Hochsensibilität

„Stell dich nicht so an“

von | 7. Juni 2024

Menschen mit Hochsensibilität nehmen die Welt ungefiltert wahr. Das kann bereichernd sein, aber auch zu vielen Einschränkungen führen. Ein Gespräch mit Ella*.

Hochsensible Menschen haben eine besondere Art der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung. Sie reagieren empfindlicher auf sensorische Reize, wodurch ihr Gehirn mit Eindrücken überflutet und überstimuliert wird. 

In welchen Situationen fühlst du dich besonders überwältigt durch Sinnesreize?

In Situationen, in denen ziemlich viel um mich herum passiert – wenn viele Menschen da sind und ich nicht genau weiß, wohin mit mir. Wie beim Sportfest in der Schule, bei dem man selbst im Mittelpunkt steht. Man bekommt mit, wie alle einen anschauen. Es sind Reize, die man eigentlich ausblenden würde. Wenn man aber alles mitbekommt, kann man sich ganz schlecht auf das konzentrieren, was man eigentlich machen soll.

Wie hat sich deine Hochsensibilität erstmals bemerkbar gemacht?

Das erste Mal habe ich davon erfahren, als mir meine Mutter das Buch „zart besaitet“ gegeben hat. Beim Lesen habe ich mich total verstanden gefühlt. Oft habe ich meinen Eltern von Situationen aus der Schule erzählt, in denen ich mich nicht wohlgefühlt habe. Wenn jemand in der Klasse gelacht hat, habe ich immer gedacht, die würden über mich lachen. Ich habe meine Umgebung so stark wahrgenommen. Da ich viele der Reize nicht einordnen konnte, war ich oft unsicher und verängstigt.

Es gab auch mal so eine Situation mit meinen Eltern: Wir saßen in der Stadt und weiter weg sind die ganze Zeit Straßenbahnen an uns vorbeigefahren. Hinterher habe ich sie gefragt, ob sie die auch gehört haben. Meine Eltern haben nicht einmal mitbekommen, dass irgendwas vorbeigefahren ist. Ich hingegen habe es jedes einzelne Mal bemerkt.

Gibt es Trigger oder Faktoren, die deine Anfälligkeit für Reizüberflutung beeinflussen?

Auf jeden Fall laute Geräusche – im Club feiern gehen, würde zum Beispiel nicht funktionieren. Auch unangenehme Gerüche oder Schmutz auf meiner Haut, wie Schweiß oder Ähnliches. Genauso ist es auch mit Blicken fremder Menschen oder ungewollte Berührungen in einer vollen Bahn. Dabei prasseln tausende Reize auf mich ein. 

Ich würde sagen, wenn ich müde bin, nehme ich allgemein weniger Reize wahr. Es ist so, als würde ich von der Umwelt abgeschottet werden, aber nicht im positiven Sinne. Ich bekomme weniger mit. Negative,  als auch positive Reize werden herausgefiltert. Unter Stress bin ich hingegen viel anfälliger für eine Reizüberflutung. Ich empfinde alles als noch viel schlimmer und kann schlechter damit umgehen. In Situationen, in denen ich unsicher bin, reagiere ich sehr auf Trigger. Ich verschließe mich automatisch, wenn ich dem Moment nicht entfliehen kann. Es ist ein Mechanismus, den ich nicht beeinflussen kann. Meine Gedanken werden dann so laut, dass alles andere abschwächt.

Hast du manchmal das Gefühl von deinen Mitmenschen nicht ernst genommen zu werden in Momenten, in denen du reizüberflutet bist?

Ein normaler Mensch versteht ja nicht, warum ich in manchen Momenten überfordert bin. Wenn Dinge um mich geschehen und dann noch überall Menschen neben mir reden, kann das wirklich ziemlich viel für mich werden. Leute, die das nicht so wahrnehmen, haben überhaupt kein Gefühl dafür und häufig dann auch kein Verständnis. Oft heißt es dann „reißt dich mal zusammen“ oder „stellt dich nicht so an“. Bei meinen Eltern ist es so, dass sie oft falsche Erwartungen an mich haben. Immer wieder sind sie überrascht, dass ich alles anders wahrnehme.

Du hast das Titelbild dieses Beitrags gestaltet. Was möchtest du damit ausdrücken?

Das Titelbild besteht aus zwei Bildern, die zusammengehören. Es sind zwei Seiten derselben Medaille. Es spiegelt die Reizüberflutung auf der einen Seite und die Details, die man wahrnimmt, auf der anderen Seite wider.

Würdest du sagen, du erlebst Kunst intensiver als andere?

Ob ich Kunst anders erlebe, weiß ich jetzt nicht. Aber auf jeden Fall hat es einen Einfluss darauf, wie ich meine eigene Kunst erschaffe. Als Künstlerin kann es eben auch von Nutzen sein, hochsensibel zu sein. Mir fallen in meiner Umgebung oft Dinge auf, die andere gar nicht wahrnehmen würden, die ich dann in meine eigenen Werke einbringen kann. Ich schaue mir immer alles ganz genau an und analysiere jedes Detail in meinem Kopf. 

Obwohl ich sehr gerne zeichne, würde ich es nicht zu den Aktivitäten zählen, die mich entspannen. Es fordert sehr viel Konzentration und ist damit eher anstrengend für mich. Simple Dinge, wie mit meinen Katzen zu spielen oder zu lesen, helfen mir da eher runterzukommen. 

Hochsensibilität ist aber nicht immer nur eine Belastung. Das stand auch in dem Buch “zart besaitet“: In der Savanne ist es von Vorteil, das Raubtier eher wahrzunehmen. Während die ganzen anderen Tiere der Herde noch schlafen, bekommt ein hochsensibles Tier eher mit, wenn sich eine Gefahr nähert. So ist es auch bei mir. Dadurch, dass ich wirklich alles um mich herum mitkriege, kann ich „Gefahrensituationen“ eher wahrnehmen als andere, da sie diese Reize eher rausfiltern würden. Es ist wie ein Schutzschild.

Welche Strategien helfen dir im Alltag, mit deiner Reizüberflutung umzugehen?

Jemanden zu haben, an den ich mich halten kann. Der mich auch mitzieht, falls irgendetwas sein sollte. Es hilft mir auch, aus Situationen rauszugehen und ein paar Minuten einfach durchzuatmen. Versuchen, die Reize so gut wie möglich zu minimieren.

Oft überdenke ich auch zu sehr meine Entscheidungen. Ich versuche aber lockerer an solche Situationen ranzugehen und mir zu erlauben, mal falsche Entscheidungen zu treffen. Was dabei auch ganz wichtig ist, ist, dass ich mir Bestätigung von anderen einhole, bevor ich Ewigkeiten grüble und mich damit selbst verunsichere.

Siehst du deine Hochsensibilität als Bereicherung oder Herausforderung?

Für mich ist es eher eine Belastung, da es anstrengend ist, ständig mit den ganzen Reizen konfrontiert zu werden. Einige Dinge sind für mich unmöglich, weil ich mich ihnen einfach nicht stellen kann. Ich meide unbekannte Situationen. Es sind auch so Sachen, von denen ich höre, dass andere sie richtig mögen, wie feiern gehen oder reisen. Ich denke mir manchmal, wenn ich nicht hochsensibel wäre, könnte ich auch mehr machen. Es geht aber leider nicht.

Wie können dich Andere am besten unterstützen?

Für Fremde ist es eher unmöglich, da sie ja nicht wissen können, dass man hochsensibel ist. Menschen in meinem engeren Umfeld helfen, indem sie respektvoll reagieren, wenn ich ihnen erkläre, dass ich hochsensibel bin. Sie sollten Verständnis zeigen, wenn ich mal aus einer Situation raus muss. Auch wenn man merkt, dass ich mich in einem Moment unwohl fühle. Mir hilft es sehr, wenn man mich ablenkt und meine Aufmerksamkeit nicht mehr auf den ganzen Reizen ist. Die Gesellschaft soll einfach sensibler mit Menschen wie mir umgehen und es muss mehr Aufklärung über das Thema geben.

Was ist deiner Meinung nach das Wichtigste, was man über Hochsensibilität wissen sollte? 

Das keiner es sich ausgesucht hat. Man hat nicht die Wahl, ob man hochsensibel ist und auf bestimmte Reize reagiert oder nicht. Sondern es ist etwas, dass Betroffene einfach haben und ertragen müssen. Die, die es haben, stört es ja am Ende am meisten. Man sollte nicht davon ausgehen, dass jemand freiwillig sagt, dass er hochsensibel ist – um Drama zu machen oder um sich besonderes darzustellen. Es ist einfach etwas, wofür man nichts kann und das nicht wirklich beeinflussbar ist.

* Name geändert
Text: Vanessa Jahn, Foto: Ella 
<h3>Vanessa Jahn</h3>

Vanessa Jahn

ist 22 Jahre alt und studiert derzeit im 4. Semester Medienmanagement an der Hochschule Mittweida. Bei medienMITTWEIDA engagiert sie sich als Chefredakteurin seit dem Sommersemester 2024.