frustrierende Sexualität

Sex geht doch ganz ohne Reden. Oder?

von | 9. Dezember 2022

Communication is key: Wie wir uns von Erwartungsbildern lösen und eigene Bedürfnisse formulieren.

Das Gefühl festzustecken, sich im Kreis zu drehen und ratlos zu sein. Viele haben sich sicherlich bereits so gefühlt. Frustration ist ein allgegenwärtiges Gefühl, vor dem kaum ein Mensch verschont bleibt. Unerfüllte Erwartungen, auch in der zwischenmenschlichen Kommunikation, sind Ursache für das Aufbauen von FrustBesonders wenn es um die Kommunikation sexueller Bedürfnisse geht, stoßen wir häufig auf Hindernisse.
Sexual- und hypnosystemische Therapeutin Minoo Attaeifar bietet in ihrer Praxis in Leipzig Sexual-, Paar-, Einzel- und Hypnotherapie an. 
Im Interview mit medienMITTWEIDA spricht sie über Hintergründe und Lösungsansätze von frustrierender Sexualität.

Minoo Attaeifar arbeitet mit Paaren und Einzelpersonen in ihrer Praxis in Leipzig. Nebenbei studiert sie im Master Soziologie und auch im Rahmen ihres Studiums beschäftigt sie sich hauptsächlich mit dem Thema Sexualität. Bild: Marco Kitzing

Was ist frustrierende Sexualität?

Minoo Attaeifar: Bei frustrierender Sexualität geht es darum, dass die eigenen Bedürfnisse nicht gesehen oder nicht gehört werden. Und der Mensch ist dann frustriert, vor allem, wenn er versucht hat, Lösungen zu finden und dies nicht zum gewünschten Ziel geführt hat. Wenn man dann merkt, dass man an sein Gegenüber nicht rankommt, weil er/sie blockiert, und nichts passiert, dann entsteht ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Kontrollverlust. Und das führt dazu, dass man irgendwann anfängt, sich immer mehr zurückzuziehen.
Je länger der Prozess dauert, desto schlimmer wird es für einen selbst. Im schlimmsten Fall kann es zu psychosomatischen Symptomen, Depressionen oder auch Angstzuständen kommen. Aber auch die schambedingte Unfähigkeit, klar zu kommunizieren, löst diesen Frust aus.

Was sind die Gründe für unsere Scham?

Minoo Attaeifar: Es gibt zwei Hauptursachen, welche uns beim Kommunizieren unserer sexuellen Wünsche und Bedürfnisse Hindernisse in den Weg stellen.
Einer dieser Gründe ist die Sprache der Sexualität. Wir haben schlicht nicht gelernt, über das Thema zu sprechen.
Schon in unserem Elternhaus ist es selten der Fall, dass über Sexualität offen gesprochen wird. Auch die nonverbale Sprache der Eltern in Form von Körperkontakt und Nähe nimmt ab einem gewissen Punkt stark ab.
Und auch in der Schule findet Aufklärung häufig nur oberflächlich statt. Wie es zur Befruchtung der Eizelle kommt, wird den Schülern detailgetreu beigebracht. Aber wie man über eigene Gefühle und Bedürfnisse spricht und wie man sich mitteilt, das lernen wir nicht. So greifen Jugendliche vor allem zu Pornografie als „Lehrmedium“. Und was lernen wir da? Dass nicht gesprochen wird. Auch da geht es einfach nur um die Handlungen.

Ein zweiter Grund ist Angst, die uns daran hindert, frei zu sprechen. Zum einen haben wir Angst davor, verurteilt und abgelehnt zu werden. Man befürchtet, dass eigene Wünsche und Fantasien als abnormal angesehen werden. Daraus entsteht wiederum die Angst, verlassen zu werden.
Auch die Angst zu verletzen, kann in einigen Fällen eine große Rolle spielen, wenn meine Fantasien beispielsweise einen anderen als den eigenen Partner einschließen. 

Gibt es geschlechterspezifische Unterschiede?

Minoo Attaeifar: Ich habe das Gefühl, dass sowohl bei den Frauen als auch bei den Männern das Thema im Allgemeinen nicht offen kommuniziert wird. Allgemeiner Konsens lässt vermuten, dass es Frauen schwerer fällt, sexuelle Belange zu kommunizieren. Jedoch habe ich auch selten Männer getroffen, die vollkommen offen und ehrlich alles gesagt haben, was sie denken und fühlen. Grund: Es geht darum, auch über Gefühle und Bedürfnisse zu sprechen und nicht nur über Fantasien.
Männern fällt es sicherlich leichter, über Fantasien zu sprechen. Aber Sexualität ist sehr viel mehr als nur Fantasien und Handlungen.

Beim Formulieren von konkreten Handlungen und Fantasien sind Frauen jedoch gehemmter. Wir Frauen betrachten häufig unsere Sexualität durch die gesellschaftlich kulturelle Brille, die uns von der männlich dominierten Welt auferlegt wurde. Denn unsere Sexualität wird von der Gesellschaft und den Medien konstruiert. Weibliche Sexualität ist nach wie vor mit starker Scham und Schuldgefühlen verbunden, viele Frauen leiden unter einer negativen Körperwahrnehmung und kämpfen mit mangelndem Selbstwertgefühl, die durch die Medien und Pornografie verursacht wird. Auch die Angst stigmatisiert zu werden, hemmt Frauen offen und ehrlich über Ihre Wünsche zu sprechen.

Wie kann man Erwartungsbilder durchbrechen?

Minoo Attaeifar: Man muss sich zunächst im Klaren werden, was einem persönlich wichtig ist und was man selbst will. Wie sieht die eigene Vorstellung von Sexualität aus? Davon zu trennen ist, was einem von außen suggeriert wurde — externe Erwartungsbilder.
Stellen Sie sich vor, Sie interessieren sich für ein Kunstgemälde und möchten sich dieses anschauen. Sie kommen in den Ausstellungsraum, wo das Bild hängt und dort finden Sie jede Menge Informationen zu diesem Künstler. Dann bemerken Sie die Menschen um sich herum, die das Bild genau wie Sie betrachten und Ihnen mitteilen, wie sie dieses Bild bewerten. Später finden Sie Bücher und Biografien zu seinem Leben und so weiter.
Was passiert dann mit Ihrer Meinung? Was würden Sie tun? Sie würden sich wahrscheinlich von äußeren Eindrücke beeinflussen lassen und von anderen Meinungen. Es geht dann nicht nur um das Bild. Wenn man sich also von Erwartungshaltungen, die vor allem durch Pornografie vorgelebt werden, befreien möchte, dann geht es vor allem erstmal darum, zu definieren — Was bin ich und was ist mir wichtig? Zuerst ist zu klären, warum habe ich überhaupt Sex? Und was suche ich beim Sex? Welche Emotionen und Bedürfnisse spielen dabei eine Rolle? Auch da unterscheiden wir uns enorm. Es gibt Menschen, die vorrangig Wertschätzung und Anerkennung suchen. Andere suchen Nähe oder wollen einfach nur Spaß und einen Orgasmus haben. Je nach Stimmung, Zyklus und Dynamik zwischen den Personen, variieren diese Motive natürlich auch. Es geht also darum, die Tendenzen zu ermitteln.

Welchen Stellenwert haben Sexualität und Intimität in Beziehungen?

Minoo Attaeifar: Jemand hat mal zu mir gesagt, Sexualität ist ein Grundbedürfnis und kein Luxus. Und ich stimme demjenigen zu. Trotzdem haben Menschen ein unterschiedliches Bedürfnis nach Intimität und wie häufig sie diese benötigen, variiert stark. Es gibt auch Menschen, die sagen, ich brauche es gar nicht auf die herkömmliche Art und Weise. Aber diese Menschen stellen meist auf eine andere Art und Weise Nähe her. Intimität kann durch die verschiedensten Handlungen hergestellt werden. Eine solche Kompensation kann zum Beispiel durch Tanzen erfolgen. So oder so ist Intimität sehr wichtig, muss aber nicht zwingend der Norm entsprechen.

Welche Rolle spielt der Orgasm Gap? 

Minoo Attaeifar: Kommunikation spielt eine wichtige Rolle bei sexuellen Beziehungen. Häufig ist es ja so, dass beim Sex die Gedanken im Kopf kreisen. Machen wir uns zu viele Gedanken, kann der Körper nicht entspannen. Der Orgasmus ist jedoch ein Reflex, welcher im entspannten Zustand ausgelöst wird. Ehrliche Kommunikation über die eigenen Gedanken und Bedenken kann dabei helfen. Jedoch ist das Fehlen eines Orgasmuses nur selten Grund dafür, dass Frauen oder Paare zu mir kommen. Hauptanliegen sind das Gemeinsam sein, Harmonieren und Kommunizieren.

Anmerkung der Redaktion: Mehr zum Thema Orgasm Gap erfahrt ihr in dem Interview von medienMITTWEIDA.

Was kann man sich unter einer Sexualtherapie vorstellen?

Minoo Attaeifar: Sexualtherapie ist eine besondere Form der Psychotherapie. Dabei unterstütze ich Menschen — Einzelpersonen oder Paare — die ihre Sexualität verstehen oder reflektieren und dann auch weiterentwickeln oder Störungen beheben möchten. Also wenn diese Personen empfinden, dass es so wie es gerade ist, nicht reicht und etwas Neues entdecken möchten oder sich selbst erfahren wollen, leite ich sie dabei an. 

Wie ich dabei vorgehe, ist aber immer unterschiedlich. Jedoch haben meine Erfahrungen gezeigt, dass Bildsprache, Metaphern und Gedankenspiele es erleichtern, sich auszudrücken und über das Thema Sexualität zu sprechen.
Ein Beispiel ist das erotische Haus: Stellen Sie sich vor, ich arbeite mit einer Einzelperson, die erfahren möchte, warum sie nie zum Orgasmus kommt.
Auf der unbewussten Ebene begleite ich die Person in ihrem erotischen Haus und wir betrachten die verschiedenen Räume, welche für die Facetten der Sexualität stehen. Beispielsweise verkörpert ein Raum die Bedürfnisse, ein weiterer die Fantasie und ein Raum steht für das Thema Gelassenheit und die Einstellung zum Thema Sexualität. Besonders in der Hypnosetherapie eignet sich Bildsprache großartig, da die Patienten sehr entspannt sind und diese Bilder entstehen, ohne viel darüber nachzudenken und zu konstruieren.

Wie kann es gelingen, offen zu kommunizieren?

Minoo Attaeifar: Ich empfehle, solche Gespräche in einem entspannten, für beide Partner:innen angenehmen Rahmen zu führen. Ich denke, bevor man das Thema Sexualität mit dem Partner bespricht, ist es wichtig, über die Rahmenbedingungen zu sprechen. „Welche Ängste habe ich denn, wenn ich mit dir darüber spreche?“ Kommunizieren Sie Ihre Angst zu verletzen oder Ihre Verlustangst klar. Geben Sie Ihrem Partner im Anschluss auch die Chance, eigene Grenzen und Tabus zu definieren. Vermitteln Sie sich selbst und Ihrem / Ihrer Partner:in das Gefühl, dass Sie damit nicht allein sind. Machen Sie sich klar: „Das ist unser Thema.” Man muss damit rechnen, dass Ehrlichkeit auch weh tun kann. Und im Voraus sollte man sich Gedanken machen, mit wie viel Ehrlichkeit man selbst und auch der / die Partner:in leben kann. Durch das Setzen der Rahmenbedingungen können wir uns eine Art Anleitung für das Gespräch und damit Sicherheit schaffen. Wenn man allein dann nicht weiterkommt und vielleicht sogar schon frustriert ist, dann kann ein Weg ein neutraler Blick und Hilfe von außen sein.
Wichtig ist, dass sexuelle Störungen auch Chancen darstellen, etwas zu verändern oder sich neu zu entwickeln oder zu entfalten.

Text und Titelbild: Lena Grünert, Beitragsbild: Marco Kitzing
<h3>Lena Grünert</h3>

Lena Grünert

ist 21 Jahre alt und studiert derzeit im 5. Semester Medienmanagement an der Hochschule Mittweida. Bei medienMITTWEIDA engagiert sie sich als Redakteur seit dem Sommersemester 2022.