Dissoziative Identitätsstörung

Ein Kriegsgebiet in meinem Kopf

von | 28. April 2023

Quendolin und Blue haben eine DIS. Wie ihr Leben aussieht, erzählen sie in einem schriftlichen Interview.

Triggerwarnung: In diesem Beitrag werden Gewalt und Traumata thematisiert. Wenn du Probleme mit dem Thema hast, lies ihn nicht oder nicht allein.

Amnestische Gedächtnislücken, Angststörungen, Zeitverlust und Krampfanfälle. All das und noch viel mehr gehört zu den Leben von Blue und Quendolin. Beide haben Gewalt erfahren und eine dissoziative Identitätsstörung entwickelt. Blue hat ihre Diagnose seit knapp zwei Jahren, Quendolin seit knapp fünf Jahren. Ihre Alltagsplanung ist schwieriger als für Nicht-Betroffene und oft kommt es dann doch zu Planänderungen.

dissoziative Identitätsstörung

Die sogenannte DIS tritt meist nach schweren traumatischen Erlebnissen auf. Als Überlebensmechanismus bilden sich mehrere Persönlichkeitsanteile. Diese wechseln sich miteinander ab und können unabhängig von Alter, Geschlecht oder Interessensgebieten sein. Es werden unterschiedliche neuronale Netzwerke aktiv, wodurch das Gehirn Reize plötzlich anders verarbeitet. Daher können sich auch physiologische Begebenheiten, wie Sehkraft, Blutdruck und der Puls schlagartig ändern.

medienMITTWEIDA: Wie würdet Ihr die DIS einem Kind beschreiben?

Quendolin: Die Menschen, die eine DIS haben, mussten richtig viele und schlimme Dinge erleben. Weil sie das nicht alleine ausgehalten haben, entstanden im Körper mehrere Menschen, die das dann zusammen ausgehalten haben. Nur zusammen konnten sie die schlimmen Dinge überleben.

Blue: Es ist so, dass sich einen Körper mehrere Personen teilen. Das ist wie bei einem Auto. Es wird immer abgewechselt, wer am Steuer sitzt und fährt.

Wie hat sich euer Alltag seit der Diagnose verändert?

Quendolin: Seitdem wir die Diagnose bekommen haben, hat sich unser Leben sehr stark zum Positiven verändert. Aber nicht die Diagnose an sich brachte die Veränderung, sondern dass sich die Therapiemethode änderte. Man muss aber dazu sagen, dass wir bereits jahrelang im psychiatrischen System unterwegs waren – nur mit einer Fehldiagnose. Seitdem wir die DIS-Diagnose haben, haben wir verschiedene ambulante Therapien, die alle mit der DIS arbeiten. Wir haben eine Lebensperspektive entwickelt. Wir leben unser Leben trotz der Beeinträchtigungen und haben die meiste Zeit ein gutes Leben.

Blue: Wir achten viel mehr auf die Bedürfnisse, Ängste etc. der Anderen und können dadurch einige Krisen verhindern. Auch viele Dinge, die vorher keinen Sinn ergeben haben, wie Erinnerungslücken oder Verhaltensweisen, die uns zurückgemeldet wurden, wurden logischer und es gibt einen Namen für die ganze Sache.

Die Diagnose dauert meist ziemlich lang. Wie lief das Ganze bei euch ab?

Quendolin: Wir waren bereits mehr als zehn Jahre im psychiatrischen System unterwegs, ambulant wie auch des Öfteren stationär. Ende 2017 kamen wir in eine Rehaklinik und dort fiel auf, dass etwas komisch ist – die damalige Diagnose passte gar nicht. Deswegen starteten sie eine komplett neue Diagnostik. In diesen fünf Wochen mussten wir alle 30 Minuten z.B. einen Wecker auf dem Handy stellen und abends dokumentieren, wie oft dieser Wecker überhaupt wahrgenommen wurde. Damals hatten wir noch keine konkrete und bewusste Innenkommunikation. Dadurch wurde herausgefunden, dass ich, die damals viel vorne war, gar kein Tagesverständnis hatte, wie es bei gesunden Menschen ist.

Wir hatten zweimal die Woche Einzelgespräche bei einer Therapeutin, die sich mit der DIS auskannte. Des Weiteren wurden wir vom Personal beobachtet, wie wir den ganzen Tag drauf sind und hatten Kurzgespräche, wo wir die Stunden vorher Revue passieren lassen sollten. Und so wurde dann am Ende des Aufenthaltes die Diagnose gestellt. Wir suchten uns dann eine ambulante Therapeutin, die sich mit DIS auskannte und begannen eine DIS-spezifische Traumatherapie. Heute, nach mehr als fünf Jahren mit der Diagnose, kann ich sagen: „Ja ich bzw. wir haben diese, sonst hätte sich unser Leben nicht so sehr ins Positive verändert.” Dies ist erst passiert mit guter Innenkommunikation und gleichberechtigtem Interagieren miteinander.

Blue: Ich war drei Monate in Behandlung bei der Therapeutin, die die Diagnose gestellt hat. Die hat mich dann genau beobachtet und viel gefragt. Viel nachgelesen. Sich mit anderen Krankheiten auseinandergesetzt und diese ausgeschlossen. Schlussendlich war es relativ eindeutig, dass eine dissoziative Identitätsstörung das Einzige ist, was passt und wirklich alle Symptome erklärt.

Gibt es Identitäten, die nicht von der DIS wissen? Und wenn ja, wie wird damit umgegangen?

Quendolin: Wir wissen nicht, ob wir alle Anteile kennen. Es kommt vor, dass bei einem schweren Trigger ein Anteil, der sehr lange innen geschlafen hat, erwacht und dann sehr desorientiert ist. Dies sind dann insbesondere Kindanteile, die weniger die DIS anzweifeln, sondern eher das Problem haben, dass sie lernen müssen, dass die schlimmen Traumatisierungen vorbei sind. Das sind Anteile, die vielleicht nur ein Leben kennen, das aus Traumatisierungen bestand. Wir haben im System Anteile, die sich vermehrt um diese Kindanteile kümmern. Wir zeigen dann die aktuellen Lebensumstände, die Wohnung, wo sie etwas zu essen finden, wer der Hund ist und dass die Wohnungstür zugeschlossen ist und niemand böses reinkommt. Dann schreiben wir in unser Kommunikationsbuch, dass sich ein sehr desorientierter Anteil gezeigt hat. Wir versuchen eine wohlwollende und warme Haltung ins System zu tragen.

Innenkommunikation besteht aus vier Wegen: Gesprochenes Wort (Gedanken), Emotionen, innere Bilder und Körperreaktionen. Dadurch, dass wir dies wissen, können wir versuchen, dem Anteil diese 4 Ebenen positiv und wohlwollend anzubieten. Der Anteil könnte sich langsam selbst orientieren, dass nun 2023 ist und dass die Traumatisierungen vorbei sind. Wir haben bei uns die Erfahrung gemacht, dass die Anteile selbst wahrnehmen müssen, dass die Umgebung anders ist. Dass sie selbstständig denken und Entscheidungen selbst treffen dürfen. Wir unterdrücken niemanden bei uns, das heißt, es darf jederzeit (Ausnahme: beim Autofahren) gewechselt werden. Seitdem wir das Unterdrücken weggelassen haben, wurde es so viel einfacher miteinander zu leben.

Blue: Wenn es Identitäten gibt, die davon nicht wissen, dann weiß ich davon auch nichts. Ich bin meist amnestisch zu den anderen und wenn ich doch co-existent bin, dann ist eigentlich allen klar, dass wir viele sind.

Was bedeutet amnestisch?

Bei einer dissoziativen Amnesie können sich die Betroffenen nicht an bedeutsame Informationen erinnern. Dies ist aber nicht gleichzusetzen mit dem normalen Vergessen. Bei der DIS passiert dies oft, wenn ein Wechsel zwischen den Persönlichkeitsanteilen stattfindet. So findet sich plötzlich ein anderer Persönlichkeitsanteil in einer ungewohnten Situation wieder und kann sich nicht erinnern, warum er gerade dort ist und was der andere Anteil gerade erledigt hat.

Was bedeutete co-existent?

Bei einer dissoziativen Identitätsstörung kann es dazu kommen, dass die Persönlichkeitsanteile, die gerade nicht aktiv im Vordergrund sind, trotzdem im Bewusstsein bei den Situationen dabei sind. Diese beobachten und erleben die Situationen mit, aber handeln dabei nicht.

In welcher Situation kommt welcher Anteil in den Vordergrund?

Quendolin: Da wir miteinander gleichberechtigt umgehen, haben wir nicht den und den Anteil für Situation X und Y. Wir arbeiten mit einem Outlook-Kalender und verschiedenen Farben. Absprache bei uns ist, wenn sich jemand einen Termin einträgt, wird versucht, diesen nicht zu stören. Dabei sein im Co-Bewusstsein, ohne zu stören, ist gerne gesehen.

Da viele im System ihre Namen nicht öffentlich sehen wollen, hier nur ein kleiner Auszug von denen, die keine Probleme damit haben: Alex kümmert sich bei uns um die Mobilität, also Auto fahren. Er geht einkaufen, zockt hier und da gerne Computerspiele, beschäftigt sich mit Videoschnitt und hat gerne mal einen lockeren Spruch auf den Lippen.

Petra Elisa, dass bin ich, die den Text schreibt, kümmere mich viel um die Innenkommunikation, das heißt ich versuche regelmäßige Teamsitzungen einzuberufen, schaue ins System, wenn es eine Krise gibt oder sich anbahnt und stehe mit der Therapeutin im engen Kontakt darüber, wie ich etwas angehen kann. Im Alltag mache ich selbst weniger im Körper. Das heißt, ich bin eher viel im Co-Bewusstsein mit dabei.

Karl kümmert sich insbesondere um alles, was mit unserem Hund zu tun hat, und hat Innen wichtige Aufgaben. Mara kümmert sich gemeinsam mit Mario um alles Bürokratische. Die beiden stellen alle wichtigen Anträge und behalten die Deadlines im Auge. Mara macht auch die Teilhabeberatungen. Sie schreibt aktuell an einem Buch „Helfernetzwerke Effektiv aufbauen“. Und Mario kümmert sich eher um unsere Finanzen und fristgerechtes Handeln für die Behörden.

Blue: Das ist ganz unterschiedlich. Jeder Anteil hat individuelle Trigger und Aufgaben. Manchmal ist das auch total random, wer wann wie vorne ist, manchmal teilen sich auch mehrere das Vorne gleichzeitig. Um mal ein Beispiel zu nennen, habe ich einen sehr erwachsenen Persönlichkeitsanteil, die sich um Bewerbungsgespräche etc. kümmert und IMMER in diesen Situationen vorne ist.

Mit welchen Vorurteilen werdet Ihr konfrontiert?

Quendolin: Hier die häufigsten Vorurteile, die uns unterkommen: „Wer ist denn die echte Person?“, „Wer ist die Hauptperson?“, „Sowas wie mehrere Personen im Körper gibt es nicht, du bildest dir das nur ein!“, „Also hast du Schizophrenie!?“ Wir erklären dann dem Gegenüber anhand der aktuellen Studienlage zu dissoziativen Erkrankungen, dass seine Frage/Aussage keinen Sinn macht. Ja, da kommt gerne unser innerer Monk raus.

Blue: Oft verstehen die Leute nicht, was der Unterschied zwischen normalen Anteilen ist, die jeder Mensch hat, und zu einer DIS. Auch sowas, dass die Leute es gruselig finden oder mich komisch finden, weil ich mich manchmal benehme wie ein Kind – mich auslachen, weil ich mit 22 immer noch mit Kuscheltieren rumlaufe.

Wie sollte man die DIS nicht darstellen?

Quendolin: Die DIS sollte man nicht als etwas Gefährliches darstellen oder Verrücktes. Es ist schlicht ein Überlebensmechanismus. Oder dass die DIS sich immer gleich äußert. Durch unsere Arbeit als Peer-Beraterin sind wir bestimmt schon mit über 50 anderen DIS-Systemen in Kontakt gekommen. Und jedes war für sich anders, aber genau richtig und für sich passend.

Blue: Wir sind nicht gefährlich und kaum ein System hat fremd-aggressive Anteile. Aber es ist auch nichts Lustiges oder was, das spaßig ist, von wegen dann hast du ja immer Freunde bei dir.” Nein! Meist ist in unserem Kopf ein einziges Kriegsgebiet und wir versuchen, irgendwie miteinander auszukommen.

Text: Karolin Nemitz; Titelbild: Nicolas Lieback

<h3>Karolin Nemitz</h3>

Karolin Nemitz

ist 20 Jahre alt und studiert derzeit im 5.ten Semester Medienmanagement an der Hochschule Mittweida. Bei medienMITTWEIDA engagiert sie sich als Leitung des Lektorats seit dem Wintersemester 2022.