Handwerkerdienst für Holocaust-Überlebende

„Wir können noch immer helfen, Wunden zu heilen“

von | 13. September 2019

Wie deutsche Handwerker es schaffen, Menschen, die das Unvorstellbare durchlebten, zu berühren und ihr Leben schrittweise verändern.

Die Morgensonne in Jerusalem ist schon warm. Der Wind spielt mit den Vorhängen am offenen Fenster. Aus der Ferne ist der Straßenlärm zu hören. „Es war ein früher Morgen, da mussten wir uns alle auf dem Appellplatz versammeln. In einer Reihe standen wir. Ungefähr zehn Jungen in meinem Alter. Ich war damals sieben. Ein Offizier schritt an uns vorbei. Er ging auf und ab. Auf und ab. Seine kalten Augen musterten jeden Einzelnen. Er zog mich und vier andere Jungen aus der Reihe. Es sei für uns noch nicht die Zeit gekommen, um zu sterben. Wir Auserwählten haben so geweint. Denn wir dachten, nach Hause zu kommen und befreit zu sein. Wir waren doch Kinder. Was ich bis dahin durchgemacht hatte, war nichts im Gegensatz zu dem, was danach geschah. Wir kamen in eine Baracke mit Holzpritschen. Auf dem Boden, erinnere ich mich, lagen leere Glasflaschen.”

Der Jude Josef Aaron hält inne. Der 80-Jährige ist Holocaustüberlebender. Er überlebte das Konzentrationslager in Bergen-Belsen in Niedersachsen. Jetzt blickt er auf seine Gäste. Zwei Handwerker aus Chemnitz, Sachsen. Christen. Mit einem der beiden, Michael Sawitzki, ist er schon viele Jahre befreundet. Den anderen, Sven Rudolph, lernt er gerade erst kennen. „Wollt Ihr Kaffee?“, fragt Josef Aaron. Die beiden Männer aus Deutschland zögern. Fast mühsam blicken sie vom Boden auf. Langsam nicken beide. Fast so, als würden sie sich schämen.

Was heißt bloß Acrylfarbe auf Hebräisch?

„Irgendwo muss doch die Acrylfarbe sein. Verflixt, wenn man doch nur wüsste, was Acrylfarbe auf Hebräisch heißt?“ Ein Einkaufswagen und zwei Handwerker in einem Baumarkt in Jerusalem. Überfordert schieben sie ihren voll beladenen Wagen durch die Gänge und suchen verzweifelt nach den letzten Materialien, die sie für ihre heutige Baustelle benötigen. Darunter Wandfarbe, Silikon, Spachtelmasse. Und sie suchen einen Verkäufer. „Die sind hier genauso Mangelware wie bei uns“, scherzen sie. Der holzige Geruch verrät ihnen, dass sie sich wieder einmal im falschen Gang aufhalten. 

Die beiden Männer gehören zum Verein „Sächsische Israelfreunde e. V.“, der Handwerkerdienste in Israel anbietet. Das heißt, kein „All-inclusive-Urlaub“ am Pool und mit Cocktails, sondern arbeiten. Und zwar umsonst! Seit 15 Jahren reisen deutsche Handwerker nach Israel, um innerhalb von zwei Wochen Wohnungen von Holocaustüberlebenden zu renovieren. Alle Baumaterialien zahlen sie aus eigener Tasche. Sie opfern ihren Urlaub, ihre Freizeit – und sie machen das gern. Mit dem Wunsch, zu unterstützen, zu helfen, zu trösten. „Bei der allerersten Reise überwiegt meist Anspannung und Skepsis. Man versucht, keine zu große Erwartungshaltung aufzubauen und will erst einmal sehen, was passiert. Aber schon bei der Rückreise empfinden viele eine ganz gewisse Sehnsucht – nicht nur nach dem Land, sondern vor allem auch nach den Menschen“, so der Chef der Handwerker-Reisen, Michael Sawitzki.

Holocaustüberlebende können sich Reperaturen selten leisten

In der Küche knirscht eine Kaffeemühle. Josef Aaron mahlt den Kaffee noch selbst. „Er schmeckt dann frischer“, sagt er. „Wollt Ihr Milch und Zucker?“, ruft es aus der Küche. Keine Antwort. Sawitzki und Rudolph machen sich am Ende des Ganges zu schaffen. Das Schlafzimmer hat es besonders nötig. Es hat schon lange keine neue Farbe gesehen. Sven Rudolph schiebt die Möbel hin und her. Er wirkt angespannt, fast verärgert. Er kann die Geschichte von Josef Aaron schwer verdauen, dabei hat er noch nicht einmal alles erfahren.

Bevor die Wand heute vom Schimmel befreit werden kann, müssen gewisse Vorarbeiten erledigt werden. Michael Sawitzki macht Fotos von den Bildern an der Wand. Es sind viele. Damit sie nach dem Malern wieder an die richtige Stelle kommen, werden sie vorher fotografiert. „Es stecken viele Erinnerungen in den Bildern. Für Josef Aaron ist das wichtig. Für uns heißt das, vorsichtig und sensibel mit den Gegenständen umzugehen, die wir hier vorfinden“, so der erfahrene Handwerker Michael Sawitzki. Mit jedem Bild, was abgenommen wird, wirkt der Raum kühler und leerer. Aber es wird auch sichtbar, wo jahrelang nichts gemacht wurde: Steckdosengehäuse, Lampen, Türrahmen. „Es gibt Wohnungen, da schlägt man echt die Hände über dem Kopf zusammen und fragt sich, wie man so wohnen kann. Aber andere Wohnungen, wie diese, brauchen einfach nur dringende Reparaturen, die sich die Holocaustüberlebenden nicht leisten können“, erzählt Michael Sawitzki. Er rollt Folie über dem Boden aus. Korrekt und sauber, wie die Handwerker nun einmal sind, wird alles ordentlich abgeklebt und vorbereitet. Er stützt einen Arm auf sein angewinkeltes Knie und wippt mit dem Zollstock durch die Luft. Zum ersten Mal wird seine Stimme lauter. „Rund 200.000 Holocaustüberlebende gibt es noch in Israel. Ein Drittel davon leben am Existenzminimum. Viele, die Auschwitz oder Buchenwald überlebten, haben kein Geld für Zahnersatz oder neue Brillen. Geschweige denn Mittel, um ihre Wohnungen zu renovieren“, sagt der Handwerkerchef.

Die zittrigen Hände von Josef Aaron lassen das Kaffee-Geschirr auf dem Tablett klirren. Gerade kommt er ins Wohnzimmer zurück. Die Handwerker setzen sich zu ihm. Sie wirken etwas beschämt von seiner Gastfreundschaft. „Die Situation ist immer schwierig“, sagt Sven Rudolph. „Klar, wir kommen, um zu helfen, zuzuhören, zu trösten. Wir sind nicht die Generation, die die Schreckenstaten der Nazis zu verantworten haben, aber wir sind auch Deutsche. Und jeder von uns hat irgendwie Eltern oder Verwandte, die im Zweiten Weltkrieg Schuld auf sich geladen haben. Und sei es, dass sie nur weggesehen haben.“ Gerade als Josef Aaron mit seiner Geschichte fortfahren will, sind im Treppenhaus laute, aber fröhliche Stimmen zu hören. Es klingelt. Josef Aaron öffnet die Tür langsam. Mit voll bepackten Tüten aus dem Baumarkt treten die Handwerker herein und erzählen von ihrem Einkauf. „Wir haben alles gefunden, obwohl wir keine einzige Aufschrift lesen konnten. Sogar die richtige Farbe haben wir dabei“, und halten diese nach oben. Die Freude der Beiden ist zu spüren. 

„Dass ich noch leben darf, ist ein Wunder“

Ein wenig davon enttäuscht, kein Lob für den erfolgreichen Einkauf zu bekommen, setzen sich die eben eingetroffenen Handwerker, Mathias Krones und Ernst Günther, mit an den Tisch. Als sie in die Gesichter ihrer Kollegen schauen, wissen sie sofort, weshalb die Stimmung so betrübt ist. Beide werden ruhiger und hören aufmerksam zu. Josef Aaron starrt in den Raum. Niemand sagt etwas. Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, setzt er seine Geschichte fort. „Die Soldaten kamen am Abend in unsere Baracke und haben uns das Nachthemd vom Körper gerissen. Wir mussten uns auf den Bauch legen. Bis Ende des Krieges haben sie uns vergewaltigt. Tagtäglich. Geschlagen und vergewaltigt, geschlagen und vergewaltigt. Das ganze über dreieinhalb Jahre lang.“ Niemand sagt ein Wort. Eine bittere Stimmung macht sich breit. Er setzt fort, monoton. Die Nüchternheit in seiner Stimme macht alles noch viel schlimmer. „Zum Schluss wusste ich nicht mehr, wer ich überhaupt noch war“. 

Josef Aaron überlebte. Ein Wunder. Als die Briten im April 1945 das Lager Bergen-Belsen befreiten, fanden sie auch Kinder, in jener Baracke, welches zum Bordell umfunktioniert war. Nicht alle Kinder schafften es. Einige konnten in Deutschland von alliierten Ärzten behandelt werden. Josef Aarons innere Verletzungen waren so schwer, dass er zur speziellen Behandlung in die Schweiz musste. Da wog er elf Kilogramm. Er war zehn Jahre alt und bestand nur aus Haut und Knochen. „Die haben alle gesagt, dass ich es nicht schaffen werde und bald sterben würde.“ Er wurde vom Roten Kreuz zu einer Familie nach Basel gebracht, um dort ins Leben zurückzufinden. Dies erwies sich schwerer als gedacht, denn schon beim Hören von Stimmen im Flur, versteckte er sich unter seiner Bettdecke – er hatte schreckliche Angst vor Menschen. 

„Doch Gott ist groß und ich habe gekämpft für mein Leben, ich habe immer mehr zugenommen und heute sitze ich hier, zusammen mit euch.“ Ein leichtes Lächeln in seinem Gesicht strahlt Dankbarkeit aus. „Dass ich noch leben darf, ist ein Wunder“, sagt er. Die Handwerker sitzen wie versteinert auf ihren Plätzen. Ruhe. Sie atmen schwer. Keiner scheint in der Lage zu sein, etwas zu sagen. Sven Rudolph kann sich seine Tränen nicht verdrücken. Alle Blicke sind auf den Boden gerichtet. Michael Sawitzki kennt die Geschichte von Josef Aaron im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Er weiß, dass es Zeit braucht, die erzählten Dinge zu verarbeiten. Es ist schwer, etwas zu sagen. 

Wenn Worte heilen können, dann passiert es genau jetzt

Doch plötzlich löst Josef Aarons Stimme das Schweigen: „Aber jetzt liebe ich die Deutschen. Und als Michael das erste Mal bei mir war, da hat das sofort funktioniert. Es war sofort die Liebe zwischen uns da.“ Michael Sawitzki schenkt ihm ein Lächeln und nimmt ihn in den Arm. Wortlos. Sein Kollege Sven Rudolph blickt fast dankbar zu Josef Aaron rüber. Der sagt mit ganz viel Zuversicht in der Stimme: „Eure Generation hat nichts damit zu tun, was geschehen ist. Ihr Handwerker, die nach Israel kommt, ihr seid einfach ganz wunderbare Menschen.“ Langsam lockert sich die beklemmte Stimmung auf. 

Gerade springt Sven Rudolph auf. Er scheint froh zu sein, mit der Arbeit beginnen zu können. Die anderen Handwerker folgen ihm. Michael Sawitzki und Sven Rudolph beginnen schwarze Stellen hinter einem Schrank abzuspachteln, die vom Schimmel befallen sind. Sven Rudolph spachtelt hörbar laut. Sein Spachtel schreit fast, so wild kratzt er ihn über die Wand. Die anderen beiden Handwerker Mathias Krones und Ernst Günther machen sich an den Steckdosen und Lampen zu schaffen. Sven Rudolph rührt in der Spachtelmasse rum. Er wirkt nachdenklich. „Josef Aaron hat in Zeiten der Finsternis das Schlimmste erlebt. Und gerade deshalb ist es wichtig, ihm so viel Gutes wie möglich zu geben, damit er sein restliches Leben mit ein bisschen mehr Freude verbringen kann“, sagt er und erreicht endlich die richtige Konsistenz der Masse. Er dreht sich zu seinen Kollegen. Er schaut ihnen direkt in die Augen. „Wisst ihr“, sagt er voller Überzeugung, „genau deshalb bin ich hier. Helfen und trösten – das macht Sinn!“ Während die Handwerker beginnen, die ersten Wände in einem strahlend hellen Weiß zu streichen, schaut der Holocaust-Überlebende Aaron ihnen zu. Er scheint fasziniert von seinem Glück zu sein. „Diese Menschen kommen einfach und fragen nicht viel nach, sie machen einfach“, murmelt er vor sich hin. Eine der Wände bekommt nun eine leicht gelbliche Farbe, damit der Raum danach wärmer wirkt. „Wir lieben es, bei Menschen wie Josef Aaron renovieren zu können. Denn gerade sie leben in Verhältnissen, in denen sie sich selbst nicht helfen können“, sagt Mathias Krones.

Der warme Wind trocknet die frische Farbe schnell. Nun schieben alle Handwerker die Möbel an ihren alten Platz zurück. Auch die Bilder hängen wieder. Josef Aaron läuft stolz durch seine Wohnung, als sehe er sie zum ersten Mal. „Heute sieht es aus wie in einer Villa hier“, die Handwerker müssen lachen. Vier Männer haben an einem Tag einen alten Mann sehr glücklich gemacht. Und sich selbst auch. Sie packen ihren Kram zusammen, als Josef Aaron schleifend eine Leiter hinter sich herzieht und im Flur erscheint. „Das Bild würde ich gern selber aufhängen“, sagt er bestimmend.

Es ist ein schwarz-weißes Foto in einem altmodischen Rahmen. Josef Aaron dreht sich zu den Handwerkern um. „Das ist meine Mutter“, sagt er. „Sie wurde in Auschwitz vergast. Von Deutschen. In einem deutschen Konzentrationslager. Und heute? Sie soll sehen, wer meine Wohnung so wunderschön gemacht hat. Sie soll sehen, dass es mir gut geht.“ Die Männer drehen sich weg. Tränen kullern über deren Gesichter auf den Boden. Wortkarg drücken sie Josef Aaron die Hand. Er nimmt sie in den Arm und sagt: „Ich bin traurig, dass ihr gehen müsst. Ihr habt Leben in meine Wohnung gebracht. Und das hat mir gut getan!“ Der Handwerkerchef umarmt ihn zum Schluss noch einmal. „Und vergesst mich nicht, sondern kommt mich besuchen. Die Türen stehen immer für euch offen“, flüstert Josef in Michael Sawitzkis Ohr und küsst ihn auf die Wange.

Text und Titelbild: Miriam Sawitzki

<h3>Julia Scholl</h3>

Julia Scholl

ist 22 Jahre alt und studiert im 5.Semester Medienmanagement an der Hochschule Mittweida. Sie arbeitetet als Redakteurin bei medienMITTWEIDA. Parallel zum Studium absolviert sie ein Volontariat und arbeitet beim Social-Media-Nachrichtenportal Light up News.