einfach nichts Neues, meint PureBrass, eine kritische Leserin, in ihrem Blog.
Die professionellen Kritiken zum Werk sind wiederum ausgesprochen positiv. „Denn es gelingt Collins, Abernathys Geschichte gefühlvoll und unterhaltsam zu erzählen“, wie die Süddeutsche Zeitung schreibt. „Allein für ethisch korrektes Verhalten sind die „Tribute von Panem”-Bücher und ihre Vorgeschichten wie „Die Tribute von Panem L. Der Tag bricht an” ein Leitfaden. Obendrein sind sie spannend dystopischer Lesestoff, der zum Nachdenken anregt. Jackpot“, schreibt Ursula Schmied von GLAMOUR. Wie auch seine Vorgänger eroberte der neue Band die Spitze der Bestsellerlisten – und den ersten Platz der BookTok-Charts bereits vor seinem Veröffentlichungsdatum.

Die deutsche und englische Ausgabe des Werkes unterscheiden sich nicht nur im Titel, auch die Buchumschläge sind sehr verschieden gestaltet. Das deutsche Buch fokussiert, minimalistisch in der Farb- und Gestaltungsmittelwahl, auf das L der 50. Hungerspiele. Währenddessen zeigt das englische Cover Haymitchs Feuerstarter, ähnlich der Vogel-Anstecker, die die Einbände der originalen Trilogie zierten. Quelle: Phoenix Herzog
Eine Münze mit zwei glänzenden Seiten
Die „Tribute von Panem“-Bücher sind mehr als nur ein politisches Werk. Auch „Der Tag bricht an“ bietet seinen Leser:innen, was sie in den vorherigen Teilen begeisterte – ein vollständiges literarisches Erlebnis, das sie fesselt. Tiefgreifend ausgearbeitete Charaktere, die viele Leser-Herzen erobern, erleben emotionale Geschichten in denen stets überraschend Gelächter oder Tränen gleichermaßen hervorgerufen werden können. Dabei ist jeder Charakter detailliert ausgearbeitet, sodass man sich ihnen emotional verbunden fühlt. Wir leiden mit Haymitch, während er immer mehr Leid erlebt und findet sich dank seiner Erzählperspektive mitten in der Geschichte wieder. Auch die anderen Tribute wachsen einem mit ihren feinen Eigenheiten schnell ans Herz, beispielsweise seine Konkurrentin und spätere gute Freundin Maysilee Donner, die mit ihrem Stolz und ihrer Schlagfertigkeit für Schock und Aufheiterung sorgt. Präsident Snow, der Ursprung des meisten Unglücks in der gesamten Serie, wird durch ebenjene Details umso angsteinflößender und verachtungswürdiger. Diese Darstellungen sorgen für ein unglaublich fesselndes Leseerlebnis.
Auch Suzanne Collins gesamter Schreibstil fesselt und ihr Detailreichtum ermöglicht es, auch nach mehrmaligem Lesen noch neue Metaphern zu entdecken und Symbole zu entschlüsseln. Diese Verbindungen erschaffen die lebendige Welt von Panem – ein Netz aus Intrigen und Gefühlen. Die Wendungen sind oft nicht vorhersehbar und dadurch umso erschütternder oder aber so erwartet, dass der Schmerz nach vergeblichem Hoffen und Bangen umso tiefer trifft. Diese Momente der Erkenntnis binden Leser:innen mit ihrer Emotionalität an die Geschichte. Auch in diesem Werk schafft die Autorin es, ihrem Publikum bis zur letzten Seite immer wieder den Atem zu rauben – mit kleinen Glücksgefühlen in liebevollen, zwischenmenschlichen Momenten der Hauptfiguren und unbegreiflichem Schmerz, wenn diese unvermeidlich leiden. Es entsteht ein Ergebnis, das seine Leser:innen vollkommen verschlingt – eine fantastisch gelungene Geschichte.
Eine Geschichte in einer zukünftigen Welt zu erzählen ermöglicht dir Dinge zu erkunden, die dich in der Gegenwart stören.
Propaganda und Widerstand
Wie die vorherigen Teile hat auch dieses Buch eine starke politische Haltung. Es thematisiert Propaganda, Macht und Widerstand mit einer klaren Präzision, einschneidend und doch perfekt in die Handlung eingefügt. Diese Themen werden vor allem von den Charakteren um Haymitch herum getragen. Beispielsweise tritt der zukünftige Spielemacher Plutarch Heavensbee vermehrt in Szenen auf, in denen er verdeutlicht, wie das Kapitol Propaganda zur Meinungsbildung verwendet. Dies gelingt durch die Darstellung der Produktion und Vermarktung der Hungerspiele und erlaubt außerdem viele neue Einblicke in das Leben im Kapitol. Auch Beetee tritt wieder auf und wird, mitsamt seiner Familie, zum Symbol für den Widerstand. Diese Charaktere und die Tribute verschiedener Distrikte unterstützen Haymitch auf dem Weg, „sein eigenes Poster zu malen“ wie sie es nennen. So wird er immer tiefer in das Netz der Rebellion verstrickt – mit dem Ziel, die Arena zu zerstören und die Spiele zu beenden.
Kunst spiegelt Realität und Realität spiegelt Kunst
Die Thematiken der Macht und Kontrolle durch Beeinflussung der Bürger spielen auch in der aktuellen Politik, besonders im Hinblick auf die Vereinigten Staaten, eine große Rolle. Es kann mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die Verwendung dieser Inhalte kein Zufall ist, wenn man betrachtet, wie Präsident Snow in den Büchern alle Fäden in der Hand hält und nahezu jeden eiskalt und skrupellos seinem Willen unterwirft. Die Medien haben einen großen Einfluss auf die Politik und Geld beeinflusst wer bestimmte Positionen einnehmen kann. Dies zeigt beispielsweise die Einführung der Effizienzbehörde DOGE (Department of Government Efficiency), die die Effizienz der Regierung überwachen sol. Sie wurde geschaffen und geleitet von Elon Musk, dem Eigentümer der Plattform X, der durch seine Investitionen und Beziehung zu Trump an dieser Stelle eingesetzt wurde. Auch Präsident Snow hält seine Position unter anderem darüber, wie er sich in den Medien präsentiert und einige Charaktere in der Geschichte sind gerade durch Geld und gute Beziehungen an ihre Positionen gekommen, so wie Plutarch Heavensbee.
Auch Suzanne Collins ursprüngliche Idee entstammt der Realität – genauer gesagt dem Reality-TV. Beim Springen zwischen diesen Shows und der Berichterstattung zum Krieg im Irak festigte sich in ihr das Konzept zur originalen Trilogie. Gerade diese Absurdität kann man im Kontrast der politischen Lage und den Reality Shows, etwa über Promis wie die Kardashians, gerade wieder erkennen. Während die Bücher Teile der Realität widerspiegeln, wurden bestimmte Inhalte auch bewusst von Menschen in ihre Leben übernommen. Bereits nach Erscheinen der vergangenen Bücher und Filme fanden sich die Symbole von Panems Widerstand in Protesten der echten Welt. Etwa wurde der Drei-Finger-Gruß, ein Zeichen von Geschlossenheit gegen die Obrigkeit, bei den Militärputschen in Myanmar im Jahr 2021 verwendet. Collins Botschaften sind ein Funke, der viele Menschen erreicht und dessen Feuer sich schnell zu einem Brand auszubreiten vermag.

Eine Demonstration gegen das Militär in Myanmar, 2021. Die Protestierenden recken drei Finger in die Luft – ein Gruß, den auch Katniss und die Distrikte in Suzanne Collins Geschichten verwendeten. Quelle: VOA Burmese
Möge das Glück stets mit euch sein
Wie ein Lauffeuer verbreitet sich auch die Begeisterung für den Film, der mit Veröffentlichung von „Der Tag bricht an“ angekündigt wurde.
Der Teaser für den Film zeigt einen Vogel und eine Schlange, golden und an ihren Schwänzen verschmolzen – Haymitchs Feuerstarter, das Symbol der neuen Geschichte. Quelle: Lionsgate YouTube-Kanal
Die offiziellen Social-Media-Accounts offenbaren auf mehreren Plattformen nach und nach die ausgewählten Schauspieler:innen, die in die großen Fußstapfen des Franchise treten werden. Hinter einer Animation verbrennender Buchseiten werden die ausgewählten Schauspieler verkündet. Einige Castings wurden mehr erwartet als andere, etwa Elle Fannings als Effie Trinket mehr als Ralph Fiennes in der Rolle von Präsident Snow. Nach der allgemein begeisterten Aufnahme der Besetzungen erlaubte sich das Marketing-Team einen genialen Schachzug – ein Social-Media-weites Casting. Aus eingesendeten Bewerbungsvideos soll ein Fan ausgewählt werden, der eine Rolle im Film erhält. Wie entscheidend diese sein wird, wurde noch nicht bekannt gegeben, doch die Wirkung der Aktion ist immens. Die Aufmerksamkeit ist somit sehr groß – schon vor Beginn der Dreharbeiten. Dieser ist für Juli angesetzt. Bis zum Kinostart am 20. November diesen Jahres müssen sich die Fans noch etwas gedulden.
Suzanne Collins gelingt es erneut, ein gesellschaftlich relevantes und aktuell brisantes Werk zu veröffentlichen. Dieses berührt die Generation der originalen Fans, aber auch viele neue Leser:innen darüber hinaus. Eine Warnung, die Menschen wachrütteln will und wohl jeden zu bewegen vermag, der noch ein schlagendes Herz sein Eigen nennt. Wahrlich eine Geschichte die es schafft, die hohen Erwartungen noch zu übertreffen.
Text und Bild: Phoenix Herzog, Video: YouTube/Lionsgate