Jahrzehntelang war die Wehrpflicht in Deutschland ein politisches Dauerthema – diskutiert, ausgesetzt, nie ganz abgeschafft. Nun, 14 Jahre nach ihrer Aussetzung, kehrt sie in neuer Form zurück. Im Koalitionsvertrag der künftigen Regierung aus CDU/CSU und SPD heißt es: „Wir schaffen einen neuen attraktiven Wehrdienst, der zunächst auf Freiwilligkeit basiert“. Dabei orientiert sich das Modell am schwedischen System: Alle 18-jährigen Männer erhalten einen Fragebogen zu ihrer Bereitschaft und Eignung, den sie verpflichtend ausfüllen müssen; für Frauen ist dieser Schritt freiwillig. Ausgewählte Kandidat:innen werden zur Musterung eingeladen. Ziel ist es, 5.000 Soldat:innen im ersten Jahr zu gewinnen. Das Signal ist dabei eindeutig: Wenn die Freiwilligkeit nicht wirkt, ist die Rückkehr zur Wehrpflicht kein Tabu.
Mit diesem Schritt reagiert die Regierung auf den andauernden russischen Angriffskrieg — auf europäischen Boden. Deutschland hinkt seit Jahren seinen NATO-Verpflichtungen hinterher und ist nun dem verschärften Druck der NATO ausgesetzt, die eigene Verteidigungsfähigkeit zu sichern. Aktuell zählt die Bundeswehr rund 180.000 aktive Soldat:innen. Bis 2029 soll die Zahl auf 203.000 steigen — Militärexperten fordern sogar eine Verdopplung. Weshalb hat die Bundeswehr solch gravierende Personalprobleme? Dafür lohnt sich ein Blick auf die Geschichte der deutschen Armee und der Wehrpflicht.
Historischer Kontext: Die Wehrpflicht in Deutschland
Die Geschichte der deutschen Wehrpflicht ist eng verwoben mit dem politischen Selbstverständnis des Landes. 1813 entstand sie als Antwort auf die napoleonischen Kriege, um eine Einheit zwischen Regierung, Heer und Nation herzustellen. Die Armee galt als „Schule der Nation“ und stieg innerhalb Europas als „preußisches Vorbild“ auf. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde sie durch die Siegermächte zu einer Berufsarmee aufgelöst. Diese entwickelte sich jedoch in der Weimarer Republik zu einem autonomen „Staat im Staate“ und ließ sich später durch die Nationalsozialisten instrumentalisieren. Nach einer Zeit der Entmilitarisierung gründete sich 1955 die Bundeswehr als demokratisch kontrollierte Parlamentsarmee im NATO-Bündnis. Ab 1957 diente die allgemeine Wehrpflicht nicht nur der sicherheitspolitischen Antwort auf den Kalten Krieg, sondern auch als Bindeglied zwischen Gesellschaft und Armee.
Mit dem Ende des Kalten Krieges und der deutschen Einheit begann ein grundlegender Wandel: Umfangreiche Abrüstung, schrumpfende Truppengröße und eine neue Rolle. Statt territorialer Verteidigung sprach das Verteidigungsministerium zunehmend von einer Armee im internationalen Einsatz. Die Wehrpflicht galt bald als rückständig — zu teuer, zu ineffizient und angesichts komplexer globaler Kriseneinsätze nicht mehr zweckgemäß. Durch die schrumpfende Truppengröße wurde die Frage nach der Wehrgerechtigkeit immer lauter. Auch die Kürzung der Wehrdienstzeit auf zuletzt sechs Monate erklärte der damalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg als sicherheitspolitisch „nicht mehr vermittelbar“. 2011 setzte die Regierung unter Merkel schließlich die Wehrpflicht „für Friedenszeiten“ aus. Seither ist die Bundeswehr eine reine Berufsarmee.
Aussetzung der Wehrpflicht sorgte für massive Probleme
Trotz aller Argumente für die Aussetzung blieb diese nicht folgenlos. Missmanagement und rechtsextreme Vorfälle innerhalb der Bundeswehr verstärkten eine wachsende „Abkoppelung“ der Armee von der Gesellschaft. Das sinkende Image erschwerte es zunehmend neuen Nachwuchs zu gewinnen. Seit 2011 kämpft die Bundeswehr mit einem Mangel an freiwilligen Bewerbenden. Zwar zeigten die neuen Kommunikations- und Imagekampagnen der letzten Jahre Wirkung — 2024 traten acht Prozent mehr Soldat:innen ihren Dienst an —, doch die Abbruchquote betrug ganze 27 Prozent und unterstreicht die weiterhin mangelnde Attraktivität der Bundeswehr für junge Menschen.
Hinzu kommen gravierende strukturelle Mängel. Die Wehrbeauftragte Eva Högl dokumentiert in ihrem Jahresbericht für 2024 einen „desolaten Zustand“ in den Kasernen: verschimmelte Duschen, marode Küchen und mangelhafte Unterkünfte. Dazu fehle es an grundlegender Ausrüstung wie Munition, Ersatzteilen, Funkgeräten, Panzern, Schiffen und Flugzeugen. Ein 2022 beschlossenes Sondervermögen von 100 Milliarden Euro sollte den Investitionsstau beheben. Zwar konnten damit historisch hohe Beschaffungsumfänge erreicht werden, doch das Geld war 2024 aufgebraucht, und die Lieferung des Materials steht teilweise bis heute noch aus.
Warum jetzt wieder über die Wehrpflicht gesprochen wird
Die Probleme um die Bundeswehr sind seit Jahren bekannt. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und die wachsende Unsicherheit über die Sicherheitsgarantien der USA rücken sie nun wieder in den politischen Fokus. Die von Bundeskanzler Olaf Scholz ausgerufene „Zeitenwende“ symbolisiert das Ende der deutschen sicherheitspolitischen Zurückhaltung. Der ehemalige und wohl zukünftige Verteidigungsminister Borios Pistorius zeichnet aber ein klares Bild: Deutschland ist nicht verteidigungsfähig. Mit strukturellen Reformen möchte er die Bundeswehr für den Ernstfall „kriegstüchtig“ machen. Im Zuge der Reform soll ein einheitlich operatives Führungskommando die Einsatzfähigkeit der Truppenteile steigern. Ein neuer Cyber- und Informationsraum soll Deutschland vor Cyberangriffen und Desinformationskampagnen schützen. Vorgesehen sind zudem Beschleunigungsgesetzte und Ausnahmen im Bau-, Umwelt- und Vergaberechten, um den Strukturausbau zu ermöglichen.
Im Koalitionsvertrag ist zudem die Rede einer „Europäischen Verteidigungsunion“, in der Deutschland eine Führungsrolle einnehmen und die Bundeswehr zum europäischen Vorbild entwickeln möchte. Dafür braucht es höhere Investitionen, strategische Planung — und mehr Personal. Im Zentrum der Personaloffensive stand die Forderung der CDU nach Reaktivierung der Wehrpflicht, die jedoch am Widerstand der SPD scheiterte. Der Kompromiss sieht ein zunächst freiwilliges Wehrdienstmodell mit sechsmonatiger Dienstzeit vor, optional verlängerbar auf bis zu 17 Monate. Gegenüber dem Spiegel erklärte Pistorius, dass das entsprechende Gesetz noch dieses Jahr in Kraft treten soll.
Aktuell zählt die Bundeswehr rund 180.000 Soldat:innen. Ziel ist es, jährlich zunächst 5.000 Rekrut:innen zu gewinnen und das Personal bis 2029 auf insgesamt 460.000 zu erhöhen (200.000 aktive Soldat:innen und 260.000 Reservist:innen). Eine Verdoppelung innerhalb von vier Jahren, die der schrittweise Ausbau der Ausbildung- und Unterbringungskapazitäten ermöglichen soll. Eine große Wahl hat Deutschland dabei nicht: Laut Informationen des CPM defence networks, soll zum NATO-Gipfel im Juni eine Truppenstärke von mindestens 395.000 deutschen Soldat:innen gefordert werden. Nur dann gilt die Bündnispflicht als erfüllt.
Ist das freiwillige Modell ausreichend?
Die Debatte um die Wehrpflicht hält trotz Koalitionsvertrag an. Unions-Fraktionsvize Johann Wadephul zeigte sich, vor seiner Beförderung zum Außenminister, in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung skeptisch über die Erfolgschancen des Freiwilligen-Modells. Am Ende des Jahres müsse überprüft werden, ob der Personalaufbau ohne Wehrpflicht gelingen könne. Schon vor einem Jahr kritisierte er das von Boris Pistorius vorgeschlagene Wehrdienstmodell als vertane Chance: „Statt eines großen Wurfes, eine Verpflichtung auch für Frauen im Rahmen einer allgemeinen Dienstpflicht vorzuschlagen, macht er einen halbgaren Vorschlag, der die Personalprobleme der Bundeswehr nicht löst.“ Auch Hans-Peter Bartels, Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik, kritisiert den Widerstand gegen die Wehrpflicht gegenüber der Welt als „aberwitzig“. Die Regierung werde eine Reaktivierung ermöglichen müssen, da sie die existenzielle Sicherung Deutschlands im Ernstfall bedeute und es jetzt wieder ernst sei. Vorsitzender des Bundeswehrverbands, Andre Wüstner, warnte gegenüber der Welt, dass die Bundeswehr angesichts steigender Aufträge in der nächsten Legislaturperiode zu „implodieren“ drohe, sollte die freiwillige Rekrutierung scheitern.
Lars Klingbeil, Co-Vorsitzender der SPD und frisch ernannter Vizekanzler, sieht die Notwendigkeit einer Wehrpflicht nicht. Die angestrebte Personalstärke könne auch auf freiwilliger Basis erreicht werden. Eine Armee, die aus intrinsischer Motivation und Überzeugung von Freiwilligen besteht, stärke die deutsche Verteidigungsfähigkeit. Der Funke Mediengruppe sagte Klingbeil, man könne die Attraktivität der Bundeswehr beispielsweise durch die Möglichkeit des kostenlosen Führerscheinerwerbs steigern. Auch Politikwissenschaftler Jörn Fischer mahnte gegenüber dem Deutschlandfunk eine Verpflichtung an: „Wir haben 52 Prozent der Jugendlichen, die der Regierung nicht vertrauen. […] In solchen Zeiten den Jugendlichen seitens der Regierung einen Pflichtdienst aufzuoktroyieren, finde ich ein total falsches Signal.“ Die Politik solle stattdessen an einem freiwilligen Dienst festhalten, verbunden mit einem Rechtsanspruch bei fairen Bedingungen. Auch die Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge fordert einen Rechtsanspruch auf freiwilligen Dienst. Für Frauen lehnt sie ihn dagegen so lange ab, bis nicht auch in anderen Bereichen wie Familien- und Pflegezeiten Gleichberechtigung herrsche.
Die Mehrheit der Betroffenen lehnt eine Wehrpflicht ab
Das Ansehen der Bundeswehr hat seit den späten 2000er Jahren gelitten. 2013 befürworteten nur 20 Prozent der Bevölkerung höhere Verteidigungsausgaben und mehr Soldaten. Ein Jahr später, nach der Annexion der Krim, stiegen die Zahlen in die Höhe — 2022 sogar auf fast 60 Prozent. Mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine hat die Zustimmung innerhalb der Gesellschaft für die Bundeswehr weiter zugenommen. Laut einer aktuellen repräsentativen YouGov Umfrage befürworten 58 Prozent der Deutschen die Wiedereinführung der Wehrpflicht. Bei den 18- bis 29-Jährigen spricht sich nur jeder Dritte dafür aus, 61 Prozent lehnen sie ab. YouGov-Meinungsforscher Frieder Schmidt erkennt darin ein typisches Muster. „Diejenigen, die eine Maßnahme nicht betrifft, befürworten sie eher“, so Schmidt gegenüber der Welt. Die Bereitschaft zur Landesverteidigung mit der Waffe liegt laut einer Umfrage von RTL/n-tv sogar nur bei 17 Prozent — bei Frauen würden nur acht Prozent zur Waffe greifen.
Die Skepsis spiegelt sich auch in den sozialen Medien wider. Unter einem Tagesschau-Post vom 20.04.2025, der über die Diskussion der Union und SPD zur Wehrpflicht aufklärt, finden sich hauptsächlich kritische und enttäuschte Kommentare:
Nutzerkommentare eines Tagesschau-Beitrages auf Instagram zur Aufklärung über den Wehrdienst und die Wehrpflicht Debatte
Die Rückkehr der Wehrpflicht auf die politische Agenda zeigt die veränderte sicherheitspolitische Lage Deutschlands. Der nun gefundene Kompromiss eines zunächst freiwilligen Wehrdienstmodells ist ein Versuch, den dringenden Personalbedarf der Bundeswehr zu decken und gleichzeitig gesellschaftliche Akzeptanz zu finden. Ob dieser Ansatz ausreicht, um die Bundeswehr tatsächlich „kriegstüchtig“ zu machen und den Erwartungen der NATO gerecht zu werden, bleibt abzuwarten. Die kritischen Stimmen innerhalb der Politik und die verhaltene Zustimmung junger Menschen deuten darauf hin, dass die Debatte um die zukünftige Ausrichtung der deutschen Verteidigungspolitik noch lange nicht abgeschlossen ist.
Text/Grafiken: Kyriaki Linoxylaki, Titelbild: ©️Bundeswehr/S.Wilke
Meinung des Autors
Über ihre Köpfe hinweg
Die Umfragen zeichnen ein besorgniserregendes Bild. Während eine Mehrheit der Bevölkerung die Wiedereinführung der Wehrpflicht befürwortet, lehnt die junge Generation, die davon betroffen wäre, sie mehrheitlich ab. Dennoch wird über ihre Köpfe hinweggeredet — nicht mit ihnen. Junge Menschen sollen die Personalprobleme einer Bundeswehr ausbaden, die durch jahrelanges Missmanagement und politische Versäumnisse in eine desolate Lage geraten ist. Es ist dieselbe Generation, deren Engagement — etwa bei den Klimaprotesten — von der Politik allzu gern belächelt und deren Ideen als unrealistisch abgetan wurden. Doch wenn es um Landesverteidigung geht, soll sie bereitstehen. Steigende Lebensunterhaltungskosten, psychische Belastungen, Karriereängste und soziale Ungerechtigkeit: Themen, die junge Menschen belasten und erneut hintenangestellt werden.
Bei aller gerechtfertigter Sorge um Landesverteidigung, stellt sich die Frage, ob Solidarität im Jahr 2025 noch verordnet werden kann. Wer junge Menschen für den Dienst am Land gewinnen will, muss erst ihr Vertrauen zurückgewinnen — mit besseren Ideen als Pflicht und Solidaritätsrhetorik. Die designierte Regierung sollte sich gut überlegen, ob sie mit dieser Politik nicht genau die Generation verliert, auf deren Engagement und Loyalität sie in Zukunft angewiesen sein wird.