Rechtspolitik

Das Problem mit Inzest

von | 30. Juni 2023

Warum Inzest strafbar ist und das für Kritik sorgt.

Triggerwarnung: In diesem Beitrag werden Vergewaltigung, Missbrauch und Misshandlung von Kindern und Inzest thematisiert. Wenn du Probleme mit dem Thema hast, lies ihn nicht oder nicht allein.

Wenige Themen sind gesellschaftlich so tabuisiert wie Inzest. Gleichzeitig ist Inzest ein häufig auftretendes Thema in Mythologie, Religion und Popkultur. In einigen Teilen der Welt ist Inzest strafbar – in anderen hingegen nicht. Deutschland zählt zu den Ländern, in denen die sogenannte Blutschande” als Beischlaf zwischen Verwandten” gemäß § 173 Strafgesetzbuch strafbar ist. Betroffene üben daran teilweise Kritik, teilweise befürworten sie die Strafbarkeit. Aber auch darüber hinaus polarisiert das Thema.

Wovon wir sprechen

Cersei und Jamie Lannister waren nicht die Ersten. Schon Kleopatra VII. und die griechischen Gottheiten Zeus und Hera haben es so gemacht. König Ödipus auch. Nicht zuletzt die Pornoindustrie spielt mit: Zählen doch Suchbegriffe wie „step mom“, „step sister“ oder „mom“ zu den häufigsten auf Pornhub.

Ja, es geht um Inzest.

Auch bekannt als Blutschande, meint Inzest umgangssprachlich den Geschlechtsverkehr zwischen Blutsverwandten. Also: Geschlechtsverkehr innerhalb der leiblichen Familie. Ebenso prominent, wie der Inzest selbst, ist sein Verbot. Dieses Verbot findet sich unter anderem in der Bibel, im Koran und im deutschen Strafgesetzbuch, namentlich in dessen § 173. Die Bundesrepublik gehört damit zu einer Reihe von Staaten, die einverständlichen Inzest unter Geld- oder Gefängnisstrafe stellen. Dazu gehören auch: Australien, das Vereinigte Königreich, Kanada und ein Großteil der Bundesstaaten der USA. Auf der anderen Seite finden sich Staaten wie die Volksrepublik China, Frankreich, Spanien, die Türkei und die Russische Föderation – hier gibt es kein strafbewehrtes Inzestverbot.

Die Norm

Der deutsche Inzestparagraf unterscheidet sich signifikant von Bestimmungen in anderen Ländern. Wörtlich lautet § 173 StGB:

(1) Wer mit einem leiblichen Abkömmling den Beischlaf vollzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Wer mit einem leiblichen Verwandten aufsteigender Linie den Beischlaf vollzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft; dies gilt auch dann, wenn das Verwandtschaftsverhältnis erloschen ist. Ebenso werden leibliche Geschwister bestraft, die miteinander den Beischlaf vollziehen.

(3) Abkömmlinge und Geschwister werden nicht nach dieser Vorschrift bestraft, wenn sie zur Zeit der Tat noch nicht achtzehn Jahre alt waren.”

Absatz 1 richtet sich an den älteren Teil der Inzesthandlung, also z.B. den Vater.

Absatz 2 Satz 1 erklärt auch den jüngeren Teil der Inzesthandlung für strafbar, also z.B. die Tochter. In Absatz 2 Satz 1 Halbsatz 2 wird erklärt, dass Inzesthandlungen auch zwischen Verwandten strafbar sind, deren Verwandtschaftsverhältnis erloschen ist. Das passiert etwa, wenn ein leibliches Kind von Anderen adoptiert wird. Absatz 2 Satz 2 erklärt auch Geschwister für strafbar, die Inzesthandlungen vornehmen. Denn Geschwister sind nicht in gerader Linie verwandt, sondern in der Seitenlinie – und deswegen von dem zuvor aufgestellten Verbot noch nicht erfasst.

Absatz 3 stellt sodann Minderjährige von einer Bestrafung für Inzest frei.

Infobox: Verwandtschaft

Im deutschen Recht wird Verwandtschaft nach Linien bestimmt. Zentrale Norm dafür ist § 1589 BGB:

(1) Personen, deren eine von der anderen abstammt, sind in gerader Linie verwandt. Personen, die nicht in gerader Linie verwandt sind, aber von derselben dritten Person abstammen, sind in der Seitenlinie verwandt. Der Grad der Verwandtschaft bestimmt sich nach der Zahl der sie vermittelnden Geburten. […]”

 Anschaulicher ist das, wenn man einen Stammbaum vor sich hat: Alle verwandtschaftlichen Beziehungen, die „gerade“ von oben nach unten gehen, sind auch im Rechtssinne geradlinig. Alle verwandtschaftlichen Beziehungen, die nicht geradlinig, sondern nebeneinander liegen, sind in Seitenlinie miteinander verwandt.

Das heißt: Ein Kind ist mit beiden Elternteilen jeweils geradlinig verwandt. Geschwister stammen nicht geradlinig voneinander ab, sondern sind in der Seitenlinie miteinander verwandt.

Der Verwandtschaftsgrad lässt sich dann anhand „[…] der Zahl der sie vermittelnden Geburten […]“ ermitteln. Es müssen also die Geburten gezählt werden, die auf kürzestem Weg die Verwandtschaft begründen.

Zwischen der Geburt eines Kindes und seines Geschwisterkindes liegen zwei, dieses Verwandtschaftsverhältnis vermittelnde Geburten: Nämlich die des Kindes und die des Geschwisterkindes. Geschwister sind also in Seitenlinie zweiten Grades verwandt.

Deutsche Eigenheiten

Den Straftatbestand verwirklicht aber nur, wer dann auch in den Worten des Gesetzgebers „den Beischlaf vollzieht“. Diese Formulierung meint ausschließlich das Eindringen eines Penis‘ in eine Vagina, bzw. in den Vestibulum vaginae (den sogenannten Scheidenvorhof).

Das heißt: Haben zwei Geschwister Oralsex, ist das kein Inzest. Auch wenn ein Elternteil und dessen Kind Analsex haben, liegt kein Inzest vor. Und auch alle anderen Sexualpraktiken zwischen Verwandten, die ohne Eindringen eines Penis in eine Vagina stattfinden, sind kein Inzest.

Außerdem wird § 173 StGB in der Praxis nur dann relevant, wenn einverständlicher Inzest zwischen Volljährigen vorliegt. Ist eine der beteiligten Personen minderjährig, kommen sexueller Missbrauch von Schutzbefohlen oder Kindern in Betracht. Ist der Geschlechtsverkehr nicht einvernehmlich, liegt eine sexuelle Nötigung in Form einer Vergewaltigung vor. Diese Straftaten ermöglichen längere Haftstrafen als der Beischlaf zwischen Verwandten. Anklage wird in solchen Fällen also regelmäßig wegen der Straftat erhoben, die ein höheres Strafmaß hat, wie etwa die Vergewaltigung.

Anforderungen an das Strafrecht

Strafverfahren sind eine erhebliche Belastung für die Betroffenen. Vom Ermittlungsverfahren über das Zwischenverfahren und einer Hauptverhandlung im Gerichtssaal bis zum Strafvollzug sind Beschuldigte staatlichen Eingriffen in ihr Leben ausgesetzt.

Deswegen ist das Strafrecht auch das letzte Mittel des Gesetzgebers und darf nur dazu eingesetzt werden, um wesentliche Interessen der Gesellschaft und Einzelner zu schützen. Zentral für die Existenzberechtigung einer Strafnorm ist deshalb eine klare Bestimmung der Interessen, die sie schützen soll. Beispielsweise schützt die Strafbarkeit des Totschlags, § 212 Abs. 1 StGB, das menschliche Leben.

Warum Inzest strafbar ist

Die Gründe der Strafbarkeit des Beischlafs zwischen Verwandten werden in einem Bericht eines Sonderausschusses des Bundestags zur Einführung des heute gültigen § 173 StGB explizit benannt: Der Schutz von Ehe und Familie und die Gefahr der Weitergabe „[…] negative[r] genetischer Erbanlagen […]“.

Das Bundesverfassungsgericht musste sich im Jahr 2008 mit der Verfassungsmäßigkeit des Geschwisterinzestes, also § 173 Abs. 2 S. 2 StGB auseinandersetzen – es bejahte dessen Verfassungsmäßigkeit. Das geschützte Interesse sieht das Bundesverfassungsgericht als:

„[…] Zusammenfassung nachvollziehbarer Strafzwecke vor dem Hintergrund einer kulturhistorisch begründeten, nach wie vor wirkkräftigen gesellschaftlichen Überzeugung von der Strafwürdigkeit des Inzest, wie sie auch im internationalen Recht festzustellen ist […].“

Öffentliche Kritik

Das Urteil und der Inzestparagraf stießen in der Rechtswissenschaft wie auch der Öffentlichkeit auf Kritik. Schon der am Urteil mitwirkende ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Winfried Hassemer, stimmte gegen die Entscheidung und verfasste ein ausführliches, abweichendes Votum. In diesem Votum legt er dar, warum er § 173 Abs. 2 S. 2 für verfassungswidrig hält – und dass die Norm seiner Ansicht nach, außer der Verhinderung der Weitergabe negativer Erbanlagen, kein Interesse schützt. Dieses Interesse bezeichnet er als Eugenik und als nicht mit der Verfassung vereinbar.

Auch der Deutsche Ethikrat empfahl im Jahr 2014 eine Abschaffung der Strafbarkeit des Geschwisterinzests. In einer Pressemitteilung führte der Ethikrat darüber aus:

„Die Mehrheit des Deutschen Ethikrates ist der Auffassung, dass das Strafrecht nicht das geeignete Mittel ist, ein gesellschaftliches Tabu zu bewahren. Es hat nicht die Aufgabe, für den Geschlechtsverkehr mündiger Bürger moralische Standards oder Grenzen durchzusetzen, sondern den Einzelnen vor Schädigungen und groben Belästigungen und die Sozialordnung der Gemeinschaft vor Störungen zu schützen.“

Dem schließt sich auch die „Deutsche Gesellschaft für Humangenetik e.V.“ in einer Stellungnahme an:

„Die Deutsche Gesellschaft für Humangenetik bewertet kulturelle und soziale Gründe im Zusammenhang des Inzestbeschluss nicht, sie hält die eugenische Begründung jedoch für unakzeptabel […].“

Rechtswissenschaftliche Zweifel

Teile der rechtswissenschaftlichen Literatur beziehen die genannten Zweifel inhaltlich nicht nur auf den Geschwisterinzest, sondern auf den gesamten § 173 StGB.

Die wesentlichen Kritikpunkte sind: Die vom Bundesverfassungsgericht und dem Bundestag vorgetragenen genetischen Überlegungen seien nicht eindeutig belegt und liefen im Ergebnis auf ein staatliches Fortpflanzungsverbot für den Fall genetisch geschädigter Nachkommen, also Eugenik hinaus. Dies sei mit verschiedenen Verfassungsgrundsätzen unvereinbar, was auch Hassemer in seinem Sondervotum zum Ausdruck bringt.

Der Schutz von Ehe und Familie vor zerstörerischen internen sexuellen Beziehungen gehe fehl, weil nur der vaginale Geschlechtsverkehr zwischen einem männlichen und weiblichen Familienmitglied bestraft werde und so Raum für andere sexuelle Handlungen sei.

Auch für den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung liefere die Norm keinen Anlass. Denn der Beischlaf muss ohne Rücksicht auf etwaiges Einvernehmen schlicht passieren – außerdem sei § 173 StGB außerhalb des Abschnitts der Sexualdelikte angesiedelt, die den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung umfassend regelten. § 173 StGB sei demnach ein Überbleibsel aus einer Zeit, in der als unmoralisch geltendes Verhalten bestraft wurde.

Betroffene vor dem Bundesverfassungsgericht

Der Verein „M.E.L.I.N.A. Inzestkinder/ Menschen aus VerGEWALTigung“ der sich unter anderem für Interessen von Inzestbetroffenen und deren Kinder einsetzt, wurde auch 2008 vor dem Bundesverfassungsgericht angehört. Der Verein befürwortete die Strafnorm. Er führte in seiner Stellungnahme aus, § 173 Abs. 2 S. 2 StGB greife nicht die Existenzberechtigung von Inzestkindern an, sondern ziele auf:

„ihr[en] Anspruch auf ein würdiges selbstbestimmtes Leben […].“

Auf der Website des Vereins sind weitere Ausführungen dazu zu finden:

„So gibt es eine Studie, die belegt, dass soziale Verhaltensmuster von Eltern an Kinder weitergegeben oder von Kindern übernommen werden. […] Es kann also weder für Inzestopfer, noch Inzesttäter, noch Inzestkinder ein Argument sein, im Sinne der sexuellen Selbstbestimmung auf die Abschaffung des § 173 STGB zu pochen und so zu tun, als leite sich aus einer traumatischen Erfahrung das Recht auf Fortsetzung oder Wiederholung ab.“

Außergerichtliche Stimmen

Zu Gast im Podcast „Eros und Psyche” führt Frau Dierkes, Betroffene, Vorsitzende und Gründerin des Vereins „M.E.L.I.N.A. Inzestkinder/ Menschen aus VerGEWALTigung” aus:

„[…] es ist ein sehr schwieriges Thema, es ist ein sehr tabuisiertes Thema und das Tabu besteht ja nicht für die Täter […] sondern das Tabu besteht für die Betroffenen, für die Opfer. Die werden mit dem Tabu des Schweigens darüber belegt […] Schon das Wort Inzest beinhaltet ja schon den Übegriff innerhalb des Familienverbandes […] Bei dem, sag ich mal, grundsätzlichen Kindesmissbrauch, da können wir uns immer so damit trösten, ja das passiert ja eben außerhalb der Familie und das unterstellt ja immer, dass […] ein Opfer innerhalb der Familie dann aufgefangen und auch wieder Schutz erfährt […]. [Bei Kindesmissbrauch innerhalb der eigenen Familie] da ist ja eigentlich überhaupt gar nichts mehr für ein Opfer, was noch schützt, was noch auffängt oder aufrichter oder, im Gegenteil. Sie können sich gut vorstellen, was kann ein Kind gegen die Autorität […] eines Elternteils tun? Gar nichts, da ist es wirklich nur noch ausgeliefert […].”

Der Spiegel zitiert andere Perspektiven von Betroffenen:

Das Problem war nie unsere Liebe. Sie tat uns allen nur gut. Das Problem waren ausschließlich die unverrückbaren moralischen Erwartungen anderer.“

Oder:

Die meiste Zeit müssen wir unsere Liebe verstecken, denn es ist uns klar, dass wir in den Augen des Gesetzes und der Öffentlichkeit kein Paar sein dürfen. Als Betroffener beschäftigt man sich natürlich mit den Gründen. Man möchte verstehen, warum die eigene Lebenswirklichkeit, die man als richtig und für keinen schädlich empfindet, so strikt abgelehnt wird; warum das, was einen glücklich macht, verpönt, verboten und verhasst ist.“

Dabei fallen vor allem zwei Gruppen von Betroffenen auf, die sich öffentlich äußern. Entweder ist es ein Geschwisterpaar (wie im Fall vor dem Bundesverfassungsgericht). Oder es handelt sich um eine Tochter, die seit dem Kindesalter von ihrem Vater, Onkel oder Großvater vergewaltigt wurde und an die Öffentlichkeit geht.

Status quo

Gerichtlich ist endgültig über die Verfassungsmäßigkeit des Geschwisterinzest entschieden. Nach dem Bundesverfassungsgericht wurde in diesem Fall auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte angerufen, der die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht beanstandete.

Unabhängig davon kann sich der Gesetzgeber auch jederzeit dafür entscheiden, Strafnormen abzuschaffen – wie es bei der Strafbarkeit des Ehebruchs oder Homosexualität geschehen ist.

Kommentar des Autors

Weg damit

§ 173 gehört aus dem Strafgesetzbuch gestrichen.

Es geht dabei nicht um eine Entscheidung im Sinne von Vätern, die ihre Töchter über Jahrzehnte hinweg vergewaltigen und andere unvorstellbare Taten an ihren Kindern begehen. Diese Täter sind nach den einschlägigen Strafnormen aus dem Sexualstrafrecht zu bestrafen. Den Opfern ist von staatlicher und gesellschaftlicher Seite Beistand zu gewähren. Kein Kind und auch kein erwachsener Mensch sollte sexualisierter Gewalt ausgesetzt sein, erst recht nicht innerhalb der eigenen Familie.

Es geht hier um theoretische Fragen des Straf- und Strafverfahrensrecht, die eine marginale Auswirkung auf die tatsächliche Strafverfolgung von Vergewaltigungs- und -Misshandlungstätern haben. Was bringt ein Strafgesetz, das in einschlägigen Fällen nicht angewandt wird?

Und es geht darum, ein illiberales Gesetz zu hinterfragen, das einvernehmlichen Geschlechtsverkehr zwischen Erwachsenen verbietet.

Dazu kommt, dass inzestuöse Umstände auch ohne die Existenz des § 173 StGB strafschärfend berücksichtigt werden können. Beim sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen ist das möglich. Es spricht auch nichts gegen die Einführung einer solchen Regelung in den Tatbestand der sexuellen Nötigung und Vergewaltigung.

Warum eugenische Gesichtspunkte das Verbot nicht rechtfertigen können, verfassungsrechtlichen Bedenken begegnen und sich auch politisch verbieten, darüber sollte man sich in Deutschland im 21. Jahrhundert eigentlich nicht mehr streiten.

Text, Titelbild: Ingmar Heide

<h3>Ingmar Heide</h3>

Ingmar Heide

ist 25 Jahre alt und studiert im 4. Fachsemester Medienmanagement B.A.