Über vier Millionen Menschen haben in Deutschland Todd Phillips‘ „Joker“ gesehen. Wie bei jedem guten Drama bewegt sich auch die Kritik um den Film zwischen Liebe und Hass. Viele Kritiker preisen ihn, andere verurteilen ihn. „Joker“ polarisiert. Zu Recht.
„Joker“ ist, obwohl es sich um eine Comicverfilmung handelt, kein stumpfer Actionfilm über den verrückten Gegenspieler des dunklen DC-Ritters Batman. Joker ist ein Drama. Der Unterschied: Ein Drama verspricht Inhalt, der über laute Soundeffekte, Explosionen und schwarz-weißes Heldentum hinausgeht. Und genau das ist das Problem von „Joker“, denn damit kommen wir nicht klar. Ein Bösewicht, der schwach und einsam ist? Unmöglich! Ein Antiheld, mit dem man auch mitfühlen kann? Niemals! In welcher Welt leben wir, in der unsere Helden nicht gut und unsere Schurken nicht böse sind? Augen auf!
Arthur Fleck, gespielt von Joaquin Phoenix, ist psychisch krank. Immer wenn er nervös wird, muss er lachen – also in den unpassendsten Momenten. Das bekannteste Merkmal des Jokers wird zur Störung erklärt, zur Schwäche. Und von denen hat Arthur mehr als genug. Der gesamte Film erzählt die Geschichte eines Versagers: Arthur ist isoliert, hat Probleme im Job und kann nicht mit Frauen sprechen. Wenn er versucht, Menschen mit Comedy oder Clownerie zum Lachen zu bringen, wird er ausgelacht, verspottet und verprügelt. Tötet er drei Menschen, kriegt er genau die Anerkennung und Unterstützung, die er sucht. Der erniedrigte Arthur wird zum Joker und wir drehen durch.
Der Joker sorgt weltweit für großes Aufsehen. Video: YouTube/KinoCheck
Wütende Witzfiguren
Schon vor Kinostart hat die Kritik um „Joker“ in beide Richtungen ausgeschlagen. Die einen schreien Oscar, die anderen prophezeien das Ende der Gesellschaft, wie wir sie kennen. US Medien wie die Time kritisieren an „Joker“ unter anderem die „unverantwortliche Dummheit“. Vanity Fair geht sogar noch einen Schritt weiter und verurteilt ihn als „unverantwortliche Propaganda“ für genau die Männer, die der Film für krankhaft halte. Aber auf wen spielt Vanity Fair an? Um welche Männer geht es? Das beantworten die Medien selbst: Es geht um Incels.
Was bedeutet „Incel“?
Der Begriff „Incel“ steht für involuntary celibate, zu Deutsch: unfreiwillig zölibatär.
Die Mitglieder der Incel-Community tauschen sich bereits seit Anfang der 1990er Jahre über Einsamkeit, Beziehungsprobleme und Schüchternheit aus. Heute halten sich Mitglieder der Incel-Community für hochintellektuell und sozialpolitisch gebildet. In Online-Foren hetzen größtenteils Männer über Frauen und die Gesellschaft, von der sie sich ausgegrenzt fühlen. Frauen seien größtenteils oberflächlich, teuflisch und nur an muskulösen Männern interessiert. Die Ideologie der Incels lasse sich als „sexuelles Klassensystem“ zusammenfassen, so das amerikanische general-interest Blatt Vox in einem Beitrag über die Bewegung. Bei einem radikalen Teil der Incel-Community sei die sexuelle Frustration sogar Anlass für Gewalttaten und den Ausbruch der sogenannten „Incel-Rebellion“, bei der der sexuelle Status quo gestürzt und Frauen für ihre Oberflächlichkeit bestraft werden sollten.
Bereits in der Vergangenheit gab es mehrere terroristische Anschläge von selbsternannten Incels, unter anderem in Toronto und Isla Vista (Kalifornien).
Incels sind zurückgezogen, traurig und toxisch. Erst 2018 hat ein selbsternannter Incel in Toronto mutmaßlich zehn Menschen getötet und 16 weitere verletzt. Und genau hier liegt der Grund für die Debatte um „Joker“: Angst. Denn ja, es gibt Parallelen zwischen dem neuen Joker und den Mitgliedern der Incel-Community. „Joker“ thematisiert Isolation, Erniedrigung, Wut und Gewalt. Ob das aber verhängnisvoll ist, ist die falsche Frage. Denn der Joker ist – anders als Time ihn beschreibt – nicht der Schutzpatron der Incels, im Gegenteil: Er ist ein Warnsignal für jeden, der versucht, ihn so zu deuten. Trotzdem reißen auch deutsche Medien wie die Zeit oder die Süddeutsche Zeitung die Debatte auf und fragen sich: Ist Todd Phillips‘ „Joker“ verdorben? Macht er uns böse?
Kritiker sorgen sich dabei übrigens nicht um beeinflussbare Menschen wie Kinder, denn die dürfen „Joker“ gar nicht sehen. In den USA ist der Film auf einer der höchsten Altersbegrenzungen („R“), in Deutschland darf man ihn ab 16 sehen. Leider denken die Kritiker an das berühmt-berüchtigte Allgemeinwohl. Die Frage, ob „Joker“ uns alle böse macht, unterstellt ihm eine gesellschaftliche Verantwortung. Und das macht sie gefährlicher, als ein Film jemals sein könnte. Wie die Time und Vanity Fair haben auch Angehörige von Waffengewaltopfern in einem Brief an die Verantwortung der Produktionsfirma Warner Bros. appelliert. Als Fernsehgesellschaft sei diese schließlich dafür verantwortlich, uns alle zu beschützen. Doch welche Verpflichtung haben Filmemacher und deren Kunst gegenüber der Gesellschaft?
Die Antwort ist simpel: keine. Sobald wir Regisseuren, Musikern und Künstlern eine Rechenschaft vorschreiben, machen wir ihre Kunst gültig. Dann gibt es nur eine Interpretation und die darf nicht kritisch sein – immerhin trägt der Film eine Verantwortung, richtig? Und wer bestimmt, was richtig ist? Das sind die Fragen, die die Auseinandersetzung hervorrufen sollte. Stattdessen wägen wir ab, was Kunst darf und was nicht. Riskant ist nicht der Film, sondern die Grundlage der Debatte: Wir zittern vor einem Clown. Ist der Joker so nah an der Realität, dass wir ihn damit verwechseln?
Übt der Joker eine unterschwellige Gesellschaftskritik? © 2019 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved. TM & © DC Comics. Foto: Niko Tavernise
Schlechter Scherz
Wen fürchten wir heutzutage in der echten Welt? Den eiskalten Mörder, den Fremden, den Starken? Nein, vergangene Amokläufe und Attentate wie in Parkland, München oder Halle zeigen uns: Nicht die Starken und Eiskalten sind gefährlich, sondern die sensiblen, einsamen und schwachen Menschen. Menschen, denen der Joker so ähnlich scheint. Laut Planet Wissen seien die Auslöser von Massenmorden oft Probleme im privaten Umfeld des Täters: „Das können soziale Isolation, Versagen oder Mobbing am Arbeitsplatz oder in der Schule sein. Der Täter hat das Gefühl, ständig ungerecht behandelt zu werden.“ Fast ritualhaft und hoch emotional sucht ein Land, nach einem Massenmord oder einem Anschlag nach dem Warum. Als beispielsweise Anfang August bei mehreren Schießereien in Texas und Ohio 31 Menschen ums Leben gekommen sind, wurde der Fokus der Politik erneut auf gewalttätige Videospiele wie Ego-Shooter gelenkt. Wer braucht Fakten, wenn er Emotionen hat?
Jedoch zu sagen: „Ach, die Amerikaner, die machen alles falsch“ wäre arrogant. Auch unser Bundesinnenminister hat nach dem Anschlag in Halle gefordert, man müsse die Gamer-Szene „stärker in den Blick nehmen“. Anderes Medium, gleiches Problem. Wenn die Emotionen hochkochen, ignorieren wir Studien, interpretieren falsche Ursachen für schreckliche Taten und werden laut. Auch bei uns steht die Angst über der Vernunft, wenn etwas Tragisches passiert. Das ist falsch, aber zum Teil verständlich. Am Ende sind unsere Probleme nicht so verschieden. Laut Zeit und Spiegel habe sich auch der mutmaßliche Attentäter von Halle gegenüber seinem Ermittlungsrichter als abgeschiedener und „unzufriedener weißer Mann“ dargestellt. Ein Anschlag am 9. Oktober, ein Kinofilm über einen grausamen, verzweifelten weißen Mann einen Tag später. Das Problem ist gesellschaftlich. Videospiele zu überwachen ändert allerdings nichts an der Ursache von radikalem Terror. Auch einem Film die Schuld zuzuweisen, ist zu kurz gegriffen.
Die „Joker“-Debatte ist anders – hier steht kein tragisches Ereignis im Vordergrund. Und obwohl in „Joker“ Gewalt weder glorifiziert noch beschönigt wird, fürchten wir sie. Dabei wird sie nur gezeigt. Todd Phillips zeigt uns die Abgründe, vor denen wir so stark versuchen, die Augen zu verschließen. Die Angst wirkt so echt, weil „Joker“ realistisch ist. Horrorfilme sorgen für eine kurze Gänsehaut. Aber ein Drama, das als Gesellschaftskritik gedeutet werden kann: Das ist zu viel. Dabei hat uns die Kunst schon immer einen Spiegel vorgehalten. Trauen wir uns nicht mehr, hineinzusehen?
Wer aus Angst handelt, handelt nicht vernünftig. Und wenn wir zukünftig keinen Film über das Versagen des weißen Mannes ansehen können, weil wir fürchten, dass genau der einen Film für sich nutzt, dann haben radikale Gruppen wie die Incels gewonnen. Dann hat ihr Terror genau das erreicht, was er bewirken wollte: Angst. Auch der amerikanische Regisseur Michael Moore kritisierte den Streit um „Joker“. In einem Facebook Beitrag schrieb Moore: „Die größere Gefahr für die Gesellschaft wäre, wenn man den Film NICHT ansieht. Ja, da steht ein verstörter Clown im Spiegel, aber er ist nicht allein – wir stehen neben ihm.“
Joaquin Phoenix wird als heißer Oscarpreisträger gehandelt. © 2019 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved. TM & © DC Comics. Foto: Courtesy of Warner Bros. Pictures
Wer zuletzt lacht
Ob man das Drama zum modernen Klassiker ernennt, mit Preisen überschüttet oder nach dem Kinobesuch vor Enttäuschung schnieft, ist jedem selbst überlassen und am Ende belanglos. Aber wir müssen aufpassen, warum wir Kunst kritisieren. Das Argument, bestimmte Kunst sei zu gefährlich für die Gesellschaft, zählt nicht. Verstößt Kunst gegen allgemeine Gesetze, entscheidet ein Gericht. Moral allein reicht da nicht aus. Am Ende geht es bei der Kunstfreiheit nicht um abstrakte Gemälde, die kein Mensch versteht. Es geht um Alltag, um die Musik, die man im Auto hört, um den Film, der 20:15 im Fernsehen läuft, um das Foto, das man in der Zeitung sieht.
Wer in „Joker“ keine Botschaft erkennt oder ihn grottenschlecht findet, der hat dazu jedes Recht. Daumen runter, kurzer Kommentar und fertig. Fangen wir aber an, zu diskutieren wie schädlich ein legaler Film ist, dann begeben wir uns auf ganz neue Ebenen der Kritik. Und wenn wir nicht vertragen, dass uns die Kunst den Spiegel vorhält und zeigt, was gerade passiert, dann ist die ganze Debatte sinnlos. Dann verbietet die Videospiele, zensiert die Filme, verschränkt die Arme und schränkt euch ein! Macht doch! Dann könnt ihr nach dem nächsten Anschlag sagen: „Ich hab‘s euch doch gesagt.“
Oder wir fangen endlich an, unsere Probleme an der Wurzel zu packen. Schließlich diskutieren wir hier über einen Film. Spoiler: Man kann ihn auch einfach gut oder schlecht finden, ohne eine Gesellschaftsdebatte daraus zu machen. Menschen vereinsamen, isolieren sich, radikalisieren sich. Sie töten, morden, hassen. Der neue Joker ist nicht die Ursache Wut und Gewalt, er ist nur ein Abbild. Und, ganz wichtig, er ist fiktiv – oder? Denn in welcher Welt leben wir, in der unsere Helden nicht gut und unsere Schurken nicht böse sind? Augen zu.
Text: Leon Heyde, Titelbild und Fotos: © 2019 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved. TM & © DC Comics Photo Niko Tavernise and Courtesy of Warner Bros. Pictures, Video: YouTube/KinoCheck