Gleiches Recht

von | 6. November 2009

"Mann und Frau sind gleichberechtigt." So steht es zumindest in Artikel 7, Absatz 1 der DDR-Verfassung von 1949. Doch waren sie das wirklich? Woran misst sich Gleichberechtigung eigentlich?

Prof. Dr. Herta Kuhrig war von 1968 bis 1977 Leiterin der Forschungsgruppe „Die Frau in der sozialistischen Gesellschaft”. Ab 1981 übernahm sie den Vorsitz des gleichnamigen Wissenschaftlichen Rates bei der Akademie der Wissenschaften der DDR. Sie empfiehlt: „Bei der Frage: ‚Gab’s die Gleichberechtigung – Ja oder Nein?‘, muss man als erstes fragen: Was verstehen wir denn unter Gleichberechtigung?“ Die Bedeutung des Wortes liegt zunächst nahe: Gleiches Recht, in diesem Fall für Männer und Frauen. Artikel 7 setzt sich in einem zweiten Absatz fort: „Alle Gesetze und Bestimmungen, die der Gleichberechtigung der Frau entgegenstehen, sind aufgehoben.“ „Diese Regelung ist – soweit ich weiß – einmalig auf der Welt“, fährt die heute 79-Jährige fort. Denn während diskriminierende Gesetze in anderen Verfassungsordnungen zwar anfechtbar sind, aber durchaus existieren können, wären sie nach der DDR-Verfassung von 1949 von vornherein ungültig gewesen.

Es gibt viele Argumente in der Diskussion um die Gleichberechtigung, unterschiedliche Faktoren, nach denen bewertet wird. Ein Beispiel dafür ist die Arbeit der Frauen. In der Ideologie des Sozialismus mussten Mutterschaft und Berufstätigkeit vereinbar sein, um die Unabhängigkeit und Gleichberechtigung der Frau zu gewährleisten. Doch auch die wirtschaftliche Lage des Staates machte die hohe Beschäftigungsquote der Frauen erforderlich. Im Jahr 1989 lag die DDR mit über 91 Prozent erwerbstätiger oder in Ausbildung befindlicher Frauen an der Weltspitze. „Auf der anderen Seite hatte die DDR eine der höchsten Scheidungsraten weltweit. Meist haben Frauen den Scheidungsantrag gestellt“, gibt Kuhrig zu bedenken. Beide Zahlen sprechen für eine weitreichende Unabhängigkeit der Frau. „Sie zeigen, dass eine Frau, die nicht bereit war, ihre traditionelle Rolle zu spielen und viele Schwierigkeiten hatte, sich wirklich das Recht genommen hat, die Ehe zu beenden.“

Typische Geschlechterrollen

Frauen sollten das gleiche Recht haben, durch Arbeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen, wie Männer. „Die Ehe hatte aufgehört, eine Versorgungsinstitution zu sein“, meint die Diplomlehrerin für Marxismus/ Leninismus heute. Kritiker bemängeln an der Frauenpolitik der DDR vor allem, dass Frauen in eben diese typischen Geschlechterrollen gedrängt wurden. Trotz der hohen Beschäftigungszahlen besetzten Frauen beispielsweise selten Leitungspositionen oder arbeiteten teilweise unter ihrer Qualifikation. „Bei dieser Diskussion muss man auch ein bisschen vom Zeitverständnis ausgehen. Zum Beispiel gab es für höher qualifizierte Arbeiten oft keine entsprechende materielle Anerkennung.“ Somit blieb der Reiz einer Führungsposition für Frauen gering. Weiter berichtet Kuhrig, dass es durchaus Frauen gab, die sich höher qualifizieren wollten und auch gekonnt hätten – dies aber für ihre Männer nicht taten. „Es war für einige Männer zu damaligen Zeiten noch problematisch, wenn ihre Frauen nicht aufschauten, sondern ihnen gleichberechtigt in die Augen schauten oder sogar höher qualifiziert waren.“

Auch das Argument, Frauen hätten im Durchschnitt weniger verdient, muss genau untersucht werden. Wie auch heute noch arbeiteten Männer und Frauen teilweise in typischen Berufszweigen. Im Gesundheits- und Sozialwesen waren 85 Prozent der Beschäftigten Frauen, in den Bereichen Bildung und Kultur waren es 73 Prozent. Im Bergbau und in der Schwerindustrie dagegen arbeiteten vorwiegend Männer. „Dass diese Volkswirtschaftszweige tariflich unterschiedlich bewertet wurden, hat historische Ursachen. Das kann man in den Jahren 1945 bis 1990 nicht alles über den Haufen werfen“, begründet Kuhrig. So erklärt sich, dass die Löhne der Frauen oft niedriger waren. Gleiches Recht herrschte jedoch auch hier. Artikel 18 der DDR-Verfassung aus dem Jahr 1949 versicherte: „Mann und Frau, Erwachsener und Jugendlicher haben bei gleicher Arbeit das Recht auf gleichen Lohn.“

Ein Entwicklungsprozess

„Wenn heute bewertet und gesagt wird: ‚Den Frauen ging es schlecht‘ oder ‚Sie wurden diskriminiert‘, dann werden in der Regel solche Kennziffern oder Indikatoren genommen, die nichts mit Gleichberechtigung zu tun haben, sondern die weit darüber hinausgehen und die soziale Gleichheit anstreben“, schließt Kuhrig. Doch dass diese erreicht war, behaupteten Kuhrig und ihre Mitarbeiterinnen nie. „Genau das war ja unsere Aufgabe, unser Ziel für die Zukunft.“ Mit Hilfe der wissenschaftlichen Forschung überlegte die Frauen- und Familienpolitik, auf welchen Wegen sie Ziele, wie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder die Einbeziehung des Mannes in Kindererziehung und Haushalt erreichen konnte. Die Forschungsgruppe um Professor Kuhrig arbeitete beispielsweise direkt mit Kadern und Personalchefs in den Betrieben zusammen, um die Qualifizierungsmaßnahmen für Frauen weiterzuentwickeln. So konnten sich viele ungelernte oder angelernte Arbeiterinnen zum Facharbeiter weiterbilden.

Weit bekannter sind heute noch die Maßnahmen zur Familienförderung: Der stetige Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen, der 1952 eingeführte „Haushaltstag“, ein bezahltes Babyjahr mit Kündigungsschutz oder das zinslose Familiengründungsdarlehen sind nur einige Beispiele. Auch hier zeigt sich eine wichtige Entwicklung: Während der „Haushaltstag“ – ein bezahlter, arbeitsfreier Tag im Monat – zunächst nur für verheiratete Frauen mit Kindern genehmigt wurde, durften ab 1965 auch unverheiratete und ab 1977 sogar kinderlose Frauen diese Tag in Anspruch nehmen. Frauen, die in der Erwachsenenqualifizierung noch ein Studium absolvierten, bewirkten, dass auch Männer für sie den Haushaltstag nehmen konnten. Sehr spät schließlich überließ der Staat den Familien auch die Entscheidung, ob der Vater oder die Mutter das Babyjahr nehmen wollte.

Das Recht auf Selbstbestimmung

„Sehr wichtig ist für mich in dieser Diskussion auch die Frage nach der Entscheidung über die Geburt des Kindes. Das ist ein wichtiges Zeichen von Gleichberechtigung“, erklärt Herta Kuhrig. In der DDR waren Schwangerschaftsabbrüche bis 1972 verboten. „Es ist ein traditioneller Kampf um das Recht der Frau auf Selbstbestimmung über ihr Leben.“ Dabei betont sie ausdrücklich, dass sie nicht zum Schwangerschaftsabbruch auffordere. Es geht ihr unabhängig von moralischen Diskussionen zunächst nur um das Recht und die Möglichkeit, über den Schwangerschaftsabbruch selbst entscheiden zu können.

Letztendlich sei es wichtig zu verstehen, „dass diese Entwicklung der traditionellen Geschlechterrollen, der über Jahrtausende die Geschichte bestimmt hat, nicht in einem ganz kurzen Prozess – in den 40 Jahren, in denen die DDR bewertet wird – restlos zu beseitigen ist. Die Veränderung dauert lange und sie ist konfliktreich“, zieht Herta Kuhrig ihr Fazit. „Aber für diese kurze Zeit haben wir eine Menge erreicht.“ Natürlich seien Frauen – und ebenso Männer – an einigen Stellen benachteiligt gewesen, denn die soziale Gleichheit befand sich schon immer in einem Entwicklungsprozess. Die Frage aber, ob in der DDR gleiches Recht für Männer und Frauen galt, kann sicher mit „Ja“ beantwortet werden.

<h3>Jan Holubek</h3>

Jan Holubek