Gewalt gegen Frauen

Liebe macht blind und Gewalt macht stumm

von | 14. Juni 2024

Die unerzählte Geschichte von häuslicher Gewalt in Partnerschaften

Der Tatort: Zuhause. Jede vierte Frau in Deutschland hat bereits Gewalt in ihrer Partnerschaft erlebt. Durch Social Media trauen sich Opfer nun zunehmend offener über ihre Erfahrungen zu sprechen. Dennoch sind die Fallzahlen so hoch wie nie

VON POLITIK BIS PODCAST – GEMEINSAM GEGEN GEWALT AN FRAUEN

Am 8. Februar 2024 erreichte die Europäische Union einen Meilenstein im Kampf gegen die Gewalt an Frauen. Mit der Verabschiedung einer neuen EU-Richtlinie haben die Mitgliedstaaten erstmals gemeinsame Regelungen und Mindeststandards zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen sowie häuslicher Gewalt eingeführt. Die Richtlinie umfasst strengere Vorschriften gegen Cybergewalt und sieht vor, dass Betroffene künftig bessere Unterstützung erhalten und gezielte Maßnahmen gegen Vergewaltigungen ergriffen werden. Parallel dazu sorgte ein anderer wichtiger Impuls für Aufmerksamkeit: Der SPIEGEL-Podcast „NDA: Die Akte Kasia Lenhardt“, dessen erste Folge am 15. März diesen Jahres veröffentlicht wurde, stößt seit seiner Veröffentlichung auf große Resonanz in den sozialen Medien.

Der Fall Kasia Lenhardt

Kasia Lenhardt war ein deutsch-polnisches Model, das durch ihre Teilnahme an „Germanys Next Topmodel“ 2012 bekannt wurde. Sie starb am 9. Februar 2021 im Alter von 25 Jahren, wobei ihr Tod als Suizid eingestuft wurde. Kasia war zuvor in einer öffentlichen Beziehung mit dem Fußballspieler Jérôme Boateng. Nach dem Ende dieser Partnerschaft, machten sich beide öffentlich gegenseitige Vorwürfe, was zu zahlreichen Hasskommentaren und intensivem Cybermobbing gegen Lenhardt führte. Der SPIEGEL untersuchte für den Podcast diverse Quellen und über 25 Stunden Sprachnachrichten. Journalistinnen fanden dabei Hinweise auf mögliche Gewalt in Kasia Lenhardts Beziehung, was Jérôme Boateng bis heute bestreitet. Kasia Lenhardt plante laut Chatnachrichten kurz vor ihrem Tod, Anzeige gegen Jérôme Boateng zu erstatten, doch dazu kam es nie. Die Diskussion um Kasia Lenhardts Tod kann als Fortschritt gesehen werden, da sie zur Sensibilisierung für häusliche Gewalt, Cybermobbing und psychische Gesundheit beiträgt. Diese Themen öffentlich zu diskutieren, könnte mögliche Veränderungen in der Gesellschaft und im Rechtssystem fördern.

 

Trotz dieser Fortschritte bleibt das Thema häusliche Gewalt weiterhin ein gravierendes Problem, das oft nicht ausreichend thematisiert wird. Häusliche Gewalt betrifft Tausende Frauen allein in Deutschland.

HÄUSLICHE GEWALT – EINE GEWALT MIT VIELEN GESICHTERN

Häusliche Gewalt in Partnerschaften umfasst alle Erscheinungsformen physischer, psychischer und sexueller Gewalt, die von Partnern oder Ex-Partnern gegen Frauen ausgeübt wird. Laut Bundesamt für Familie und Zivilrechtliche Aufgaben hat bereits jede vierte Frau im Alter von 16 bis 85 Jahren diese Form der Gewalt erlebt. Diese Art von Gewalt ist besonders belastend, da sie in einem vermeintlich sicheren Raum stattfindet – dem  eigenen Zuhause. Dabei können die Auswirkungen nicht nur körperlich, sondern auch emotional verheerend sein. Sie reichen vom blauen Fleck bis hin zu Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen. Meist beginnt der Prozess mit psychischer Gewalt. Aus verbalen Attacken entwickelt sich eine vollständige Kontrolle über den Partner.
Diese kann vor allem am Anfang einer Beziehung mit Aufmerksamkeit verwechselt werden.

DIE GEWALTSPIRALE

Häusliche Gewalt beginnt oft schleichend und eskaliert erst im Laufe der Zeit. Die sogenannte Gewaltspirale, nach Lenore Walker, kann verschiedene Stadien durchlaufen.
In der ersten Phase kommt es meistens zu kleineren gewalttätigen Zwischenfällen. Die Betroffenen spielen diese Vorfälle herunter, um die Spannung gering zu halten. Viele Opfer decken auch den Täter vor Familie und Freunden, oft aufgrund von Drohungen des Täters.
In der nächsten Phase erleben die Betroffenen akute Gewalt. Auslöser für den Gewaltakt ist häufig das Verhalten des Opfers oder andere äußere Ereignisse. Die Betroffenen sind besonders hilflos, da der Zeitpunkt der „Explosion“ allein vom Täter abhängt. Sie versuchen oft, ihre Verletzungen zu vertuschen, um weitere Misshandlungen zu vermeiden. Aber auch, damit Außenstehende nichts von den Taten mitbekommen.
In der letzten Phase bittet der Täter das Opfer meist um Verzeihung, zeigt Reue mit Versprechen wie: „Nie wieder!“, und verhält sich liebevoll. Die Opfer sind in dieser Phase besonders empfänglich für Zuwendung und hoffen, dass die Misshandlungen aufhören. Die Täter erinnern die Opfer daran, wie sehr sie diese brauchen, und drohen oft mit Selbstmord, wenn sie verlassen werden würden. Nach der Ruhephase beginnt oft eine neue Phase der Anspannung, die den Kreislauf der Gewalt erneut in Gang setzt.

Kreislauf der Gewalt, Grafik: Emma Walther

Dieser schädliche Zyklus kann schwer zu durchbrechen sein und führt oft zu langfristigen emotionalen und körperlichen Schäden bei den Betroffenen. Die Täter üben oft Kontrolle über ihre Opfer aus und isolieren sie von ihrem sozialen Umfeld. Meistens wenden die Täter nicht nur eine Form der Gewalt an, sondern mehrere parallel. Um den Kreislauf des Missbrauchs zu durchbrechen, müssen die Geschädigten zunächst seine Situation erkennen. Den meisten fällt dies jedoch äußerst schwer, da sie Existenzängste plagen und sie weiterhin auf eine Besserung hoffen. Die Gewalt in solchen Partnerschaften kann über Jahre hinweg anhalten und sich verschlimmern. 

PARTNERSCHAFTSGEWALT IN DEUTSCHLAND AUF REKORDHOCH

Das Bundeskriminalamt erstellt seit 2015 kriminalstatistische Auswertungen zur Partnerschaftsgewalt in Deutschland. Diese Berichte bieten einen Einblick in die Entwicklung der Zahlen von Gewalt in partnerschaftlichen Beziehungen. Sie erfassen alle strafrechtlichen Sachverhalte, die der Polizei bekannt sind, und bilden somit nur die Fälle ab, die tatsächlich zur Anzeige gekommen sind. Man geht davon aus, dass die Dunkelziffer jedoch deutlich höher ist.
In den letzten fünf Jahren ist die Anzahl der Opfer häuslicher Gewalt signifikant angestiegen und beläuft sich nun auf 256.276. Im Vergleich zum Jahr 2019 bedeutet dies eine Steigung von 19,5 Prozent. Im Jahr 2023 stiegen die Zahlen dabei auf ein neues Rekord hoch.
Christine Grundmann, psychosoziale Prozessbegleiterin, teilte bei einem Interview mit dem SWR ihre Vermutungen zu den gestiegenen Zahlen mit. Dabei wies sie besonders auf die vermehrten Fälle während des Corona-Lockdowns hin. Außerdem betonte sie, dass das Thema häusliche Gewalt aus der absoluten Tabuzone getreten sei. Zudem gibt es eine gewisse Tendenz zur Offenheit unter den Opfern. Dies führt dazu, dass Frauen sich eher trauen, über dieses Thema zu sprechen.
Die häufigsten Delikte, die innerhalb von partnerschaftlicher Gewalt zur Anzeige gebracht wurden, waren vor allem vorsätzliche einfache Körperverletzung, gefolgt von Bedrohung, Stalking und Nötigung.

Statistik Entwicklung der Opferzahlen bei Gewalt in Partnerschaften, Grafik: Emma Walther, Zahlen: Bundeslagebild Häusliche Gewalt 2023

TIKTOK BEWEGUNG SORGT FÜR MEHR OFFENHEIT

Die deutsche Musikerin Aylivah hat mit ihrem Song „Überlebt auf TikTok einen Nerv getroffen und eine Welle von Offenbarungen ausgelöst. In über 2.500 Beiträgen teilen Nutzerinnen ihre Erfahrungen mit toxischen Beziehungen und finden in Aylivahs emotionalen Power-Balladen, Trost und Verständnis.
Aylivah, bekannt für ihre kraftvollen und gefühlsgeladenen Lieder, schreibt hauptsächlich über ihre eigenen Erfahrungen mit toxischen Beziehungen. Ihre Musik spricht vielen Frauen aus der Seele, die ähnliches durchgemacht haben. Dadurch hat sie eine Vorbildfunktion und bietet ihren Fans eine Plattform, um über ihre Erlebnisse zu sprechen.
Unter den anonymen Aussagen auf TikTok findet sich beispielsweise eine Nutzerin, die schildert:

„Er hat mich nicht geschlagen, aber hat mich nach der Trennung jeden Tag anonym angerufen, Sachen kaputt gemacht und herumgeschrien, mich beleidigt,
mir verboten mit männlichen Personen befreundet zu sein, mir vorgeschrieben,
was ich anziehen darf, meine Freunde schlecht geredet und mir den Kontakt verboten.
Er meinte, ich habe all das verdient, was mir passiert ist“
anonyme Userin auf TikTok

 

Die Resonanz auf solche Erfahrungen ist enorm. Nutzerinnen drücken ihre Unterstützung aus und teilen ihre eigenen Geschichten in den Kommentaren.

„Wahnsinn, wie viele Leute das betrifft, wenn man sich damit befasst… bei mir ist es nun fast ein Jahr her
anonyme Userin auf TikTok

„Du bist eine unheimlich starke Frau! Du kannst so stolz auf dich sein und es ist wichtig, dass du auf das Thema aufmerksam machst“
anonyme Userin auf TikTok

 

Solche Aussagen spiegeln die Anteilnahme und Anerkennung der User wieder. Mit „Überlebt“ hat Aylivah eine Bewegung ins Leben gerufen, die Betroffenen eine Plattform bietet und ihnen zeigt, dass sie nicht allein sind.

BERATUNGSSTELLEN UND HILFSANGEBOTE FÜR BETROFFENE

Häusliche Gewalt ist eine ernsthafte Bedrohung, die ein Handeln erfordert.
Wer sich in einer akuten Notlage befindet, sollte unverzüglich die Polizei kontaktieren. Darüber hinaus ist es allgemein wichtig, sich Hilfe zu holen. Es gibt zahlreiche Unterstützungsmöglichkeiten. Das bundesweite Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ bietet an 365 Tagen im Jahr rund um die Uhr vertrauliche und kostenfreie Hilfe an. Frauenhäuser und Beratungsstellen können auch einen sicheren Aufenthaltsort bieten. Der Weg zur Hilfe ist für Opfer häuslicher Gewalt oft mit großer Überwindung verbunden. Deshalb könnte ein erster Schritt darin bestehen, sich an eine Vertrauensperson zu wenden. Das Teilen der Situation mit jemandem, dem man vertraut, kann helfen, das Schweigen zu brechen und den ersten Schritt in Richtung Hilfe zu machen.

Eine Liste weiterer Anlaufstellen finden Sie hier.

Text, Titelbild/Foto, Grafiken: Emma Walther
<h3>Emma Walther</h3>

Emma Walther

ist 23 Jahre alt und studiert derzeit im 5. Semester Medienmanagement an der Hochschule Mittweida. Bei medienMITTWEIDA engagiert sie sich als Teil des Social Media Teams.