Der Frühling 2023 geht gerade los, schon wird wieder von Wasserknappheit in Südeuropa berichtet. Aus den USA macht sich gleichzeitig die Neuigkeit breit, dass ein klimaschädliches Vorhaben mit dem Namen „Willow Projekt“, durchgeführt vom Unternehmen ConocoPhillips, genehmigt wurde – über fünf Millionen Menschen haben bis Ende März eine Petition dagegen unterzeichnet. Wo stehen wir aktuell in der Klimakrise? Wie viel Zeit bleibt uns und was müssen wir tun, um den Klimawandel zu stoppen?
medienMITTWEIDA hat den Physiker Dr. Christoph Gerhards von Scientists For Future Leipzig für ein Interview getroffen. Neben seiner ehrenamtlichen Tätigkeit als Aktivist ist er in einem Ingenieurbüro tätig, in dem er Photovoltaik- und Windkraftanlagen plant und Unternehmen zu Energieeffizienz berät. Außerdem arbeitet er an einem Forschungsprojekt zu Negativemissionen in Kooperation mit der Lappeenranta University of Technology, Finnland. Dr. Gerhards gehörte zu den Erstunterzeichnern der Stellungnahme von Scientists For Future im Jahr 2019.
Initiale Stellungnahme von Scientists For Future
Im März 2019 unterschrieben über 26.800 Wissenschaftler*innen eine Stellungnahme, die gleichzeitig den Startpunkt der Initiative Scientists For Future bildete. In dem Dokument wurden die Anliegen der Demonstrationen von Fridays For Future als berechtigt eingestuft. So heißt es zum Beispiel: „Die enorme Mobilisierung der neuen Bewegungen (…) zeigt, dass die jungen Menschen die Situation verstanden haben. Ihre Forderung nach schnellem und konsequentem Handeln können wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nur nachdrücklich unterstreichen.“
medienMITTWEIDA: Worum geht es beim „Willow Projekt“?
Dr. Gerhards: Bei dem Willow Projekt geht es um eine Ölförderung in Alaska. Nach Presseberichten sollen dort in den nächsten 30 Jahren rund 95 Milliarden Liter Öl gefördert werden. Das ist absolut nicht kompatibel mit irgendwelchen Vorhaben zur Klimaneutralität und der Einhaltung vom CO₂-Budget.
Das Brisante war auch, dass Präsident Biden bei seiner Wahl angekündigt hat, dass er keine neuen Vorhaben unterstützen würde. Hier ist jetzt das politisch Schwierige, dass die Genehmigung eigentlich schon vorher vorlag und es jetzt mehr darum geht: Inwiefern kann man diese Zusage jetzt noch widerrufen? Und deshalb hat man sich da, so ähnlich wie hier bei Braunkohle in Deutschland, auf einen Deal geeinigt: Wir (die Bundesregierung, Anm. d. Autorin) sagen, das ist in Ordnung, aber ihr macht nicht ganz so viel, wie ihr ursprünglich vorhattet. Aber auch das, was jetzt noch geplant ist, ist natürlich viel zu viel und deshalb gibt es berechtigterweise in der Zivilgesellschaft ein bisschen Widerstand.
Welche konkreten negativen Auswirkungen hat das Projekt vor Ort in Alaska?
Es ist schwer, für ein Projekt, das noch nicht da ist, zu sagen: Diese oder jene negativen Auswirkungen gibt es. Aber allgemein kann man sagen, es gibt drei Bereiche. Das ist zum einen die Ölförderung an sich. Öl ist giftig, schon eine geringe Menge. Ein Tropfen Öl verseucht ungefähr 500 bis 1.000 Liter Wasser.
Dann ist es der gesamte Bau der Infrastruktur, der natürlich Einfluss auf den Lebensraum dort hat. Und zum Schluss ist es die Verbrennung von Öl und die damit einhergehenden CO₂-Emissionen. Hier kommt noch die politische Dimension hinzu. Also dadurch, dass man sagt, wir machen das weiter, wird die weltweite Ambition, dass wir einfach rausmüssen aus den fossilen Brennstoffen, etwas gehemmt. Und da war auch der Weltklimarat sehr klar in seinem letzten Bericht, wo gesagt wurde: Allein mit den jetzt schon bestehenden fossilen Rohstoffquellen, wenn diese Projekte alle so fortgeführt werden, wie sie geplant sind, überschreiten wir das 1,5-Grad-Budget deutlich. Deshalb dürfen wir einfach keine neuen mehr machen.
Es ist auch wirtschaftlich nicht vernünftig, weil diese Projekte eben nicht bis zum Ende laufen dürfen. Wenn wir unsere Lebensgrundlage erhalten wollen, dann müssen wir uns dazu durchringen, die Betriebserlaubnis zu entziehen oder eben eine Steuer oder Ähnliches zu erheben, was einfach diese Förderung so unattraktiv macht. Und dann wird’s natürlich kompliziert, inwiefern man Entschädigungszahlungen unter Umständen leisten und sich mit so großen Lobbyorganisationen anlegen muss. Da sind Regierungen meistens zurückhaltend.
Gibt es vor Ort auch Vorteile?
Natürlich kommen da immer die Arbeitsplätze ins Spiel. Letztendlich ist es ein kurzfristiger Vorteil, den vor Ort arbeitende Menschen und auch der Konzern haben. Aber das ist natürlich hochproblematisch, wenn wir kurzfristige Vorteile höher priorisieren als langfristige Nachteile.
Ist das dort geförderte Öl für die Energieversorgungssicherheit in Deutschland relevant?
Ich würde es so formulieren, dass wenn wir uns auf einem 1,5-Grad-Pfad bewegen wollen, dieses Öl nicht relevant ist. Wenn wir weiter so machen wollen wie bisher, noch größere und noch mehr Autos fahren wollen, dann mag es sein, dass diese Fördermengen auf Deutschland einen geringen Einfluss hätten. Aber da wir uns auch völkerrechtlich bindend zum Pariser Klimaschutzabkommen verpflichtet haben, kann man eher sagen: Es ist nicht relevant.
Sind wir in Deutschland von den negativen Auswirkungen des Willow Projektes betroffen?
Kurzfristig eher nicht. Wenn lokal Wasser verseucht wird, das kommt hier nicht an. Langfristig ist die Klimakrise etwas, was uns in Deutschland auch heute schon betrifft. Man kann in der sogenannten Attributionsforschung einen Zusammenhang herstellen, wie wahrscheinlich ein Klimaereignis unter Berücksichtigung der Klimakrise ist und wie es ohne Klimakrise wäre. Und dann sagen: Ein Ereignis wäre um einen gewissen Faktor wahrscheinlicher. Je mehr Emissionen in die Atmosphäre kommen und je wärmer es wird, umso höher die Wahrscheinlichkeit für extreme Wetterereignisse.
Hier in Deutschland sind wir noch einigermaßen gut dabei, weil wir in einer sehr gemäßigten Zone sind. Aber wir sehen es aktuell im Süden von Europa, dass da einfach Wasser knapp wird. Und sowas kommt hier auch, beziehungsweise war auch schon da. Hitzewellen werden noch häufiger, dadurch leiden insbesondere Personen, die körperlich geschwächt sind. Für alle anderen ist es auch ein Problem. Ab bestimmten Temperaturen ist draußen Sport zu treiben oder zu arbeiten keine gute Idee mehr.
Anzahl der Tage mit einer Höchsttemperatur von mindestens 30 Grad Celsius in Deutschland in ausgewählten Jahren zwischen 1960 und 2020. Grafik: Elisa Leimert in Anlehnung an statista.de aus Daten des Umweltbundesamtes
Am 20. März 2023 wurde der neue IPCC Synthese Report veröffentlicht. Zu welchen wichtigen Erkenntnissen kommt der Report?
Neue Erkenntnisse gibt es in dem Report nicht. Es wurde jetzt nochmal klargemacht, dass es auf der einen Seite durchaus möglich ist, das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten, aber dass das Zeitfenster immer kleiner wird. Und dass einfach die Dringlichkeit des Handelns wirklich enorm ist. Man bemüht sich da durchaus, ein positives Bild in den Vordergrund zu stellen und zu sagen: Wir können uns jetzt noch entscheiden.
Es gab zwei eindrückliche Grafiken in dem Report. Das eine war eine Veranschaulichung von einer Zeitlinie zur Temperaturerhöhung. Da wurde dargestellt, dass ein heute geborener Mensch durchaus eine drei bis vier Grad wärmere Welt erleben kann, wenn wir nichts weiter tun. Es ist also nicht mehr in irgendeiner fernen Zukunft, sondern es betrifft schon die Menschen, die heute leben, und zwar immens.
Und das andere ist eine Grafik, in der dargestellt wird: Ja, wir können jetzt noch gut das 1,5-Grad-Ziel schaffen und mit viel Anstrengung vielleicht auch weniger Erwärmung. Aber in zehn Jahren haben wir diese Möglichkeit nicht mehr. Es ist so weit fortgeschritten, dass unsere Einflussmöglichkeiten auf die Entwicklung in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts immer geringer werden. Und das ist das sehr deutliche Mahnen der Wissenschaftler*innen in dem Report: Wir müssen wirklich jetzt ganz schnell etwas tun.
Welche Auswirkungen hat eine Verfehlung des 1,5-Grad-Ziels weltweit?
Im Allgemeinen sind es immer extreme Wetterereignisse. Auch da gibt es schöne Grafiken und Weltkarten, wie sich die Temperaturverteilung voraussichtlich entwickeln wird. Es gibt einfach mit steigender Temperatur immer mehr Bereiche in der Welt, wo zum einen so extreme Dürre herrscht, dass die Menschen dort aus landwirtschaftlichen Erzeugnissen nicht mehr überleben können. Und zum Anderen, wo die Temperatur draußen so hoch ist, dass man sich dort nicht mehr aufhalten kann.
Wenn es immer größere Bereiche gibt, wo Menschen schlicht und einfach nicht mehr leben können, dann werden sich diese Menschen auf eine Wanderung machen. Und das wird enorme gesellschaftliche Zerwürfnisse mit sich bringen.
Sehr anschaulich ist der Anstieg des Meeresspiegels. Wenn wir 50 Zentimeter Anstieg haben oder sogar einen Meter, was bis Ende des Jahrhunderts sein kann, dann müssen wir unsere Landkarten neu zeichnen. Küstenstädte wie New York, Hamburg oder London liegen dann zu einem großen Teil unter Wasser. Das betrifft auch weltweiten Handel, wenn die größten Häfen dieser Welt als Infrastruktur nicht mehr funktionieren würden. Und die krasseste Auswirkung hat es natürlich für Menschen, die an der Küste und jetzt nicht in einem reichen europäischen Land wohnen, wo man einen Damm bauen kann. Die verlieren ihre Lebensgrundlage. Das ist wie so oft: Die Menschen, die am wenigsten dafür können, leiden am stärksten.
Häufig wird das Argument genannt, dass Klimaschutz zu viel koste. Was ist Ihre Antwort darauf?
Meine Antwort darauf wäre, dass es die falsche Frage ist. Wenn wir über Kosten reden, dann müssen wir schauen: Mit was vergleichen wir das? Und wir können nicht sagen, wenn wir jetzt keine Investitionen in Klimaschutz machen, dann bleibt alles so, wie es ist. Sondern es ist eine Investition, damit alles wenigstens so in etwa bleiben kann, wie es ist.
Wenn wir diese Investitionen nicht machen, dann wird der Schaden immens und wenn wir diesen Schaden dann auch wieder in Geld abbilden, dann sind die Kosten zur Beseitigung dieses Schadens viel höher oder gar nicht abbildbar. Es gibt Kipppunkte im Klimasystem, bei denen wir Phänomene auslösen, die wir nicht mehr rückgängig machen können. Das ist das Abschmelzen von Grönland oder der Westantarktis, das sind Ökosysteme wie der Amazonas oder Massenaussterben. Es ist schwer, diese Schäden zu beziffern. Wenn es keine Bienen mehr gibt, muss ich per Hand bestäuben. Das kann ich irgendwie noch ausrechnen. Aber wie will man das denn bewerten, dass viele Hunderttausende Menschen sterben? Das ist halt dann einfach viel schwieriger.
Die, die heute leben, zumindest in so reichen Industrienationen wie hier in Deutschland, die haben ein sehr komfortables Leben, wenn wir das mal mit den meisten anderen Ländern und Menschen dieser Welt vergleichen. Und dass gerade wir jetzt sagen: Ja, das ist mir aber jetzt zu teuer! Das finde ich hochgradig unfair. Denn alles, was wir jetzt nicht investieren, ist was, was zukünftige Generationen oder aber Menschen in anderen Teilen der Welt um ein Vielfaches mehr an Leid oder Geld aufwenden müssen.
Das alles so zu hören, ist sehr belastend. Was macht die Klimakrise mit unserer Psyche?
Es gibt mehrere Wege, damit umzugehen. Viele Menschen wollen es nicht anerkennen. Es ist eine so große Bedrohung, die aber doch zum Stück abstrakt ist. Man vergleicht das immer mit so Beispielen der früheren Entwicklung. Ein Säbelzahntiger, der vor mir steht, den sehe ich und da weiß ich: Ich muss abhauen. Aber eine Gefahr, die auch nur ein Jahrzehnt in der Zukunft liegt, dafür ist unser Gehirn nicht „designed“. Die erkennen wir nicht. Und wenn wir die Klimakrise doch erkennen, dann führt das häufig dazu, dass uns das große Sorgen bereitet, dass wir Angst davor haben.
Angst an sich ist da nichts Negatives, sondern vielmehr auch etwas, was in der Entwicklung gut war. Wenn ich vor etwas Angst habe, zum Beispiel vor dem Säbelzahntiger, dann sehe ich zu, dass ich diese gefährliche Situation irgendwie loswerde. Und wenn ich Angst vor der Klimakrise habe, dann wäre das Beste, dass ich was dagegen tue. Wenn ich aber diese Angst nicht zulasse und sage: Ach, das wird schon nicht so schlimm werden. Dann wird auch nichts dagegen getan. Mit den fatalen Folgen, dass eben aus der Klimakrise die Klimakatastrophe wird.
Insofern finde ich es richtig, darüber zu reden, dass es eben diese Gefühle gibt, dass sie auch ihren Sinn haben und dass wir daraus Folgen ziehen. Nämlich entsprechend zu handeln.
Was tun Sie persönlich, um damit umzugehen?
Ein wichtiges Mittel, um damit umzugehen, ist aktiv zu werden. Dadurch habe ich das Gefühl der Selbstwirksamkeit, dass ich zumindest meinen Teil dazu beitrage. Ich werde jetzt nicht allein die Welt verändern, aber ich finde schon, dass man sehr gut sehen kann, dass Fridays For Future die Welt verändert hat.
Auf der anderen Seite ist es auch so, dass Angst zu Depressionen führen kann. Und ab einem bestimmten Punkt muss man sich in psychologische Betreuung begeben. Ich glaube, jeder Mensch braucht einen Ausgleich, wo man sagt: Ich brauche neben dieser Situation, in der ich Angst habe, Dinge, die mir Freude bereiten. Das ist gerade auch für Aktivist*innen wichtig, dass man sich nicht nur mit den Horrorszenarien befasst, sondern auch bei Aktionen Spaß hat.
Zuletzt: Was muss unsere Bundesregierung in diesem Jahrzehnt unbedingt tun?
Als Erstes müssen die Emissionen runter. Es ist wichtig, dass wir in allen Sektoren die Wende einleiten. Viel mehr erneuerbare Energien bauen, viel mehr auch schauen, wo wir durch Effizienzmaßnahmen Emissionen einsparen können. Wir sind aktuell viel im Gespräch zum Verkehr, zum Wärmesektor und zum Ersatz von Gasheizungen durch Wärmepumpen. Solche Dinge müssen wir vorantreiben, weil sie jetzt Emissionen sparen. Es wird immer so getan, als ob es eine Zumutung wäre, jetzt keine neue Gasheizung mehr einzubauen. Aber so eine Gasheizung hält auch mal gerne 20 bis 30 Jahre. Wenn ich die heute einbaue, würde die bis 2050 laufen. Und das ist einfach inkompatibel mit dem Vorhaben, 2045 klimaneutral zu sein.
Da muss die Regierung aus meiner Sicht viel klarer kommunizieren, dass es nicht darum geht, den Menschen was wegzunehmen. Sondern dass es eine Vorschrift ist, die zum Erhalt unserer Lebensgrundlage wichtig ist. Es gibt viele Punkte, wo Dinge verboten sind, aus einem guten Grund. Und es gibt viele Dinge, wo man es erst mit Freiwilligkeit versucht hat, aber gesehen hat, dass das Prinzip Freiwilligkeit in der Industrie in der Regel nicht klappt.
Deshalb finde ich, so eine gewisse Ehrlichkeit wäre wichtig auf politischer Seite. Dass man sagt: Wir wollen euch nichts wegnehmen, sondern wir wollen, dass ihr etwas behalten könnt. Und eure Kinder auch. Und dafür ist es einfach nötig, gewisse Dinge vorzuschreiben.
Text, Titelbild und Grafik: Elisa Leimert