Interview

„Man ist komplett der Gewalt ausgesetzt.“

von | 13. Dezember 2024

Frauen werden geschlagen und erniedrigt. Wo liegt die Grenze zwischen Brauchtum und Machtmissbrauch? Ein Interview mit einer Borkumerin über „Klaasohm”.

Obwohl Leonie* nicht mehr auf Borkum lebt, setzt sie sich aktiv gegen Gewalt während des „Klaasohms“ ein. In den sozialen Medien klärt sie über die Traditionen und problematische Aspekte des Festes auf. Im Gespräch mit medienMITTWEIDA spricht sie über die Abläufe von „Klaasohm“, über die Rolle von Kindern, Gewalt gegen Frauen und über die Bedeutung der Kritik für die Zukunft der Insel.

„Klaasohm"

In der Nacht vom 5. auf den 6. Dezember findet auf Borkum, einer ostfriesischen Insel mit rund 5000 Einwohnern, das traditionelle „Klaasohm-Fest“ statt. Organisiert wird es seit 1830 von dem Verein „Borkumer Jungens e.V.“. Vor der Dokumentation des NDR wird öffentlich kaum über die kritischen Aspekte der Tradition gesprochen. Der Verein habe die Bewohner der Insel zur Verschwiegenheit aufgefordert. Im 18. Jahrhundert war Borkum ein zentraler Standort für den Walfang. Der „Klaasohm“ soll an diese Zeit erinnern und bildet den feierlichen Abschluss jeder Saison.

Im Rahmen des Brauchtums verkleideten sich sechs junge, unverheiratete Vereinsmitglieder als sogenannte „Klaasohms“. Sinngemäß bedeutet das niederländische Wort „Onkel Nikolaus“. Ihr Kostüm besteht traditionell aus Masken, Schafsfellen und Vogelfedern. Die Gruppe begleitet eine als „Wievke“ bezeichnete Person, einen Mann in Frauenkleidern. Wer eine der Rollen übernehmen darf, wird erst kurz vorher bekanntgegeben. Mit einem Ringkampf zwischen den ausgewählten Männern wird entschieden, wer die Führung erhält. Zuschauen dürfen bei diesem Kampf nur männliche Borkumer. Anschließend beginnt der traditionelle Umzug über die Insel, bei dem die Gruppe sich nicht über den Weg laufen darf. Dabei besuchen sie verschiedene Orte wie Wirtshäuser, Altenheime und Krankenhäuser. Begleitet werden sie von sogenannten „Fängern“, die im Rahmen des Brauchs versuchen, Frauen zu finden und festzuhalten. Diese bekommen mit Kühhörnen Schläge auf ihr Gesäß, während die „Klaasohms“ von Zuschauenden angefeuert werden. Im Anschluss erhält die Frau als kleines Geschenk „Moppe“, ein traditionelles Lebkuchengebäck. Als Höhepunkt wird das Fest auf dem „D“, einem Platz in der Ortsmitte, beendet. Von einer ein meterhohen Säule aus Ziegelsteinen springen dort die „Klaasohms“ und der „Wievke“ in die Menschenmenge.

Hast du als Jugendliche an „Klaasohm“ teilgenommen?

Ja, einmal auf jeden Fall, vielleicht auch zweimal. Meistens waren meine Mutter und ich nur dabei, wenn die „Klaasohms“ abgeholt wurden, also wenn der Umzug losging, oder am Ende am „D“, wo sie in die Menge springen. Dementsprechend weiß ich, was da passiert und wie es dort abläuft. 

Ansonsten habe ich „Kinderklaasohm“, wie auch jedes andere Mädchen miterlebt. Also diese zwei Wochen vorher, vom Totensonntag bis zum 5. Dezember, wo die Jungen immer nach der Schule durch die Straßen ziehen, bis es dunkel wird. Das habe ich auch „ganz normal“ miterlebt. 

Wie läuft der „Kinderklaasohm“ ab und wie unterscheidet er sich vom traditionellen Fest am 5. Dezember?

Die Kinder werden schon als Säuglinge zum Klaasohm“ mitgebracht. Für einige Frauen stellt die Anwesenheit ihrer Kinder einen gewissen Schutz dar. Dennoch ist es schon vorgekommen, dass ein „Klaasohm“ das Kind beiseitegenommen hat und der andere die Frau gepackt hat. Man bekommt alles von klein auf mit und wächst mit den Traditionen auf. Natürlich ist es auch irgendwie aufregend, weil man länger aufbleiben darf, es Süßes gibt und man mit anderen Kindern spielen kann. So wird der Brauch von Anfang an normalisiert. 

Im Grundschulalter laufen die Jungen verkleidet durch Borkum und feiern den „Kinderklaasohm“. Der Unterschied zum „Erwachsenen-Klaasohm“ ist, dass es keine festgelegte Route gibt und das Ganze völlig unbeaufsichtigt abläuft. Auch hier gibt es keine Konsequenzen. Ich habe zwar gehört, dass es von den Schulen eingeschränkt wurde, aber was außerhalb passiert, kontrolliert trotzdem keiner. Dementsprechend kann ich da auch von einer Mutter erzählen, mit der ich in Kontakt stehe, deren Tochter jetzt das Gleiche durchmacht und auch geschlagen wurde. Die Jungs basteln ihre Kostüme oft gemeinsam mit ihren Eltern, sind dann aber bis zum Abend allein unterwegs. Was da genau alles passiert, wissen die Eltern auch nicht. 

Als Mädchen wusste man nie, wo sich die Jungs aufhalten und wann man ihnen über den Weg laufen könnte. Diese Unsicherheit schränkte die eigene Bewegungsfreiheit ein. Es war frustrierend, nicht einfach zu einer Freundin oder einkaufen gehen zu können, ohne sich vorher Gedanken machen zu müssen. Natürlich hat man als Frau auch Respekt vor dem „Erwachsenen-Klaasohms“, aber als Mädchen ist man da wirklich aufgeschmissen.

Wie hat sich dein Verhältnis zu dem Fest im Laufe der Jahre verändert?

Dass ich irgendwann nicht mehr mitgelaufen bin, liegt an mehreren Faktoren. Einerseits, weil ich weggezogen bin und dann Abstand zu allem hatte. Zum Teil lag es auch daran, dass dieses Fest unter der Woche gefeiert wird und man sich überlegt hat: „Okay, lohnt es sich jetzt dafür Urlaub zu nehmen und auf die Insel zu fahren?“ Es hat sich so mit der Zeit entwickelt und mir ist das dann auch zu blöd, da in der Kälte zu stehen und dann das ganze Gekloppe. Wenn man diesen räumlichen Abstand dazu hat und Meinungen von Menschen von außerhalb bekommt, hinterfragt man das alles mehr und mehr. Auf Borkum selbst wird der Brauch nicht in Frage gestellt. Ich finde, man kann das Fest anders feiern, so wie man es auch in diesem Jahr gesehen hat. Dafür braucht es keine Gewalt. 

Ich selbst wurde zum Glück noch nie gefangen oder geschlagen. Wahrscheinlich, weil ich immer Glück hatte, mich gut versteckt habe oder schnell genug war. Aber ich habe Freunde, denen es leider anders ergangen ist. Die haben dann schon mal was abbekommen. Seit ich Videos auf TikTok über „Klaasohm“ mache, bekomme ich auch ganz viele Nachrichten von anderen Frauen, die mir ihre Geschichte erzählen und die Gewalt bestätigen. 

Wie kam es dazu, dass du  „Klaasohm“ auf deinem TikTok-Account thematisiert hast und wie wurde darauf reagiert?

Die Idee, auf TikTok über Klaasohm“ zu sprechen, hatte ich schon Ende Oktober. Da wusste ich noch lange nicht, dass es eine Dokumentation geben wird. Als dann die ersten TikToks zu „Klaasohm“ kamen, habe ich spontan mein erstes Video dazu aufgenommen und hochgeladen. Das fand nicht jeder auf Borkum gut. Jemand in meinem Alter hat mir vorgeworfen, ich würde den Frauen den Konsens absprechen, dass sie das ja alle wollen würden. Keine Frau wird vorher aktiv gefragt, ob sie geschlagen werden möchte. Selbst wenn sie sich wehrt, wird es getan. Mit Konsens hat das nichts zu tun. Ich habe auch Nachrichten bekommen, in denen ich massiv beleidigt und bedroht wurde. Einige Leute waren der Meinung, ich sei schuld daran, dass Borkum jetzt schlecht dasteht. Somit waren die letzten Tage sehr anstrengend für mich und ein absolutes Auf und Ab.

Kennst du Fälle von schwerer Gewalt im Zusammenhang mit dem Brauch?

Ich kenne zwei Vorfälle, die vom Zeitsprung her sehr unterschiedlich sind, aber beide mit dem „Aufspannen“ zu tun haben. Wenn die Fänger einen gefangen haben, wird auf den „Klaasohm“ gewartet. Wenn man sich dann wehrt, wird man aufgespannt. Das bedeutet, dass man mit seinem ganzen Körper in der Luft hängt – wie ein Seestern – weil man an den Armen und Beinen festgehalten wird. Und dann wird man gekloppt. Das finde ich immer besonders heftig, weil man komplett der Gewalt ausgesetzt ist und gar keine Chance mehr hat sich zu befreien. Man hängt einfach da, komplett wehrlos und hilflos.

Von einer Bekannten habe ich gehört, dass sie aus der Ferne gesehen hat, wie eine Frau aufgespannt wurde. Es wurde immer wieder auf sie eingeschlagen und es hörte auch nicht mehr auf. Nachdem sie das gesehen hat, ist auch sie nie wieder zum „Klaasohm“ mitgegangen. Das war für sie ein prägender Moment. Die Behauptung, dass das Aufspannen schon seit Jahren nicht mehr stattfindet, ist auch einfach falsch. 

2018 wurde ein Mädchen im Haus von Freunden aufgespannt. Die „Klaasohms“ ziehen auf ihrem Weg von Haus zu Haus, durch Restaurants, Bäckereien, Hotels. Als die Jungs hereinkamen, saß sie im Wohnzimmer. Sie schrie laut, weinte und wehrte sich. Das wurde nicht akzeptiert, also wurde sie aufgespannt und geschlagen. Ein kleiner Junge sah alles und fing an zu schreien und zu weinen. Seine Mutter meinte nur zu ihm: „Stell dich nicht so an, das ist normal.“ Nach dem Verkloppen kriegt man noch „Moppe“, ein Lebkuchengebäck. Das Mädchen hat dem Jungen das Gebäck gegeben, ihn kurz getröstet und ist dann weinend nach Hause gelaufen. Das Aufspannen, Schlagen und dann das Stehenlassen mit der „Moppe“ ist auch ein Moment der Scham. Seitdem ist sie auch nie wieder hingegangen.

Die Dokumentation des NDR über „Klaasohm“ hat eine breite Diskussion ausgelöst. Hast du sie angeschaut und welche Meinung hast du zu den Vorwürfen gegen das Fest und den Brauch der Frauenjagd?

Ich war ganz verblüfft, als behauptet wurde, dass es sich in den letzten Jahren nur um Ausnahmefälle handeln würde, was so nicht stimmt. Das ist der normale Standard, dass es an „Klaasohm“ nicht lange dauert, bis die ersten Frauen verkloppt werden. Insofern ist es in meinen Augen eine Untertreibung, zu sagen, das wären nur Ausnahmen.

Die Kritik an der Gewalt ist vollkommen gerechtfertigt und muss auch verurteilt werden. Dass viele Menschen jetzt fordern, „Klaasohm“ komplett abzuschaffen, halte ich aber für Unsinn. Damit würde man mit den Borkumer*innen niemals auf einen Nenner kommen. Ich muss auch sagen, dass die Insel durch die Diskussion als Urlaubsort in Verruf kommt. Borkum ist auf den Tourismus angewiesen und sinkende Buchungszahlen hätten wirtschaftliche Folgen. Borkum muss die berechtigte Kritik ernst nehmen und aktiv an seinem Image arbeiten. Das ist in meinen Augen dieses Jahr gut gelungen. Es war schön zu sehen, dass es darüber auch positive Berichterstattung gab. Ich hoffe, dass die positive Entwicklung genauso weitererzählt wird und dieselbe Aufmerksamkeit findet wie das Negative.

Inwiefern hat die öffentliche Kritik den Bezug zum Brauch auf Borkum verändert? Siehst du eine dauerhafte Abwandlung des Festes?

Der mediale Druck hat sicherlich dazu geführt, dass der bisherige Brauch abgeschafft werden soll. Ob sich langfristig etwas ändern wird, bleibt abzuwarten. Zuvor gab es auch nie Polizei oder andere Sicherheitsmaßnahmen am „Klaasohm“. Die große Polizeipräsenz in diesem Jahr war ein deutliches Zeichen für den Willen zur Veränderung. Wie es in Zukunft aussehen wird, hängt davon ab, wen man fragt. Der Vorstand verspricht eine dauerhafte Abschaffung, während einige Borkumer*innen Sprüche klopfen wie: „Nächstes Jahr wird alles wieder normal.” Von Bekannten habe ich erfahren, dass die Stimmung dieses Jahr sehr ausgelassen gewesen sei und friedlich gefeiert wurde. Das zeigt, dass es funktioniert und dass eine nachhaltige Veränderung durchaus denkbar ist. Für viele Frauen war das auch eine absolute Befreiung. 

 

* Name geändert

Text: Vanessa Jahn, Titelbild: pixabay

<h3>Vanessa Jahn</h3>

Vanessa Jahn

ist 23 Jahre alt und studiert derzeit im 5. Semester Medienmanagement an der Hochschule Mittweida. Bei medienMITTWEIDA engagiert sie sich als Chefredakteurin seit dem Sommersemester 2024.