„Schluss mit Hetze – Feldmann in die Schranken“, „Lügenpresse“ – Reihen von Schildern und Plakaten verkünden solche oder ähnliche Forderungen. Eine Gruppe von schwarz gekleideten Männern läuft über die Straße, zu beiden Seiten sieht man Polizisten stehen. Die Protestierenden lassen sich davon nicht stören. Sie rufen ihre Forderungen durch Megaphone und versuchen, sich Gehör zu verschaffen. Doch eine noch größere Gruppe an Protestierenden steht ihnen gegenüber. Hinter der Wand aus Polizisten zeigt sich ein anderes Bild: „Bunt statt Braun“ verkünden verschiedene Plakate der Gegendemonstranten. „Hannover – kein Ort für Rechtsextremismus“, steht auf weiteren. Rufe für Pressefreiheit werden laut.
Diese Eindrücke setzen sich zu einem Bild zusammen: 23. November 2019, Hannover. Rechtsextreme Demonstranten protestieren gegen die Berichterstattung einzelner Journalisten, während Gegendemonstranten die Pressefreiheit verteidigen.
„Ich fand es gut, dass sich aus der Zivilgesellschaft Bürgerinnen und Bürger zusammengefunden haben, um gegen diese NPD-Aktion zu fahren. Es geht um Kritik an kritisch tätigen Journalisten, die sich investigativ mit der rechten Szene auseinandergesetzt haben. Das ist aus meiner Sicht ein Angriff auf den Journalismus“, sagt Lutz Tillmanns, Geschäftsführer des Deutschen Presserats, gegenüber medienMITTWEIDA. Doch dies ist nicht das erste Mal, dass Kritik an Journalisten geäußert, Grenzen überschritten oder neu definiert wurden. In der Vergangenheit kam es häufig zu solchen Ereignissen.
Ein weiteres Bild: Prinzessin Diana, gestorben am 31. August 1997, flieht im Auto vor einigen Journalisten und stößt dabei mit 200 Kilometern pro Stunde gegen einen Betonpfeiler. Ihr betrunkener Chauffeur und ihr Freund sterben sofort, sie selbst einige Stunden später, so berichtet die Augsburger Allgemeine. Die Journalisten, die sie zuvor verfolgten, sind direkt vor Ort und fotografieren das Schauspiel, anstatt zu helfen. Eine Jagd bis zum Tod.
Dieser und weitere Fälle werfen eine Frage auf: Wo liegen überhaupt die Grenzen, die Journalisten nicht übertreten dürfen? Dennis Leiffels, Geschäftsführer und Redakteur von sendefähig, und Lutz Tillmanns, Geschäftsführer des Deutschen Presserats, haben sie für uns beantwortet.
Grenzen und wo sie zu finden sind
„Es existieren meist unterschiedliche Meinungen. Es gibt einerseits Leser, die den Beitrag für einen Verstoß gegen den Kodex halten, beispielsweise weil die Persönlichkeitsrechte nicht eingehalten worden sind. Dann gibt es andererseits die Redaktion, die das veröffentlicht hat und die Sache anders sieht. Sie meint dann beispielsweise, dass man neben den Persönlichkeitsrechten auch das öffentliche Interesse zu beachten hat, was dem widerspricht”, erklärt Lutz Tillmanns.
„Wir halten uns an den Pressekodex und da ist relativ klar definiert, was man zu tun und zu lassen hat“, sagt Dennis Leiffels über die Arbeit und Grenzen beim Y-Kollektiv (Format von sendefähig). Aber natürlich gebe es auch immer wieder Grenzfälle, bei denen man diskutieren müsse, wie man vorgehen solle. „Wir sind da immer eher eine Spur vorsichtiger.“
Auch Lutz Tillmanns geht davon aus, dass der Pressekodex in der täglichen Arbeit für alle Medien eine Rolle spiele und immer versucht werde, ihn einzuhalten. Man müsse allerdings den einzelnen Fall betrachten und könne keine Pauschalurteile darüber aussprechen.
„Für solche Entscheidungen haben wir zunächst Praktiker in den Gremien sitzen, die diese Sachlagen aus der eigenen täglichen Arbeit kennen. Dazu haben wir auch viele Referenzfälle. Meist haben wir ähnliche Sachverhalte schon viele Male vorher bewertet und können diese dann heranziehen“, beschreibt er die Vorgehensweise beim Deutschen Presserat. Über 2000 Beschwerden erreichten den Deutschen Presserat im Jahr 2018. Dies stelle einen neuen Rekordwert seit 2015 dar und spiegele, so der Jahresbericht des Deutschen Presserats, eine verstärkte medienkritische Haltung der Bevölkerung wieder.
Wut, Trauer, Angst, Freude – wie viel ist zu viel?
Besonders gegenüber Menschen, die geistig oder körperlich nicht im Vollbesitz ihrer Kräfte sind, werden Grenzen schneller erreicht, als man denkt. Entsprechend des Pressekodex soll bei der Recherche gegenüber schutzbedürftigen Personen besondere Zurückhaltung geboten werden. Dazu zählen auch Menschen, die einer seelischen Extremsituation ausgesetzt sind.
„Wenn ich Menschen erreichen will, dann geht das nur über Emotionen. Unser Ziel sind ja Diskussionen. Man muss sich trotzdem immer darüber im Klaren sein, dass man als Journalist Verantwortung trägt. Diese Verantwortung muss einem bewusst sein, wenn man entscheidet, was man zeigt und wie man das zeigt“, antwortet Dennis Leiffels auf die Frage, wie weit man in so einer Situation gehen darf. Effekthascherei sei nie das Ziel eines seriösen journalistischen Beitrags. „Sonst wären wir ja keine Journalisten.“
Dem gegenüber steht Lutz Tillmanns: „Der Regelfall ist, dass das nicht zulässig ist. Mit der Ausnahme, wenn die Aussage eines besonders betroffenen Menschen ganz entscheidend für eine Geschichte und für die Authentizität sein kann. Es gilt aber immer in dem Kontext, dass diesen Menschen ein besonderer Schutz zuzugestehen ist.“ Beide Aussagen schließen einander jedoch nicht aus.
Unter Beachtung der menschlichen Würde und ohne bewusstes Provozieren kann man also durchaus auch Menschen in einer stark emotionalen Situation befragen. Der Wert dieser Antwort sollte jedoch gründlich abgewogen werden. Wie weit geht das öffentliche Interesse, wo beginnt das Persönlichkeitsrecht?
Würde bis in den Tod
Ich erinnere mich noch: Ich war junger Redakteur und habe als Visual Jockey gearbeitet. Einmal sollte ich filmen, wie die Leiche eines Ermordeten aus einem Haus getragen wurde. Sie war in einem Leichensack, aber ich habe das sehr nah gefilmt. Mein zuständiger Chef vom Dienst hat mir das dann um die Ohren gehauen und gesagt ‚Tu das nie wieder!‘ Und das war richtig gut, dass ich da einen hinter die Löffel bekommen habe.
Ein Vorfall, wie ihn Dennis Leiffels beschreibt, ist keine Seltenheit. Häufiger kam es schon zu moralischen Bedenken, wenn über Tote berichtet wurde. Zum Beispiel das Bild des toten Flüchtlingskindes Aylan, das viral ging, oder auch die sehr bildhafte Beschreibung eines ermordeten Mannes in Graz. Alte Fälle wie diese ließen Fragestellungen um ethische Grenzen immer wieder aufkommen. „Bei der Darstellung von toten Menschen kommt es darauf an, dass die den Tod überlebende Würde des Betreffenden gewahrt bleibt und dass der Tod nicht Gegenstand der sensationellen Berichterstattung wird“, erläutert Tillmanns. Außerdem müsse man auf den Schutz der Angehörigen Rücksicht nehmen. Diese sollten durch eine Aufnahme des Verstorbenen nicht überrascht werden. Daher werden auch entsprechende Bilder immer aus Distanz aufgenommen.
Nach der Einschätzung von Hans-Jürgen Wulff in seinem Beitrag „Anwälte der Toten“, schockieren solche Bilder allerdings auch nicht. Die stetige Darstellung von Leichen in den Medien führe zu einer Desensibilisierung der Gesellschaft.
Nachdem für einige Zeit eine Art Abbildungsverbot für Tote in den Medien galt, so scheine sich dies nun dezensiert zu haben, erklärt Wulff ebenfalls. Beispielsweise in Ausstellungen wie Gunther von Hagens „Körperwelten” könne man dies erkennen. Diese sehe Wulff auch als Zeichen der Sensationalisierung dieses Themas.
Das Parley der Journalisten
Manchmal sind die Grenzen aber auch verschiebbar
und man muss darüber diskutieren.
Auf der Suche nach den Grenzen des Journalismus eröffnet sich ebenfalls die Frage, ob eben diese Grenzen durch gesetzliche Regelungen verhärtet werden sollten. Einige Gesetze gibt es bereits, die zum Beispiel vor Verleumdung oder mutwilliger Beleidigung schützen sollen.
Im Bezug auf die Frage, ob ein weiterer Eingriff in die journalistische Arbeit über Gesetze erfolgen sollte, hat Tillmanns eine klare Meinung: Eine gesetzliche Verpflichtung, was Journalisten zu leisten hätten, fände er unpassend. „Es ist für mich eine Frage der Qualität journalistischer Arbeit, wie weit man die ethischen Regeln hält.“ Statt festen Gesetzen, die die freie Arbeit der Journalisten einschränken würden, ist die bisherige Selbstkontrolle eine wesentlich bessere Lösung. „Wir arbeiten mit ganz klassischen journalistischen Standards“, meint Dennis Leiffels über die Recherche beim Y-Kollektiv. „Wir recherchieren objektiv, machen eine Zwei-Quellen-Recherche. Auch wie wir mit unseren Protagonisten und Protagonistinnen umgehen, ist Teil des Ganzen. Wir sorgen für eine faire Berichterstattung, stellen dar, wie es tatsächlich war, und zeigen unsere Haltung, heben dies allerdings auch immer transparent in den Videos hervor.“
Das Journalistikon besagt, dass eine „Standesethik mit verbindlichem Charakter“ weitaus weiter gefasst und detaillierter angelegt wird als herkömmliche Gesetze. Dies gibt den Betroffenen einige Privilegien, die das fachgemäße Ausüben des Berufes erst ermöglichen. Einen Grund für das Befolgen dieser freiwilligen Grundregeln, die dem Piratenkodex aus „Fluch der Karibik“ ähneln, sei nach dem Journalistikon besonders dadurch gegeben, dass mit dem Beachten der Richtlinien auch das Ansehen des jeweiligen Journalisten gewahrt bleibt.
Die Frage der Relevanz
„Das kannst du nicht einmal festschreiben und sagen ‚Wir entscheiden jetzt immer so!‘, sondern musst das in der Redaktionskonferenz ausdiskutieren und auch im Einzelfall schauen, wie man damit jetzt umgehen will“, erklärt Dennis Leiffels.
Die publizistischen Grundsätze konkretisieren die Berufsethik der Presse. Sie umfasst die Pflicht, im Rahmen der Verfassung und der verfassungskonformen Gesetze das Ansehen der Presse zu wahren und für
die Freiheit der Presse einzustehen.
Zurück zum ursprünglichen Ort des Geschehens: Vor Ort befindet sich Dennis Leiffels und begleitet Demonstration sowie Gegendemonstration mit dem Handy. Die Videos veröffentlicht er auf Instagram. Kurz zuvor spricht er mit medienMITTWEIDA. „Es ist nicht immer nur eine Frage, wie viele Menschen es gerade betrifft, um mein Thema relevant zu machen. Es gibt, denke ich, nur etwa 20000 Rechtsextreme in Deutschland, und trotzdem halte ich es für unendlich wichtig, auf diese Thematik zu schauen.“ Auch betont er, dass eine Recherche so weit gehen müsse, bis man sich sicher ist, dass sie stimmt.
Der Protest geht weiter und Dennis Leiffels wendet sich von der Kamera ab. Die Bilder sprechen für sich, während sich die Rufe beider Demonstrationen vermischen und die Straße ausfüllen. „Pressefreiheit“ und „Lügenpresse“ stehen sich wieder einmal gegenüber.
Text: Josephine Singer, Titelbild: Christin Post