Letzte Woche war es mal wieder so weit. Das alljährliche Fest „Klaasohm“ fand in der Nacht zum 6. Dezember auf der niedersächsischen 5.000-Einwohner-Insel Borkum statt. Junge Männer, mit Hörnern und Fellmaske verkleidet, kämpften gegeneinander, bahnten sich den Weg durch Kneipen und Häuser der Insel und gingen hierbei einem fast 200 Jahre alten Brauch nach. Doch irgendetwas fehlte dieses Jahr. Ach ja, es wurden dieses Mal keine Frauen gejagt.
Für alle, die sich an diesem Punkt denken: Was zum Henker ist „Klaasohm“? Was treiben die Borkumer da und warum haben die im Jahr 2024 erstmals keine Frauen bei dem Brauch gejagt und verprügelt? Ich versuche, es euch zu erklären.
Eine Tradition unter Beschuss
Am 28. November 2024 schlug eine von STR_F und Panorama veröffentlichte Dokumentation in der breiten Öffentlichkeit Wellen, welche über den besagten Borkumer Brauch „Klaasohm“ berichtete. Im Kern der Dokumentation stehen anonyme Berichte von Frauen über massive Gewalterfahrungen, die ihnen durch die „Klaasohms“, besagte archaisch verkleidete Männer, widerfahren sind. Eine Frau erzählt hier beispielhaft von Hämatomen, die sie „vom Steißbein bis kurz über der Kniekehle“ erlitt, nachdem sie Opfer der Frauenjagd wurde.
Der 5. Dezember gilt als der „wichtigste Feiertag“ auf der Insel und wird vom Verein „Borkumer Jungen“ organisiert, der, wie er selbst sagt, stark bemüht ist „althergebrachtes Brauchtum zu bewahren und es der nächsten Generation nahezubringen.“ Der vornehme Ausdruck für: Wir pflegen unter dem Deckmantel der Tradition Bräuche, die nicht mehr zeitgemäß und lowkey misogyn sind. Darüber hinaus aber auch noch Körperverletzung darstellen. Upsi.
Deswegen dürfen auch nur Männer in den Verein eintreten. Ist ja logisch. Genau diese Männer wählen dann die sechs Klaasohms für das gleichnamige Fest sowie einen Wiefke, der eine Frau verkörpern soll. Die Auserwählten haben an „Klaasohm“ die Ehre, Pokémon-like gegeneinander zu kämpfen und anschließend auf Frauenjagd zu gehen. Nur werden Frauen hier nicht in Pokébälle gesteckt und trainiert. Stattdessen werden sie festgehalten, von den Klaasohms auf das Gesäß geschlagen und mit einem Stück Lebkuchen abgespeist, bevor sie allein mit Schmerzen in die dunkle Nacht entlassen werden.
Das Ende des „Schlagens“?
Das war zumindestens noch bis letztes Jahr so – fast 200 Jahre lang. Denn die eingangs erwähnte Doku brachte einiges ins Rollen auf der sehr traditionsbewussten Nordseeinsel. In einer nicht ganz so schlagfertigen Pressemitteilung des Vereins „Borkumer Jungen“, die einen Tag nach der Dokumentation veröffentlicht wurde, heißt es:
„Wir distanzieren uns ausdrücklich von jeder Form der Gewalt gegen Frauen und entschuldigen uns für die historisch gewachsenen Handlungen vergangener Jahre. Wir können nicht abstreiten, dass dies in der Vergangenheit ein Aspekt des Festes war. Der Verein wird den Brauch des ‚Schlagens‘ vollständig abschaffen. Wir als Gemeinschaft haben uns klar dazu entschieden, diesen Aspekt der Tradition hinter uns zu lassen und den Fokus weiter auf das zu legen, was das Fest wirklich ausmacht: den Zusammenhalt der Insulanerinnen und Insulaner.“
Ist natürlich blöd, wenn man organisierte rituelle Gewalt gegen Frauen erst als abschaffenswert betrachtet, nachdem sich Frauen aus Angst vor Vergeltung anonym hierzu melden und sich halb Deutschland fragt, ob wir noch im Mittelalter leben. Fakt ist dennoch, dass Männer nie aus purem Altruismus angefangen haben, Frauen besser zu behandeln. Solche Errungenschaften mussten bisher immer erkämpft werden – sei es das Frauenwahlrecht, das in Deutschland erst 1918 eingeführt wurde, oder, dass Vergewaltigung in der Ehe erst seit 1997 strafbar ist. Willkommen im Patriarchat oder so!
Das war ja schon immer so
Dennoch muss man nicht nur Mann sein, um patriarchale Strukturen weiter erhalten zu wollen. In der vergangenen Woche kam es zu einer spontanen Demonstration von Borkumerinnen, die sich für den Erhalt des Brauchs aussprachen. Kurz zur Einordnung: Frauen demonstrieren hier dafür, dass Frauen weiterhin geschlagen werden. Aber klar, wenn es der 70-jährigen Oma Sibylle früher scheinbar nicht geschadet hat, dann darf sich das natürlich nicht ändern. Das war ja schon immer so. Tradition und so.
Genau das ist der Punkt, wo es schwierig wird. Nicht alles, auf dem „Tradition“ draufsteht, ist auch Tradition drin. Und nur weil Dinge seit Ewigkeiten so gemacht werden, sind sie nicht unbedingt gut. Denn – ich weiß, kaum zu glauben – auch Bräuche verändern sich und passen sich an ihre Zeit an. Wäre dem nicht so, würden wir Kinder in der Schule wahrscheinlich immer noch mit Rohrstöcken züchtigen, vermeintliche Hexen verbrennen oder sternhagelvoll am Vatertag mit Bollerwagen um die Häuser ziehen. Ach ja, stimmt, das Letzte gibt es ja immer noch.
Back to topic: Insbesondere, wenn dabei Menschen – konkret Frauen, wie im Fall von „Klaasohm“ – verletzt werden, sollte man hierbei nicht von Tradition sprechen, sondern es ganz klar als misogyne Praktik benennen. Denn gut war das definitiv noch nie und zeitgemäß ist es heute bei Weitem auch nicht mehr. Schließlich sind auch Frauen Menschen.
„Klaasohm“ in 2024
Doch nach all dem Trubel – wie sah „Klaasohm“ denn dieses Jahr aus? Eine Veränderung: Viele Medienvertreter:innen waren dieses Jahr vor Ort. Zum Beispiel Reporter:innen von Spiegel oder ZEIT ONLINE. In einer Reportage, die über den Tag erschien, wurde sogar von Flugblättern berichtet, „die zu einem respektvollen Umgang mit Reportern aufrufen.“ Dies wäre vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen, nachdem Pressevertreter an „Klaasohm“ bereits mehrfach bei ihrer Arbeit angegriffen wurden, wie Aufnahmen von 1990 zeigten.
Eine weitere Veränderung: Es gab ein deutlich größeres Polizeiaufgebot als die Jahre zuvor. In einer Pressemitteilung schreibt die zuständige Polizeiinspektion Leer/Emden: „Niemand muss Angst vor gewalttätigen Übergriffen haben.“
Was bleibt?
Die Stimmung sei nach wie vor ausgelassen und feierlich gewesen. Auch die Klaasohms und der Wiefke ließen sich durch den traditionsreichen Sprung von der Litfaßsäule am „D“, einem zentralen Platz der Insel, in der Menge feiern. Auch das war schon immer so. Und zeigt damit auch einen Teil der Tradition, der niemandem schadet und meiner Ansicht nach auch vertretbar ist.
Wie ihr seht: Auch 2024 kam die Insel wieder zusammen, nur ohne dass Frauen hier mit dem Kuhhorn geschlagen wurden. Und damit fand auch das diesjährige „Klaasohm“ einen friedlichen Abschluss, ohne dass es an ein Deutsches „The Purge“ für Frauenschläger erinnerte.
Text: Ottilie Wied, Bild: Unsplash