Eine ganze Generation scrollt, postet, liked und kommentiert. Sie kann jederzeit mit der ganzen Welt sprechen und gerät dennoch ab und an in Momente stiller Einsamkeit. Während Social Media und KI-Chatbots Nähe versprechen, diagnostiziert die Youtuberin Mina Le unserer Jugend die „Epidemie der Einsamkeit“. Wie konnte es so weit kommen?
Der Bass wummert, die Nacht ist noch jung. Es wird getanzt, getrunken und gesungen. Körper bewegen sich im Rhythmus der Musik und bunte Neonlichter werfen schwarze Schatten auf die Tanzfläche. Es scheint, als würden alle Partygäste heute wissen, wohin und zu wem sie gehören. Einer hat dieses Gefühl nicht: Niclas. Der 23-Jährige erreicht in den Sozialen Medien mehrere hunderttausend Menschen und fühlt sich auf solchen Partys trotzdem einsamer denn je.
Mit diesem Gefühl ist er nicht allein, weil Einsamkeit längst kein gesellschaftliches Randphänomen mehr ist. Ganz im Gegenteil: Sie ist integraler Bestandteil der Gefühlswelten vieler Menschen aller Generationen geworden. Doch wie unter anderem die Erhebungen des TK-Einsamkeitsreports zeigen, leiden vor allem junge Menschen unter Einsamkeit. Der Generation, die als am vernetztesten gilt, fehlt häufig das soziale Auffangnetz.
Auch die Bertelsmann-Studie „Jung, einsam – und engagiert?“ widmet sich dem Einsamkeitsempfinden junger Menschen. Von 2.997 befragten Erwachsenen zwischen 16 und 30 Jahren fühlen sich 35 Prozent moderat einsam und zehn Prozent stark einsam. Vor allem junge Frauen, junge Erwachsene ohne Job oder mit niedrigem Bildungsstand und jene mit Migrationsgeschichte sind laut der Bertelsmann-Studie von Einsamkeit betroffen.
Psychologie und Perspektiven: Was Einsamkeit mit uns macht
Auch Niclas ist von Mina Les prognostizierter „Epidemie der Einsamkeit“ betroffen. Der 23-Jährige begann vor zwei Jahren unter dem Namen stronggermanbear verschiedene Videos auf TikTok, Instagram und YouTube zu veröffentlichen. Darin dreht sich alles um verschiedene Kampfsportarten und Fitness. Heute hat der Student auf TikTok über 300 Tausend Follower und auf Instagram knapp 100 Tausend. Was für ihn als Onlinetagebuch begann, ist zu einer steilen Karriere in der Kampfsportszene Social Medias geworden. Dort hat er sich eine eigene Community aufgebaut, neue Bekanntschaften geschlossen und Online-Freunde kennengelernt. Im Internet hätte Niclas schon längst seinen Platz gefunden, doch offline suche er stellenweise noch immer nach Zugehörigkeit: „Das Bedürfnis von Anklang hat sich zeitweise wie ein Ziehen […] in der Brust angefühlt. Als wäre es eine Leere, die gefüllt werden will“, erzählt er. Besonders wenn Niclas auf Partys gehe, fühle er sich einsam – „Da wird mir immer […] bewusst, wie andere junge Menschen alle ihre Grüppchen haben und ich zum Teil allein bin und nicht so richtig Anklang finden kann.“
Für das von Niclas als „Ziehen […] in der Brust“ beschriebene Gefühl, kann das Kompetenznetz Einsamkeit eine Definition formulieren. Dort wird Einsamkeit als ein „subjektives Gefühl, bei dem die eigenen sozialen Beziehungen nicht den persönlichen Wünschen und Bedürfnissen entsprechen“ beschrieben. Damit einhergehend ist Einsamkeit also die Diskrepanz zwischen den gewünschten und den tatsächlichen sozialen Beziehungen, so Prof. Dr. Maike Luhmann, eine der führenden deutschen Einsamkeitsforscher*innen.
Die Vielfalt der Einsamkeit
Formen von Einsamkeit in Bezug auf Beziehungsformen nach Luhmann:
Emotionale/intime Einsamkeit
Beschreibt das Gefühl, keine enge, vertrauensvolle und/oder intime Beziehung zu einem Menschen zu haben, der einen unterstützt und als Person bestätigen kann. Diese Form der Einsamkeit kann noch in romantische und familienbezogene Einsamkeit unterteilt werden.
Soziale/relationale Einsamkeit
Beschreibt das Gefühl, keine guten familiären Beziehungen oder Freundschaften zu führen oder kein größeres soziales Netzwerk zu haben, auf das man zurückgreifen kann.
Kollektive Einsamkeit
Beschreibt das Gefühl, keiner größeren Gruppe oder Gemeinschaft anzugehören.
Kulturelle Einsamkeit
Beschreibt das Fehlen eines vertrauten kulturellen oder sprachlichen Umfelds.
Physische Einsamkeit
Beschreibt eine fehlende körperliche Nähe und unmittelbare körperliche Präsenz.
Einsamkeit kann eine Kette an Erkrankungen anstoßen, psychische wie physische. Laut Prof. Dr. med. Eva Peters, Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Universität Gießen, wirke sie als Dauerstress auf den Körper, der Bluthochdruck, ein geschwächtes Immunsystem oder ein „verkümmertes“ Gehirn fördern könne. Dies wiederum könne Erkrankungen wie Alzheimer oder Demenz begünstigen, so die Expertin gegenüber der Apothekenschau. Laut Einsamkeitsforscherin Prof. Dr. Maike Luhmann sei es genauso möglich, dass koronare Herzerkrankungen, Schlaganfälle, Herzinfakte und Depressionen die Folge von Einsamkeit seien. Auch Niclas’ Einsamkeitserfahrungen sind nicht ohne Konsequenzen geblieben. Er sei über die Jahre zurückhaltender geworden und brauche häufiger Abstand zu Menschenansammlungen, da diese ihn schnell überfordern können, erzählt er.
Trotz ihrer vielfältigen Folgen ist Einsamkeit ein subjektives Erleben und beruht auf der eigenen, ganz individuellen Wahrnehmung. Anders ist es bei dem Alleinsein. Dies wird nicht als Gefühl definiert, sondern als ein objektiv sichtbarer Zustand – es bedeutet also, dass im Moment keine andere Person physisch in der Nähe ist. Daher können Einsamkeit und Alleinsein zusammen auftreten, müssen es aber nicht.
Aufbruch und Anspruch: Warum junge Menschen unter Einsamkeit leiden
Die Ursachen für Einsamkeit sind vielfältig und entspringen doch zu großen Teilen den Lebensrealitäten junger Menschen. Das Leben dieser ist häufig eine Zeit der Übergänge und Neuanfänge, geprägt von Auszügen und Umzügen, Studien- oder Ausbildungsbeginnen, dem ersten Job oder der ersten Beziehung. Diese Zeit des noch jungen Lebens fordert also einen ständigen Neuaufbau des eigenen sozialen Netzwerks und damit auch eine stetige Suche nach neuen sozialen Kontakten.
Davon kann auch Steve Sokol berichten. Er ist staatlich anerkannter Sozialpädagoge, Dozent und Mitarbeiter in der Sozialkontaktstelle der Hochschule Mittweida. Laut seiner Einschätzung könne der Übergang von Schule zu Studium und vom Elternhaus in die eigene Wohnung viele Herausforderungen mit sich bringen, denen Studierende ausgesetzt seien. „Manche sind da sofort drin, bei anderen glaube ich, [ist es] ein bisschen schwieriger oder braucht einfach ein bisschen Zeit“, meint Steve Sokol im Interview mit medienMITTWEIDA. Des weiteren gilt es zu erwähnen, dass auch große Erwartungen an eigene potentielle Beziehungen und (romantische) Bindungen das Gefühl auslösen können, einsam und ohne eine Zugehörigkeit zu sein.
Die Psychologie hinter neuen Freundschaften und was beim Aufbau neuer Beziehungen helfen kann, Podcastfolge „Einsamkeit: Wie finde ich neue Freund:innen?“ von Wissen Weekly, Quelle: Spotify
Likes und Leere: die Rolle von Social Media und KI-Chatbots
Besonders in der Vergangenheit definierte sich Niclas über die Videos, die noch nicht so zahlreich geklickt wurden und die Likes, die noch keine vorzeigbare Währung waren – nicht ohne Folgen. Das alles hätte dafür gesorgt, dass er „Dinge im echten Leben vernachlässigt“ habe und dann meist nur das tat, was ihn online weitergebracht hätte.
Auch auf der Seite der Konsumenten kann Social Media zu einem Faktor werden, der Einsamkeit begünstigt. Laut Prof. Dr. Michael Noack, Professor für Methoden der Sozialen Arbeit an der Hochschule Niederrhein, könne das Vergleichen von fremden Lebensinhalten anderer Menschen auf Social Media einsamkeitsausübend sein. Der eigene Vergleich mit fremden Urlauben oder den beruflichen Erfolgen anderer könne das Gefühl vermitteln, dass jene Menschen „bessere, funktionierendere und qualitativ hochwertigere Kontakte“ hätten, als man selbst. Dieser „dauernde Vergleich mit idealisierten Online-Identitäten“ könne so dazu führen, das eigene Leben als unzureichend zu empfinden, meint Prof. Dr. Noack im Interview mit medienMITTWEIDA. Zusammenfassend lässt sich also sagen: Der Vergleich von dem, was man gerne hätte und dem, was man wirklich hat, kann dafür sorgen, sich einsam zu fühlen.
Im Kontrast dazu würden Studienergebnisse allerdings auch zeigen, dass Soziale Medien nicht per se einsam machen, erklärt Prof. Dr. Noack. Wenn man jene Medien dazu nutzen würde, sich beispielsweise auf kreativen Plattformen zu „verbinden, Nähe zu ermöglichen oder auch neue Bekanntschaften zu stiften“, dann könnten Soziale Medien auch die Möglichkeit bieten, neue Beziehungen zu knüpfen, meint der Experte.
Einsamkeit als Stressfaktor: Terra Xplore zeigt, wie Einsamkeit den Körper und die Psyche beeinflusst, Quelle: YouTube/TerraXplore
Doch nicht nur die Sozialen Medien bestimmen die digitalen Realitäten, denen junge Menschen von heute ausgesetzt sind. Auch der Vormarsch von Künstlicher Intelligenz und die damit verbundene Möglichkeit, sich mit sogenannten KI-Chatbots auszutauschen, verändert das Einsamkeitsbewusstsein junger Erwachsener.
Laut Prof. Dr. Noack seien KI-Chatbots kurzzeitig in der Lage das Gefühl von Verbindung zu erzeugen. Ursache sei, dass diese darauf programmiert wären, so mit den Menschen zu kommunizieren, dass jene sich verstanden und empathisch wahrgenommen fühlen würden. Dies führe jedoch auch zu einer gewissen Gefahr, so Prof. Dr. Noack. „Chatbots erfinden auch Fakten, um uns Antworten zu liefern, die uns gefallen – dann liefern sie uns das, was wir hören wollen“, erklärt der Experte. Diese sogenannten Halluzinationen würden dabei keine echte und konstruktive Persönlichkeitsentwicklung ermöglichen. „Denn wenn wir nur in unserer Selbstsicht gestärkt werden, ohne dass wir […] auch herausgefordert werden, andere Sichtweisen anzunehmen, um uns im Gespräch mit den echten Menschen weiterzuentwickeln, dann nimmt uns das natürlich auch die Möglichkeit für persönliches Wachstum“, meint Prof. Dr. Noack. Auf diese Weise kann es passieren, dass man nach dem scheinbar vertrauten Austausch mit einem KI-Chatbot wieder dort landet, wo alles angefangen hat – bei der altbekannten, hartnäckigen Einsamkeit.
Reden, reagieren und rausgehen: Wege aus der Einsamkeit
Generell lässt sich sagen, dass es keine einfache und universelle Lösung zur Linderung von Einsamkeit als subjektives Leiden gibt – „denn Einsamkeit ist so vielfältig, wie die Menschen, die sie verspüren, die Ursachen, die sie ausmachen und die individuellen Biografien, die sie formen“, so das Kompetenznetz Einsamkeit auf der eigenen Webseite.
Dennoch versucht die Politik übergeordnete Lösungen zu finden. Im Jahr 2023 verabschiedete das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend die Strategie der Bundesregierung gegen Einsamkeit. Inhalte dieser sind vor allem Aufklärungsarbeit, Sensibilisierungsarbeit und Kampagnen zur Entstigmatisierung von Einsamkeit. Ebenso sollen Menschen mit Einsamkeitserfahrung die Zugänge zu niedrigschwelligen Hilfsangeboten geebnet werden.
Kleine Schritte, große Wirkung: Strategien gegen die Einsamkeit, Quelle: TikTok/funk
Während die politischen Lösungen das Problem der Einsamkeit eher strukturell angehen, brauchen die Betroffenen alltagsnahe und konkret anwendbare Strategien. Ein erster Schritt kann sein, anzuerkennen, dass man sich gerade einsam fühlt und damit das Gefühl bei dem Namen nennt. „Bereits die Einstellung und Überzeugung, aus eigener Kraft etwas unternehmen zu können, ist ein fruchtbarer Nährboden für mehr soziale Kontakte“, meint Katrin Steffens von der Krankenkasse BARMER.
Das bestätigt auch Prof. Dr. Michael Noack. Es sei wichtig, Einsamkeit als normalen Aspekt des menschlichen Daseins zu verstehen, der „nichts damit zu tun hat, dass man einen schlechten Charakter hat [oder] irgendwie äußerliche Merkmale hat, die dazu führen“, erklärt der Experte. Er empfiehlt, sich Interessen oder Hobby zu widmen, bei denen man auf Gleichgesinnte trifft, sodass ein „Resonanzraum für gemeinsame Interessen“ entstehen kann. Prof. Dr. Noack empfiehlt hier das, was Niclas inzwischen im Kampfsport und Fitness gefunden hat – auch wenn es die Einsamkeit noch nicht in Gänze lindert. „Für mich hilft Sport in der Gemeinschaft mit Gleichgesinnten, um mich dazugehörig zu fühlen. Ob im Kampfsport, im Fitnessstudio oder auf der Yogamatte in der Gemeinde“, erzählt Niclas.
Schritt für Schritt aus der Einsamkeit: Spazierengehen um sich weniger einsam zu fühlen, Quelle: YouTube/Bayrischer Rundfunk
Wie der Beitrag des Bayrischen Rundfunks zeigt, kann auch ein gemeinsames Spazierengehen aus der Einsamkeit führen. Durch einen Instagram-Aufruf mobilisiert, trafen sich Anfang 2025 zahlreiche Menschen zu einem gemeinsamen Spaziergang an der Isar. Das Ziel war es, durch die kollektive Aktivität die Einsamkeit zu vertreiben und möglicherweise neue Bekanntschaften zu schließen. Auch Diplom Psychologin Johanna Trittien vom Magazin hallo morgen hat einen Rat an alle, die mit Einsamkeit kämpfen: Offenheit leben und mit einer Vertrauensperson über die eigenen Gefühle reden. So könne man erkennen, dass man mit dem Gefühl unter Umständen nicht allein sei.
Ausgewählte Hilfs- und Beratungsangebote bei Einsamkeit in Deutschland
- TelefonSeelsorge Deutschland e.V. kostenlose Telefon-, Chat- und Mailberatung für Menschen in Krisen
- krisenchat.de 24/7 Chatberatung per Smartphone für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene
- REDEZEIT FÜR DICH kostenlose Telefonberatung für Menschen in Belastungssituationen
- [U25]-deutschland.de Online-Beratung für junge Menschen unter 25 Jahren mit Suizidgedanken
- JugendNotmail.de anonyme Mail- und Chatberatung für Kinder und Jugendliche bei psychischen Belastungen, Konflikten und Notlagen
- nightline-stiftung.de nächtlicher Telefonservice an vielen Hochschulstandorten; Studierende beraten Studierende
- Internetseelsorge.de Online-Seelsorge der Katholische Kirche; anonyme Mail- und Chatgespräche zu Krisen, Glauben und Alltag
- Chatseelsorge.de Live-Chats mit Seelsorger*innen der Evangelischen Kirche für Menschen in seelischen Belastungssituationen
Zwischen digitaler Nähe und realer Distanz: ein Fazit
Niclas wirkt gefasst und ruhig, wenn er berichtet, wie für ihn Nähe im Netz funktioniert und woran sie scheitern kann. Er spricht von digitalen Kontakten als ein Pflaster für die, die ihm in der Realität fehlen, davon, dass echte Treffen mehr Ausnahme als Regel sind und von dem Traum, die digitalen Gesichter einmal live und in Farbe zu treffen. Vielleicht wird die Umsetzung dieses Traums der nächste Schritt aus der Einsamkeit heraus und aus neuen Begegnungen werden jene, die Niclas das Gefühl nehmen können, auf den Partys nirgendwo dazuzugehören. Vielleicht können sie ihm irgendwann das Ziehen in der Brust nehmen.
Es zeigt sich: Einsamkeit bei jungen Menschen ist kein Randphänomen und kein Einzelfall. Es ist ein Gefühl, das viele teilen, wenn auch häufig eher im Stillen. Sie ist in vielen Fällen ein Status quo, muss aber kein Schicksal sein. Doch während sich bei einigen Betroffenen die Angst breit macht, selbst nicht aus der Einsamkeit ausbrechen zu können, zeigt sich die Forschung optimistisch. Es gibt Wege aus der Einsamkeit und die Veränderung kann schon damit beginnen, dass man über die eigenen Einsamkeitserfahrungen spricht. Dann wird eines besonders deutlich: Man ist damit gar nicht so allein, wie man vielleicht glaubt.
Text, Grafik: Ellis Kupfer, Titelbild: terski, Videos: YouTube/TerraXplore, TikTok/funk, YouTube/Bayrischer Rundfunk, Audio: Spotify/Wissen Weekly
