Family Ghosting

Wenn Kinder ihre Eltern auf stumm stellen

von | 4. Juli 2025

Schluss mit der Familie – was treibt junge Erwachsene zum Kontaktabbruch mit den Eltern?

Der Kontaktabbruch zur eigenen Familie gilt in Deutschland oft als Tabu. Doch für viele junge Erwachsene ist Funkstille eine bewusste Entscheidung – aus Selbstschutz. Was steckt hinter dem Phänomen „Family Ghosting“?

Anna (24) sitzt in ihrer kleinen Wohnung in Chemnitz, das Handy liegt stumm vor ihr. Es leuchtet kurz auf, eine Nachricht von ihrer Mutter, Anna löscht sie. Das ist ihre Entscheidung.

Zwischen Mails, Vorlesungen und Abendessen mit Freund:innen bleibt eins konstant: Die Funkstille. Anna hat den Kontakt zu ihrer Mutter abgebrochen – nicht aus Trotz, sondern aus Selbstschutz. „Ich habe gemerkt, dass ich immer für ihre Gefühle verantwortlich gemacht wurde. Irgendwann konnte ich nicht mehr.“ Der Rückzug sei keine leichte Entscheidung gewesen, aber für sie die einzige Möglichkeit, wieder durchatmen zu können.

Zwischen Schätzungen und Dunkelziffern

Die Familie galt in Deutschland lange als unantastbare Institution. Doch die Realität sieht für einige anders aus. Laut Schätzungen, von Sozilog:innen, haben rund 100.000 Erwachsene in Deutschland den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen. So schrieb der Deutschlandfunk in einem Artikel zum Hörspiel Funkstille – sie gehen jedoch von einer noch viel höheren Dunkelziffer aus.

Es gibt keine exakten Zahlen zur Häufigkeit von Kontaktabbrüchen oder familiärer Entfremdung, weil das Thema sehr komplex und individuell ist. Wissenschaftliche Studien wie die pairfam“- Studie liefern belastbare Schätzungen. So entfremdeten sich rund 20 Prozent der erwachsenen Kinder im Laufe des zehnjährigen Beobachtungszeitraum vom Vater und neun Prozent von der Mutter. Diese Zahlen hängen jedoch stark von der jeweiligen Definition von Entfremdung und der untersuchten Altersgruppe ab.

Die Datenlage ist zwar unübersichtlich, dennoch deutet einiges auf einen Wandel hin. Individualisierung, Selbstverwirklichung und das Recht auf eigene Grenzen stehen heute im Vordergrund. Junge Erwachsene stellen Beziehungen zu Eltern zunehmend infrage – und entscheiden sich im Zweifel für den Rückzug.

Ghosting in der Gesellschaft

Ghosting – der Kontaktabbruch ohne Ankündigung – ist längst nicht mehr auf Liebesbeziehungen beschränkt. Laut einer Umfrage von YouGov aus dem Jahr 2021 haben rund 20 Prozent der Deutschen schon einmal einen Freund, ein Familienmitglied oder jemanden, mit dem sie sich gedatet haben, „geghostet“. Besonders junge Menschen sind davon betroffen, aber das Phänomen zieht sich durch alle Altersgruppen.

„Ich musste mich schützen“

Anna ist nach Chemnitz gezogen, um zu studieren. Was als Neuanfang gedacht war, wäre für sie auch zur Befreiung geworden. „Ich habe gemerkt, dass mir der Kontakt zu meiner Mutter mehr schadet als gut tut“, erzählt sie. Nach Jahren voller Konflikte und Missverständnisse zog sie die Reißleine. „Nach dem letzten Streit war klar: Ich brauche Abstand, ich musste an mich denken.“ Ihr Fall steht beispielhaft für viele: Die Entscheidung für einen Kontaktabbruch ist selten leicht, oft aber der einzige Weg zu mehr Selbstbestimmung.

Seitdem lebt Anna ruhiger. „Ich habe gelernt, dass ich nicht für meine Mutter leben muss. Wichtig ist, dass ich mit meinem Leben zufrieden bin“, sagt sie. Sie spricht von Schuldgefühlen, von schlaflosen Nächten, von dem inneren Konflikt zwischen Loyalität und Selbstschutz.

„Natürlich habe ich mir die Frage gestellt, ob ich übertreibe. Aber irgendwann wurde mir klar: Ich muss nicht krank werden, um jemandem gerecht zu werden.“ – Anna

Eine Untersuchung der Universität Bielefeld zeigt, dass Kontaktabbrüche in der Regel keine spontane Entscheidung sind, sondern das Ergebnis eines langwierigen Prozesses. Die Betroffenen reflektieren die Situation intensiv und wägen die Konsequenzen sorgfältig ab, bevor sie den endgültigen Schritt vollziehen.

Kontakt der Mutter wird blockiert.

Kontakt der Mutter wird blockiert. Quelle: Max Schulze

Was führt zum Bruch?

Psychologin Sandra Konrad erläutert in einem Artikel des Spektrum Magazins: „Kinder, die den Kontakt abbrechen, fühlen sich häufig entwertet oder massiv kontrolliert.“ Häufig gäbe es in der Familie Gewalt, Missbrauch oder schwere psychische Erkrankungen bei den Eltern, oft fühlten sich die Kinder schlicht nicht geliebt und beachtet.

Bei Anna führte der neue Partner ihrer Mutter zur weiteren Distanzierung. „Irgendwie lebte sie nicht mehr für die Familie, sondern nur noch für Ihn, das konnte ich nicht verstehen. Besonders nach allem, was wir gemeinsam durchgemacht haben.“

„Es kam mir immer so vor, als würde er sie wie eine Marionette spielen. Es gab, wie in jeder Familie, auch Streit bei uns und als Alleinerziehende hatte sie es sicher nicht leicht, aber nachdem ihr neuer Freund dann bei uns einzog, war sie wie ausgewechselt.“ – Anna

Auch Überbehütung, massive Kontrolle, fehlende Unterstützung oder das Gefühl, die eigenen Wünsche und Träume zählten nicht, sind typische Auslöser. Ebenso können grundlegende Werte – und Politikkonflikte die Dynamik zusätzlich verschärfen. Gerade radikale Überzeugungen, extremistische Ansichten oder unüberbrückbare Wertedifferenzen innerhalb der Familie können zu tiefgreifenden Brüchen führen, wenn keine gemeinsame Basis für offene Kommunikation mehr besteht und sich einzelne Mitglieder mit ihren Ansichten nicht mehr verstanden oder akzeptiert fühlen.

Kontaktabbruch – näher als gedacht

Während der Recherche zum Thema zeigte sich, dass überraschend viele Menschen im eigenen Bekanntenkreis ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Plötzlich berichteten Kommiliton:innen und Freund:innen von eigenen Geschichten des Kontaktabbruchs – oft nach jahrelangem Zögern und mit großer emotionaler Belastung. Dies verdeutlicht: Family Ghosting ist kein Einzelfall, sondern ein gesellschaftliches Phänomen.

Sarah (27, Studentin aus Dresden):
Leon (24, Student aus Jena):
Marie (21, Auszubildene aus Gera):
Tom (26, Student aus Gera):
Phoenix (20, Student aus Mittweida):

Social Media: Erfahrungsaustausch und Unterstützung

Expert:innen wie Morin Holistic aus Kanada und Whitney Goodman aus den USA nutzen Social Media, um das Thema Kontaktabbruch in Familien auf eine niedrigschwellige und praxisnahe Weise zu vermitteln. Holistic erklärt in ihren Videos, wie ungelöste Konflikte und emotionale Verletzungen zu familiärer Entfremdung führen können. Dabei betont sie die Bedeutung von Selbstfürsorge und professioneller Unterstützung. Goodman, lizenzierte Familientherapeutin, erreicht auf TikTok ihr Publikum mit kurzen, klaren Videos zu toxischen Familienstrukturen, Abgrenzung und Heilungsprozessen.

Beide bieten Betroffenen praktische Anregungen, sensibilisieren für psychische Belastungen und zeigen, wie mit Schuldgefühlen und gesellschaftlichem Druck umgegangen werden kann. Ihre Beiträge zeigen, dass Social Media zunehmend als Plattform für Diskussionen über familiäre Kontaktabbrüche genutzt wird.

Gründe, weshalb erwachsene Kinder den Kontakt abbrechen.
Quelle: TikTok/mmorinholistictherapy

Getrennte Wege, unterschiedliche Wahrnehmungen

Anna erzählt von der Reaktion ihrer Mutter auf den Kontaktabbruch: Für sie sei der Bruch völlig unerwartet gewesen. Sie habe versucht, Anna zurückzugewinnen, sei jedoch erfolglos geblieben. Anna berichtet, ihre Mutter habe keinen eindeutigen Grund für den Kontaktabbruch erkennen können und auf die Frage, was ihrer Meinung nach der Auslöser gewesen sein könnte, lediglich mit Vorwürfen reagiert.

„Sie sagte, sie habe immer nur das Beste für mich gewollt.“ – Anna

Doch Annas Mutter ist mit dieser Erfahrung nicht allein. Viele Eltern erleben den Kontaktabbruch ihrer Kinder als tiefen Schock und fühlen sich verlassen und allein, so schilderten es Eltern dem Deutschlandfunk. Häufig fehlt ihnen eine Erklärung für den plötzlichen Bruch, und sie machen sich auf die Suche nach Gründen. Manche Eltern versuchen, wie Annas Mutter, über Briefe, Besuche oder Anrufe wieder eine Verbindung herzustellen – meist vergeblich. Die Unsicherheit über die Ursache prägt die Erfahrung vieler Betroffener. Es zeigt sich, dass die Perspektiven von Eltern und Kindern oft weit auseinanderliegen.

Briefe und Paket an Anna.

Versuche der Kontaktaufnahme, nicht nur über das Handy. Quelle: Max Schulze

Chancen und Grenzen der Versöhnung

Obwohl ein Kontaktabbruch häufig als endgültig erlebt wird, kann er auch ein „Weckruf“ sein, der auf tieferliegende Probleme in der Familie aufmerksam macht, meint Claudia Hartmann in einem Interview mit Profil.at. Sie betont, dass eine Annäherung oder Versöhnung möglich sei, wenn beide Seiten bereit wären, über die Ursachen des Bruchs zu sprechen und die Perspektive des anderen ernst zu nehmen. Professionelle Unterstützung wie eine Therapie oder Familienberatung können dabei helfen, alte Konflikte aufzuarbeiten und neue Wege des Miteinanders zu finden. Zugleich gilt: Eine Rettung der Beziehung ist nicht in jedem Fall sinnvoll oder möglich – insbesondere dann, wenn Gewalt oder Missbrauch eine Rolle spielen, muss der Schutz der Betroffenen im Vordergrund stehen. Wie Kodjoe und Koeppel in ihrem Fachartikel betonen, ist die Ablehnung eines Elternteils in Fällen tatsächlicher Misshandlung oder Missbrauch gerechtfertigt; hier steht das Wohl und die Sicherheit der Betroffenen an erster Stelle.

„Viele Eltern wissen einfach nicht, wie man das, was wir Liebe nennen, kommuniziert.“ – Claudia Haarmann

Anna, sieht das Thema Versöhnung differenziert: „Natürlich habe ich manchmal überlegt, ob es noch einen Weg zurück gibt. Aber ich weiß auch, dass ich mich schützen muss. Es müsste sich schon sehr viel ändern, damit ich wieder Vertrauen fassen könnte.“ Die Entscheidung, ob und wie eine Beziehung wiederbelebt werden kann, bleibt individuell und hängt von den jeweiligen Lebensumständen sowie der Bereitschaft zur Veränderung ab.

Tabus zerbrechen – die Folgen lasten schwer

Family Ghosting ist kein Randphänomen mehr. Die Gründe sind vielfältig, die Folgen oft schmerzhaft – für beide Seiten. Doch der gesellschaftliche Wandel macht deutlich: Es ist legitim Grenzen zu setzen, auch gegenüber der eigenen Familie.

Es geht nicht darum, Selbstschutz zu quantifizieren oder die Versöhnung zu erzwingen. Wer den Kontakt abbricht, sucht nicht den einfachen Weg, sondern oft den einzigen Ausweg. Damit verdient das Thema mehr Offenheit, Verständnis und professionelle Unterstützung – statt Schuldzuweisungen und Tabus.

Text: Max Schulze, Bilder: Max Schulze, Videos: TikTok/mmorinholistictherapy TikTok/whitneygoodmanlmft

<h3>Max Schulze</h3>

Max Schulze

geboren 1997, studiert Medienmanagement mit der Vertiefung Journalismus an der Hochschule Mittweida. Seit 2025 ist er Chefredakteur von medienMITTWEIDA. Seine inhaltlichen Schwerpunkte liegen auf Politik, Popkultur, sozialen Themen und Wirtschaft.