Triggerwarnung: In diesem Beitrag werden Depressionen, Suizid und psychische Probleme thematisiert. Wenn du Probleme mit dem Thema hast, lies ihn nicht oder nicht allein.
Leben wir in einer männerdominierten Welt? Wirft man einen Blick in die Wissenschaft, könnte man das annehmen. In klinischen Studien fehlen Daten von Frauen. Der Mann als Prototyp, die Frau als Abweichung von der Norm. Den perfekten menschlichen Körper in harmonischen Proportionen stellte schon Leonardo da Vinci in der Vitruvianische-Skizze dar – nur hat dieser „perfekte menschliche Körper” zwei Hoden und einen Penis.
Die Gender Data Gap
Rückenschmerzen, ein steifer Nacken, Sodbrennen und ein schmerzender Unterkiefer. Claudia Junghans war 31 Jahre alt und vor einem halben Jahr gerade erst Mutter eines kleinen Sohnes geworden, als sie mit diesen Symptomen in die Notaufnahme fuhr. „Ich dachte, ich bekomme eine orthopädische Spritze und kann wieder nach Hause“, erzählt die dreifache Mutter im Interview mit medienMITTWEIDA. Dass sie einen Herzinfarkt erlitten hatte, ahnte die junge Frau zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ihr Mann, Olaf Junghans, Stationsleiter Kardiologie im Helios Klinikum Aue, wurde bei den Symptomen seiner Frau stutzig. „Er hat dann damals gesagt, dass die Rettungssanitäter noch ein EKG schreiben sollen”, erinnert sich Claudia Junghans. Die Hebung der Herztöne war deutlich sichtbar – der Herzinfarkt wenig später bestätigt. Sie blieb im Krankenhaus und bekam einen Stent gelegt. Nur drei Tage später ging es der jungen Frau erneut schlecht. Noch auf der kardiologischen Wachstation erlitt sie ihren nächsten Herzinfarkt und bekam einen zweiten Stent gesetzt. Das war 2005.
Laut der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie leiden zwar deutlich mehr Männer an Herz-Kreislauf-Problemen, aber mehr Frauen sterben daran. Herzinfarkte sind ein Beispiel von vielen medizinischen Themen, bei denen Frauen benachteiligt sind. „Lange waren für den Herzinfarkt nur Symptome bekannt, die überwiegend bei Männern auftreten“, erklärt Kathrin Egbringhoff, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der medizinischen Fakultät für geschlechtersensible Medizin in Bielefeld im Interview mit medienMITTWEIDA. Frauen haben bei einem Herzinfarkt häufig andere Symptome. „Bevor das bekannt wurde, dachte man lange Zeit, dass Frauen keinen Herzinfarkt bekommen. Die bei Frauen auftretenden Symptome werden als „untypisch” bezeichnet, obwohl Frauen die Hälfte der Menschen, die einen Herzinfarkt erleiden, ausmachen“, sagt sie. Das mache sich auch in der Versorgung von Frauen bemerkbar. Obwohl Frauen zunehmend in klinischen Studien berücksichtigt würden, seien sie über Jahrzehnte in Untersuchungen unterrepräsentiert oder fehlten gänzlich. Das Fazit: In wissenschaftlichen Studien fehlen Daten von Frauen. Diese Datenlücke bezogen auf ein bestimmtes Geschlecht wird auch Gender Data Gap genannt.
Stent
Ein Stent ist ein medizinisches Implantat in Röhrchenform, das dazu dient, die Blutgefäße rund um das Herz offen zu halten. Das Röhrchen wird eingesetzt, wenn ein Gefäß verengt ist oder droht, sich komplett zu verschließen.
Der lange Weg zur richtigen Hilfe
Diese Erfahrung musste auch Claudia Junghans machen. 2006, ein halbes Jahr nach ihren ersten beiden Herzinfarkten, war sie immer weniger belastbar geworden. „Ich habe es nicht mehr geschafft, einen Wäschekorb vom Keller in die obere Etage zu tragen”, sagt sie. Die Ärzte, bei denen sie sich damals mit den Symptomen vorstellte, glaubten ihr nicht. „Jeder hat gesagt, dass da nichts ist”, erklärt Claudia Junghans. Als sie endlich Hilfe bekam, waren ihre beiden Stents zu 80 Prozent zu. Ein dritter Stent wurde gesetzt. Und dann ging es eigentlich lange gut, sagt sie. Bis 2013. Wieder hatte sie nur Nackenschmerzen und Sodbrennen. Wieder blieb sie zur Beobachtung im Krankenhaus. Beim Legen des Herzkatheters wurde klar, dass auch der dritte Stent verstopft war. Wenige Tage später wurde Claudia Junghans ein Bypass gelegt. 2014 folgte der nächste Infarkt, woraufhin ihre Blutverdünner umgestellt wurden. „Und dann war kein Infarkt mehr”, sagt sie und klopft dreimal auf den hölzernen Esstisch. Bis 2019. Wieder Rückenprobleme und Kurzatmigkeit. „Da hatte ich keinen Infarkt, sondern eine Bradykardie”. Zu ihren drei Stents und dem Bypass gesellte sich ein Herz-Schrittmacher.
Bradykardie
Ein zu langsamer Herzschlag mit weniger als 60 Schlägen pro Minute nennt man Bradykardie. Das Herz eines gesunden Erwachsenen schlägt normalerweise mindestens 60-mal in der Minute.
Heute versucht sie, ihren Alltag bestmöglich zu meistern. „Von gut oder belastbar kann man nicht wirklich reden”. Seitdem ist sie auch engmaschig unter Kontrolle. Auf dem Tisch stehen sieben Pillenboxen, aufgestapelt in einem Turm. Claudia Junghans nimmt die „Samstag-Box” heraus und zeigt die bunten Tabletten – etwa eine Hand voll. „Mein Pflegeheim”, sagt sie schmunzelnd. Für die Zukunft wünscht sie sich, dass die Ärzte mehr für die atypischen Symptome sensibilisiert werden.
Die Herzinfarkt Symptome bei Männern und bei Frauen. Grafik: Lea Scheffler erstellt mit Canva aus Daten des Deutschen Herzzentrums der Charité
Der kleine Unterschied
Um zu verstehen, warum wir eine geschlechtsspezifische Medizin brauchen, müssen wir tief in unseren Körper reisen. Frauen und Männer unterscheiden sich biologisch in jeder einzelnen Zelle – den Geschlechtschromosomen. Die sind unter anderem dafür verantwortlich, dass Frauen im Durchschnitt mehr Fettgewebe haben. Das wiederum wirkt sich auf die Wirkung von Medikamenten aus. Wenn ein medizinisches Präparat lipophil ist, dann wird es im weiblichen Fettgewebe eingelagert und langsamer abgebaut. Sie brauchen also unterschiedliche Dosen von Arzneimitteln. Ebenso wie die Chromosomen, spielen auch die Anatomie, die Körpergröße oder das Körpergewicht eine entscheidende Rolle. Frauen sind im Durchschnitt kleiner und haben damit auch kleinere Organe. Das ist besonders bei der Organspende wichtig. Aber auch die Sexualhormone Östrogen und Testosteron sorgen für Unterschiede. Männer empfinden weniger Schmerzen, Frauen haben ein stärkeres Immunsystem.
Ein langer Leidensweg
Auch Elisa Paul begleitet das Thema der geschlechtersensiblen Medizin schon lange. Mit zwölf Jahren bekam sie ihre erste Periode. „Direkt bei meiner ersten Periode wurde ich ohnmächtig”, erzählt die 28-Jährige Autorin im Interview mit medienMITTWEIDA. Monat um Monat quälte sie sich mit starken Schmerzen. Gynäkologen und Hausärzte sagten ihr immer wieder, dass das alles ganz normal sei. „Dann wurde mir gesagt, dass ich übertreibe, es mir nur einbilde und die Schmerzen psychisch seien”, erinnert sie sich. Erst als sie vor zwei Jahren auf dem Weg ins Krankenhaus von einem Rettungssanitäter auf Endometriose angesprochen wurde, nahte das Ende des Leidensweges. „Ich bin dann am nächsten Tag zu meiner Gynäkologin gegangen und hab den Verdacht geäußert.” Ihre Frauenärztin überwies sie in ein Endometriose-Zentrum, wo Elisa Paul operiert wurde. Die Diagnose: Endometriose.
Die Qualen der jungen Frau sind keine Seltenheit. Etwa jede zehnte Frau erkrankt an Endometriose. Bis heute gibt es, außer Hormonbehandlungen und Operationen, keine Therapie. „Würde die Krankheit auch Männer betreffen, hätten wir schon längst eine Lösung”, sagt Sylvia Mechsner, Leiterin des Endometriose-Zentrums an der Berliner Charité gegenüber Spektrum der Wissenschaft. Es ist allgemein bekannt, dass Frauen in klinischen Studien unterrepräsentiert werden. In einem offiziellen Papier von 2017 räumt die EU ein, dass Frauen aus verschiedenen Gründen ausgeschlossen werden. Elisa Paul kritisiert, dass die Endometriose als Frauenkrankheit abgetan wird. „Dabei betrifft es nicht nur Frauen, sondern alle Personen mit Uterus.”
Endometriose
Bei Endometriose tritt gebärmutterähnliches Gewebe außerhalb der Gebärmutter auf. Die Endometrioseherde können sich dabei überall im Körper ansiedeln. Weitere Informationen zu der Erkrankung findet ihr hier.
Die Frau – das minderwertige Geschlecht
Verwunderlich ist die Datenlücke in der Medizin nicht. So sah etwa Aristoteles die Gebärmutter und die Eileiter für einen nach innen gestülpten Penis inklusive Hodensack. Seine Schlussfolgerung daraus: Der Mann sei die vollkommene Version des Menschen. Im 17. Jahrhundert wurden Frauen von der männerdominierten Welt als minderwertig klassifiziert, weil ihr Gehirn kleiner sei. Der französische Philosoph Nicolas Malebranche erklärte, dass ihnen „alles Abstrakte unbegreiflich ist”. Erst 1899 wurden Frauen erstmals zu einem Medizinstudium zugelassen. Und auch, wenn sich das Frauenbild ab den 1960er Jahren langsam wandelte und die Emanzipation Fahrt aufnahm, sind Frauen weiterhin von klinischen Studien ausgeschlossen. Einer der Gründe ist der Contergan-Skandal in den 1960er Jahren – danach wurden Frauen von Medikamententests ferngehalten.
Der Contergan-Skandal
In den 1960er Jahren wurden immer mehr Kinder mit schweren Fehlbildungen geboren. Im November 1961 wurde bekannt, dass das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan für die Fehlbildungen verantwortlich war. In allen Fällen, bei denen Kinder mit fehlgebildeten Gliedmaßen zur Welt kamen, hatten die Mütter während der Schwangerschaft Contergan zu sich genommen. Weltweit wurden etwa 10.000 Kinder mit Fehlbildungen geboren.
Geschlechtersensible Medizin hilft auch Männern
„Es kann aber auch Männer treffen – ich finde das immer sehr wichtig zu sagen.”
Kathrin Egbringhoff
Falk Schuster erkrankte vor zehn Jahren an einer schweren Depression. Schon als Teenager hatte er mit Suizid-Gedanken zu kämpfen. Seine körperlichen Symptome hat damals kein Arzt näher hinterfragt. „Ich bin einen ganz normalen Werdegang gegangen, aber ich hatte immer diese tiefen Löcher und Momente, in denen ich das Leben völlig sinnlos fand”, erzählt er im Interview mit medienMITTWEIDA. Nach dem Schauspielstudium arbeitete er mehrere Jahre als Schauspieler und wurde letztlich arbeitslos. Daraufhin häuften sich die körperlichen Symptome: „Ich habe eine Magenschleimhautentzündung bekommen, Schlafstörungen, Tinnitus, Orientierungs- und Entscheidungsschwierigkeiten.” Einen Arzt hat er nicht aufgesucht, aufgrund der massiven Angst, dass “etwas mit seinem Kopf nicht stimme” und ihn jemand verurteilen oder ablehnen könne. Die Schuld für seinen Zustand suchte er stets bei sich selbst. Besonders Rollenklischees hätten dabei eine große Rolle gespielt. Auch als ihm eine Freundin von ihrer Psychotherapie erzählte, glaubte er, die Probleme selbst in den Griff zu bekommen. „Ich habe gedacht, dass ich mich nur genug anstrengen muss. Die Anderen bekommen es doch auch hin.“
2021 gab es in Deutschland 9.215 Suizide. 75 Prozent weist die Statistik als Männer aus. Professor Dr. Heide Glasemer vom Universitätsklinikum Leipzig leitet das Forschungsprojekt „MEN-ACCESS: Suizidprävention für Männer” und weiß, dass Männer anders über Probleme sprechen als Frauen. „Es deutet vieles darauf hin, dass Männer nicht sagen ‘Ich habe Suizidgedanken‘, sondern eher Begrifflichkeiten benutzen, die das umschreiben”, erklärt sie gegenüber dem Mitteldeutschen Rundfunk. Sie hat die Vermutung, dass diese Aussagen vom Gegenüber nicht als Hilferuf verstanden werden.
Die Anzahl der Todesfälle durch Suizid, aufgeschlüsselt in Gesamt, Frauen und Männer in den Jahren 2000 bis 2020. Grafik: Lea Scheffler aus Daten des Statistischen Bundesamtes.
Diese Erfahrung machte auch Falk Schuster, als er sich endlich einem vermeintlichen Freund anvertraute. „Er reagierte dann eben so: ‘Therapie? Du bist doch ein Mann. Das kriegst du doch alleine hin.” Falk Schusters Männerbild wurde bestätigt. Er ging wieder nicht zum Arzt. „Und ich habe es dann so lange hinausgezögert, bis es nicht mehr ging. Die Suizidgedanken wechselten dann irgendwann von ‘Nehme ich mir das Leben?’ zu ‘Wie mache ich das?’ und ich war dann einen Schritt davor.” Das Ende der Fahnenstange erreichte er, als er panische Angst davor bekam, es zu probieren. „Ich habe mir Hilfe geholt und bin dann in eine psychiatrische Klinik gekommen.”
Für die Zukunft, sagt er, wünscht er sich ein ganz neues Männerbild. „Dass Männer auch Gefühle haben und diese Gefühle auch zeigen dürfen und sollten.” Deswegen leistet er heute Präventionsarbeit, um anderen Menschen ein Stück weit voranzugehen. Bisher fehlten in Deutschland suizidpräventive Ansätze, die direkt Männer ansprechen. Nun hat das Forschungsprojekt „MEN-ACCESS” eine Website veröffentlicht und entwickelt zwei genderspezifische E-Learning Programme für Männer mit Suizidrisiko und Angehörige. Gemeinsam mit “MEN-ACCESS” setzt sich Falk Schuster auch für ein neues Männerbild ein.
„Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der es als Stärke angesehen wird, wenn ein Mann seine Gefühle zeigt.”
Falk Schuster
Die Zukunft braucht mehr Sensibilität
„Es geht nicht nur darum, dass Frauen besser versorgt werden, sondern darum, dass alle Geschlechter besser versorgt werden”, sagt Kathrin Egbringhoff. Für die Zukunft wünscht sie sich, dass die Forschung geschlechtersensibler wird und dadurch auch mehr Inhalte in die Lehre kommen. Einen ersten wichtigen Schritt dahin hat die Universität Bielefeld gemacht. Seit letztem Jahr gibt es mit Prof. Dr. med. Sabine Oertelt-Prigione die erste Professur für geschlechtersensible Medizin. „Ich glaube, dass dadurch zum einen die Sichtbarkeit erhöht wurde und zum anderen auch die Relevanz für das Thema hervorgehoben wurde”, erklärt Kathrin Egbringhoff, die Teil der Arbeitsgemeinschaft für geschlechtersensible Medizin in Bielefeld ist. Studierende lernen bereits in der Grundlagenforschung, welche Unterschiede durch die verschiedenen Geschlechter entstehen können.
Text, Titelbild, Grafiken: Lea Scheffler