Schmeißt das Popcorn in die Mikrowelle und wärmt die Käsesoße auf. Es ist wieder Nacho-Time, die letzte Ausgabe vor der großen Sommerpause. Dieses Mal mit dabei sind „365 Days“, „The Last Days of American Crime” und, anlässlich des diesjährigen Pride Months im Juni, der Hidden Gem des Monats: „Girl“.
50 Shades worse
„50 Shades of Grey“ wurde 2015 nicht nur zum internationalen Bestseller, sondern erzielte auch mit Einnahmen von rund 170 Millionen US-Dollar einen Platz in den Top 20 der besten Einspielergebnisse des Jahres. Seitdem gab es bereits mehrere Versuche, den Erfolg des Erotik-Dramas nachzuahmen. Nun scheint es fast so, als würde dies ausgerechnet ein polnischer Film auf Netflix schaffen. „365 Days“ landete direkt nach seiner Veröffentlichung auf dem Streaming-Portal auf Platz eins der deutschen Netflix-Charts.
Die Prämisse des Films ist dabei so simpel wie unoriginell: Ein italienischer Mafiaboss entführt eine junge Polin und gibt ihr 365 Tage, sich in ihn zu verlieben. Mehr ist von der Story nicht wirklich erwähnenswert, so viel sei gesagt. Jeder Handlungsstrang, der außerhalb dieses Konzepts aufgegriffen wird, wird innerhalb von wenigen Szenen nichtig gemacht und jede aufgegriffene Frage unbeantwortet gelassen. Auch werden keine weiteren wichtigen Figuren etabliert, die eine Nebenhandlung tragen oder eine antagonistische Rolle einnehmen könnten. Damit bleibt der Konflikt-Fokus immer auf der Entführung, die aber schnell nicht mehr als solche wahrgenommen werden kann.
Das Hauptproblem liegt dabei in der Dynamik zwischen unseren Protagonisten Laura (Anna Maria Sieklucka) und Massimo (Michele Morrone). Ihre Verbindung ist vollkommen beliebig und an den Haaren herbeigezogen. Der Grund dafür, dass Massimo Laura entführt liegt allein in seiner Behauptung, sie sei ihm während einer Nahtoderfahrung erschienen, nachdem sein Vater erschossen und er von derselben Kugel getroffen wurde. Danach habe er lange nach ihr gesucht und sie dann endlich am Flughafen gefunden. Dieser Handlungsstrang wird nicht etabliert, bevor er Laura von ihm erzählt. So wird mal wieder eine der wichtigsten Regeln des Storytellings verletzt: „Show, don’t tell“. Im Laufe des Films wird auch noch alles ignoriert, was Massimo Laura nach der Entführung versprochen hat und zu keinem Zeitpunkt macht sie ihn darauf aufmerksam. Stattdessen provoziert sie ihn unentwegt und verfällt schnell in ein toxisches Beziehungsmuster. Sie behauptet zwar, nicht Massimos Eigentum sein zu wollen, lässt sich von ihm daraufhin aber genau als solches behandeln. Am Ende belohnt sie ihn sogar für dieses Verhalten, indem sie sich tatsächlich in ihn verliebt, was in keinem Moment problematisiert wird.
Auch handwerklich gibt der Film nicht viel her. Der Soundtrack ist plakativ und dem Großteil der Szenen der Stimmung unangepasst. Die Schnitte überspringen Handlungsabläufe und sind so hart gesetzt, dass der Fluss der Geschichte immer wieder aufs Neue durchbrochen wird. Sogar auf einheitliche Farbgebung sowie Helligkeitsstufen wird verzichtet, wodurch der Film einiges an künstlerischer Qualität verliert.
Letzten Endes verkörpert „365 Days“ nicht mehr, als eine schlechter verfilmte Version seiner Erotik-Vorgänger. Wer diesen Film für explizite Sexszenen und nackte Haut ansieht, wird hier wohl noch auf seine Kosten kommen. Mit einer fesselnden Handlung darf man dabei jedoch nur im wörtlichen Sinne rechnen.
Nicht noch ein Actionfilm
Es passiert selten, dass es ein Film schafft, eine null Prozent Bewertung auf Rotten Tomatoes zu erhalten. Diesen Monat schafften es gleich zwei Filme und drei Mal dürft ihr raten, welche beiden es waren. Richtig: „365 Days“ und „The Last Days of American Crime“. Ich denke, ich habe schon zur Genüge erläutert, warum ich im Bezug zu ersterem Film dieser Bewertung zustimmen kann, doch auf das Netflix Original „The Last Days of American Crime“ müssen wir noch einmal einen genaueren Blick werfen.
Rotten Tomatoes
Rotten Tomatoes ist eine Online Plattform, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Reviews zu allen aktuellen Filmen zu liefern. Entwickelt wurde die Website 1998 von dem damals 26-Jährigen Senh Duong.
Die Bewertung der jeweiligen Filme erfolgt dabei durch das „Tomatometer“, das angibt wie „verfault“ (bis null Prozent) oder „frisch“ (bis 100 Prozent) ein Film ist. Dieses setzt sich aus Bewertungen von Tomatometer-genehmigten Kritikern zusammen. Die Idee des Namens liegt in der frühen Tradition, verfaulte Tomaten oder anderes Gemüse auf die Bühne zu schmeißen, wenn einem ein Theaterstück nicht gefiel.
Dieser Sci-Fi-Action-Thriller versucht verzweifelt, ein sozialkritisches Pendant zu einem gewöhnlichem Heist-Movie zu sein. Der Film spielt in einer dystopischen Zukunft der USA, in der ein Großteil der Bevölkerung verarmt ist. Im Zuge der steigenden Kriminalität geht die Polizei brutaler gegen die Verbrechen vor. Ein recht aktueller Blick also, der nicht unrealistisch scheint. Die Hintergrundgeschichte wird hier jedoch nicht näher erläutert. In all dem Chaos wird eine neue Waffe angekündigt, ein Signal, das jeden Kriminellen augenblicklich außer Gefecht setzen soll. Um dem zu entgehen, beschließt der Bankräuber Graham Bricke (Edgar Ramírez), einen letzten großen Coup mit ein paar weiteren Gangstern durchzuziehen, bevor er sich nach Kanada absetzen will.
Was zunächst nach einer simplen Storyline klingt, entartet schnell in ein unübersichtliches Geflecht aus verschiedensten Konflikten und Charakteren, die alle ihre eigenen Ziele verfolgen. Nebencharaktere werden etabliert und dann erst wieder aufgegriffen, wenn sie für die Protagonisten handlungsrelevant werden. Einer von diesen ist der Polizist William Sawyer (Sharlto Copley). Dieser scheint zunächst, einen Blick auf die andere Seite des Geschehens zu ermöglichen, vielleicht sogar eine moralische Instanz zu verkörpern. Dann bleibt er aber doch genauso zweidimensional und unsympathisch wie alle anderen Figuren auch.
Der Plan unserer Protagonisten wird erst während der Durchführung ersichtlich und schafft es dadurch genauso wenig, die Zuschauer zu fesseln, wie die Dialoge. Diese werden stets mit einem dominanten Soundtrack übertüncht, sodass man bloß nicht mitbekommt, wie schlecht sie geschrieben sind. Ironischerweise stellt sich der Soundtrack dabei als das gelungenste Element des Films heraus. Wenn es die Handlung nicht schafft, baut sich zumindest so Spannung auf und unterstreicht das düstere Setting, das sich mit seinen Effekten ebenfalls gut sehen lassen kann. Auch die Actionszenen sind zwar nicht clever, doch sie können durchaus mit einem durchschnittlichen Genre-Film mithalten.
Ich denke nicht, dass ein null Prozent Rating gerechtfertigt ist, das macht diesen Film aber noch lange nicht sehenswert. Die Idee eines Signals, das alle Kriminellen auf der Stelle zu lähmen vermag, klingt als Prämisse zwar grundsätzlich spannend, scheitert hier jedoch an der Umsetzung. Und durch die Laufzeit von zweieinhalb Stunden, eignet sich „The Last Days of American Crime“ nicht einmal als flache Action für nebenbei.
Hidden Gem: Ein neues Erwachen
Noch in 72 Ländern der Welt gelten antihomosexuelle Gesetze. In 13 Ländern droht für Homosexualität sogar die Todesstrafe. Umso wichtiger ist es, dass sich nicht nur gesellschaftlich, sondern auch medial mit der Thematik auseinandergesetzt wird. Dadurch kann eine Normalisierung sowie Verständnis gefördert werden. „Girl“ tut genau das. Der Film ist eine Coming of Age Geschichte, die sich nicht nur mit der Entwicklung eines transsexuellen Mädchens beschäftigt, sondern auch Themen wie Liebe, Familie und sexuelles Erwachen aufgreift. Dabei steht das Mädchen Laura (Victor Polster) im Mittelpunkt, deren Traum es ist, Ballerina zu werden. Gleichzeitig hat sie jedoch mit ihrer körperlichen Geschlechtsangleichung zu kämpfen.
Man kommt der Protagonistin auf dieser Reise unfassbar nah, was vor allem durch die subjektive Kameraführung unterstützt wird. Dabei wird in den meisten Szenen auf Musik oder sonstige Störgeräusche verzichtet. Allgemein setzt der Film auf eine sehr minimalistische Darstellung, ohne große Bilder, aber mit vielen Nahaufnahmen. Dadurch werden die Gefühle der Charaktere noch stärker fokussiert und die meisterhafte Schauspielleistung hervorgehoben. Der Film wirkt roh und fordert den Zuschauer auf, konzentriert zu bleiben, sodass kein Detail verpasst wird. Das Tempo nimmt mit der Zeit immer weiter an Fahrt auf, was primär durch Tanzszenen untermalt wird.
Obwohl man Laura begleitet und auch ihre Emotionen miterlebt, bleibt sie oftmals undurchschaubar. Die wenigsten Menschen werden sich mit ihren Problemen identifizieren können. Doch das mindert nicht den Ärger, den man verspürt, wenn ihr Unrecht widerfährt. Man empfindet Mitleid mit ihr und findet sich dadurch oft mehr in der Rolle des Vaters (Arieh Worthalter) wieder, der ihr zwar helfen möchte, aber nicht weiß wie. Der Vater schafft es auch, die schweigsame Laura dazu zu bringen, sich zu öffnen und über ihre innere Gedanken- und Gefühlswelt zu reden. Es berührt, wie liebevoll er mit seiner Tochter umgeht und alles dafür tut, sie glücklicher zu machen und für sie da zu sein. Er verkörpert genau die Haltung gegenüber ihrer Entwicklung und Bedürfnisse, die sich bestimmt viele andere Transsexuelle Menschen von ihren Eltern wünschen würden.
„Girl“ rührt zu Tränen. Der Film lässt noch lange nach dem Schauen nicht los und bleibt offen genug, dass jeder seinen eigenen Schluss ziehen kann. Er spiegelt eine Realität wieder, die selten auf der großen Leinwand gezeigt wird. Aber in einer Zeit, in der es auch Filme wie „The Danish Girl“ nach Hollywood und in die Oscar-Nominierungen schaffen, bleibt zu hoffen, dass dies nur der Anfang neuer Geschichten und der Repräsentation von Transsexuellen in Film und Serien ist.
Filmweisheit der Woche
„Es gibt Frauen auf der Welt, die die Luft in einem Raum verändern, wenn sie ihn betreten. Es gibt Frauen auf der Welt für die man töten würde und ein paar wenige, für die man sterben würde.“
(„The Last Days of American Crime“)
Text: Clara S. Eckhardt, Titelbild: Marcos Cruz/NETFLIX © 2020, Videos: YouTube/Kino Helios Polska, YouTube/Netflix Deutschland, Österreich und Schweiz, YouTube/Kinocheck Indie