Enis Balic ist 31 Jahre alt und kommt aus Montenegro, Ex-Jugoslawien. Dort ist er in Bijelo Polje, einer kleinen Stadt, aufgewachsen. Mit fünf Jahren änderte sich sein Leben schlagartig, als er mit seiner hochschwangeren Mutter und seinem kleinen Bruder vor dem dort vorherrschenden Jugoslawienkrieg flüchtete. Im Interview mit medienMITTWEIDA erzählt Enis von seiner bewegenden Geschichte.
Enis (links) mit seinem Vater und kleinen Bruder in Bijelo Polje, Foto: Privat
Jugoslawienkrieg
Der Jugoslawienkrieg war eine Reihe blutiger Konflikte in den 1990er Jahren, die durch den Zerfall Jugoslawiens ausgelöst wurden. Ethnische Spannungen zwischen Serben, Kroaten und Bosniaken führten zu Kämpfen um die Kontrolle verschiedener Gebiete. Diese waren Auslöser von schweren Zerstörungen, Massakern und ethnischen Säuberungen. Die Kriege endeten mit internationalen Friedensabkommen, jedoch blieben die Narben des Konflikts lange bestehen. Das ehemalige Jugoslawien bestand aus sechs Teilrepubliken, die heute unabhängige Staaten sind. Diese waren: Serbien, Kroatien, Slowenien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro und Nordmazedonien (früher Mazedonien).
Landkarte von Montenegro, Grafik: Jasmina Pucurica
Was hat euch dazu bewegt, zu fliehen?
Man wusste damals nicht, wie sich der Krieg entwickelt und wie die nächsten Monate oder Jahre werden. Es war einfach eine sehr große Unsicherheit da. Um uns eine sichere Zukunft zu gewähren, entschieden meine Eltern dann letzten Endes im Jahr 1999, die Flucht anzutreten. Als Kind habe ich das einfach angenommen. Die Eltern haben das beschlossen, dann wird das erst einmal gemacht und letzten Endes hat man als Kind sowieso nicht mitzureden. Ich wusste nicht, wohin es geht oder was passiert. Es war einfach eine Notwendigkeit und das habe ich so hingenommen.
Enis junge Eltern in Bijelo Polje, Foto: Privat
Wie habt ihr die Flucht organisiert und geplant?
Wir haben die Flucht durch Bekannte und Freunde geplant. Diese kannten wiederum Leute, die schon vorher geflüchtet sind. Unser Ziel war Dresden, weil mein Onkel damals dort eine kleine Baufirma hatte. Die Route konnten wir nicht wirklich planen. Also das ist nicht so, wie wenn ich jetzt in Google Maps die Route eingebe. Wir waren bis zu einem gewissen Punkt eben abhängig von den Schleusern, die uns von A nach B gebracht haben. Die Schleuser haben nicht wir kontaktiert, sondern die Hintermänner. Da passiert ganz viel im Hintergrund. Wir Flüchtenden haben die Hintermänner nie kennengelernt. Die haben nur das Geld kassiert und im Prinzip Leute beauftragt, die uns transportiert haben. Wie eine Ware oder eine Dienstleistung. Wir haben uns auf eine eher ungewisse Reise begeben.
Wie ist die Flucht verlaufen?
Wir sind im April 1999 gestartet. Mein damals dreijähriger Bruder, meine hochschwangere Mutter und ich. Mein Vater ist über ein Arbeitsvisum, das er in Belgrad erhalten hatte, schon etwas eher nach Deutschland gekommen. Zum Zeitpunkt unserer Flucht befand er sich gerade in Coswig. Für uns ging es erst einmal mit Bussen von Bijelo Polje nach Sarajevo. Wir sind ein- bis zweimal umgestiegen, um letzten Endes dann da anzukommen. Dort sind wir für ein paar Tage bei einem Verwandten untergekommen. Anschließend ging unsere Reise von Sarajevo bis nach Österreich, und das durch Ländereien und Wälder. Wir sind teilweise auch mit anderen Leuten zusammen gereist, doch irgendwann trennten sich immer die Routen. In der Zeit sind wir hauptsächlich nachts unterwegs gewesen. Wir mussten uns an die Anweisungen der Schleuser halten, wann wir raus dürfen, wann wir uns bewegen und wann wir uns still verhalten sollen. Bis wir dann letzten Endes in Österreich angekommen sind. Von Österreich aus sind wir dann mit dem Zug bis nach Frankfurt gefahren. Dort sind wir in einem kleinen Lokal untergekommen, welches Leuten aus dem ehemaligen Jugoslawien gehörte. Da haben wir gewartet, bis uns mein Onkel aus Dresden abholen konnte. Diese ganze Reise hat knapp 15 Tage gedauert. Während der Flucht gab es keinen Kontakt zu uns, also weder mein Onkel, noch mein Vater wussten, wann wir ankommen, ob wir ankommen, wo wir gerade sind und ob es uns gut geht.
Was waren die größten Herausforderungen während der Flucht und gab es besondere Schwierigkeiten oder Gefahren?
Die größte Herausforderung war es, gesund anzukommen. Während der Flucht gab es natürlich verschiedenste Strapazen. Die Hintermänner haben die Route und alles, was dazu gehört, für uns Flüchtlinge geplant. Sie haben auch teilweise unsere Unterkünfte vorbereitet, zum Beispiel Hütten im Wald. Wir als Reisende wussten nicht, wo wir übernachten, wo wir hinkommen oder was auch immer passieren würde. Teilweise hatte man das Gefühl, dass es seitens der Schleuser impulsive Handlungen gab und sich nicht immer an den Plan gehalten wurde. Einmal liefen wir Gefahr, weil die Grenzkontrolle doch woanders war, als angenommen. Ein anderes Mal patroullierten Soldaten an Orten, wo sie es eigentlich nicht sollten. Unser Aufenthalt wurde dann einen Tag verlängert und wir mussten die Nacht woanders verbringen und abwarten, bis wir weitergehen konnten. Wir haben bei wildfremden Leuten geschlafen und mussten manchmal stundenlang in heruntergekommenen Schuppen verweilen, bis die Sonne untergegangen war und wir weitergehen konnten. Ich kann mich noch an eine Situation in den Bergen erinnern, das war irgendwo im Nirgendwo. Die Schleuser hatten ihren Job getan und verließen uns. Sie gaben uns die Anweisung, so lange ruhig zu bleiben, bis wir von der anderen Seite des Tals Lichtsignale sehen würden. Das wäre unser Zeichen, dass wir uns auf den Weg begeben könnten, zumindest für den nächsten Abschnitt. Es gab Abschnitte, in denen wir allein laufen mussten. Da wurde uns grob gesagt, wo wir hinmüssen, und wenn wir dort angekommen waren, wurden uns weitere Anweisungen gegeben.
Welche Rolle haben Solidarität und Mitmenschlichkeit von Fremden während der Flucht gespielt?
Wir waren darauf angewiesen, dass die Leute solidarisch sind und uns nicht ausnutzen. Letzten Endes wurde das Geld von uns bezahlt und es gab trotzdem keine Garantie, dass wir ankommen. Wir mussten einfach auf die Einhaltung dieser Vereinbarung hoffen. Ich würde nicht sagen, dass das reine Hilfsbereitschaft oder Mitmenschlichkeit war. Letzten Endes ist es ein Geschäft und das Geschäft gibt es heute noch, genauso wie damals.
Wie hast du eure Flucht empfunden?
Ich war eben noch sehr jung und meine Erinnerungen an unsere Flucht sind schon eher kindlich. Ich kann mich trotzdem an Gefühlsschwankungen erinnern. Ich hatte einerseits die riesengroße Hoffnung oder Sehnsucht anzukommen, dass die Reise endlich vorbei ist. Gleichzeitig war ich auch froh, das Kriegsgebiet verlassen zu haben. Meine Mutter hatte über die ganze Flucht hinweg große Angst. Neben der großen Ungewissheit, ob wir gesund an unserem Ziel ankommen würden, hatte sie die Befürchtung, ihr Kind auf der Reise zu bekommen. Es war alles sehr ungewiss. Wie gesagt, wir sind 15 Tage unterwegs gewesen und wenn sich das Ganze noch drei Tage hinausgezögert hätte, dann wäre mein jüngster Bruder tatsächlich während der Flucht auf die Welt gekommen. Mein Onkel hat uns dann in Frankfurt abgeholt und wir sind bei ihm in Dresden untergekommen. Mein Bruder ist dann tatsächlich am 1. Mai 1999, drei Tage, nachdem wir unser Ziel in Sachsen erreicht haben, gesund auf die Welt gekommen. Wir hatten großes Glück.
Pünktliche Geburt von Emir Balic, Enis jüngstem Bruder, Foto: Privat
Wie ging es dann für euch in Deutschland weiter?
Während mein Onkel uns für ein paar Tage beherbergt hatte, wurden wir bei der Polizei in Dresden registriert. Diese hat uns mit einem Stadtplan und einer sehr groben Anleitung nach Chemnitz geschickt. Dort sollten wir uns in der Erstaufnahmeeinrichtung zur Aufnahme von Asylbewerbern melden. Wir waren nur einige Tage da und haben mit anderen Asylbewerbern in Mehrbettzimmern geschlafen. Die Erstaufnahmeeinrichtung in Chemnitz musste aufgrund der Schwangerschaft meiner Mutter sehr schnell entscheiden, uns nach Dresden zu schicken, wo wir auch letztlich gelandet sind – im Flüchtlingsheim an der Hamburger Straße. Mein Vater musste sein Arbeitsvisum abgeben, da er denselben Prozess durchlief wie wir, und von da an waren wir wieder vereint.
Nach ungefähr einem Jahr, im Sommer 2000, mussten wir das Flüchtlingsheim verlassen und in ein anderes, in Cotta ziehen. Dort haben wir zwei weitere Jahre verbracht und auf die Bearbeitung unseres Asylantrags gewartet. Zu der Zeit hatten wir nur eine Duldung, die alle drei Monate verlängert werden musste, später dann alle sechs Monate.
Im Jahr 2002 sind wir dann wieder in ein anderes Flüchtlingsheim gezogen. Diesmal ging es für uns in die Leipziger Vorstadt. Dort haben wir ungefähr drei weitere Jahre gelebt, bis mein Vater endlich seine Arbeitserlaubnis erhielt. Das ermöglichte uns im Sommer 2005 den Umzug in die erste eigene Wohnung. 2006 zogen wir noch einmal in eine ruhigere Gegend – in der Wohnung lebt meine Mutter heute noch.
Bis ich elf Jahre alt war, habe ich in Flüchtlingsheimen gelebt, also ungefähr sechs Jahre meines Lebens.
Enis, angekommen im Flüchtlingsheim an der Hamburger Straßeis, Foto: Privat
Wie war das Leben in den Flüchtlingslagern?
Es war ziemlich ungemütlich. Zusammen hatten wir ein relativ kleines Zimmer, ungefähr 20 Quadratmeter. In der Flüchtlingsunterkunft waren nicht nur wir, sondern mehrere hundert Menschen. Natürlich mussten wir uns aufeinander einstellen, da es Menschen aus unterschiedlichsten Kulturen gab. Jeder hat da seine Vorlieben und Eigenheiten und das führte auch zu Problemen, aber letztendlich waren wir alle aus dem gleichen Grund dort. Trotzdem war es keine schöne Zeit – ich habe mich unwohl gefühlt, nicht heimisch, Privatsphäre gab es keine. Wir haben auf die Bearbeitung unseres Sachverhalts gewartet und durften Dresden nicht verlassen. Gleichzeitig gab es immer noch die Ungewissheit, ob wir als Kriegsflüchtlinge anerkannt werden würden und bleiben dürften, oder ob wir wieder weggeschickt werden würden.
Enis (links) und sein Bruder rechts daneben im Flüchtlingsheim in Cotta, Foto: Privat
Wann durftet ihr dann wieder eure Heimat in Montenegro besuchen?
In der Zeit, in der wir in den Flüchtlingsheimen gelebt haben, durften wir nicht verreisen, weil wir nur eine Duldung hatten. Dann haben wir endlich unseren Aufenthaltsstatus in Deutschland erhalten. Das erste Mal, dass wir wieder nach Montenegro gefahren sind, war 2007, acht Jahre nach unserer Flucht. Da war ich 13 Jahre alt und habe mich sehr gefreut, meine Familie in Montenegro wiederzusehen. Für mich war es im Prinzip auch eine Reise ins Ungewisse, weil ich nicht wusste, wie es jetzt dort aussieht. Ich war zum Zeitpunkt unserer Flucht ja relativ jung und hatte nur Bruchstücke von Erinnerungen im Kopf. Ich wusste nicht, ob sich etwas verändert hat, ob während des Krieges etwas passiert ist und noch alle Gebäude stehen würden. Aber im Grunde genommen war es schon sehr schön, dann endlich unten zu sein, dort, wo man hergekommen ist und wo meine Wurzeln sind. Von da an sind wir wieder öfter runtergefahren. Meinen unbefristeten Aufenthaltstitel habe ich dann endlich im Jahr 2009 erhalten, als ich 16 Jahre alt war.
Hat dich deine Fluchtgeschichte in deinem weiteren Leben beeinträchtigt?
Ich wurde ganz normal mit sechs Jahren eingeschult. So konnte ich dann relativ schnell die deutsche Sprache lernen und Freunde finden. In der Schule habe ich mich gut aufgenommen gefühlt und keinen großen Rassismus erfahren. Als Kind hatte ich sowohl deutsche als auch ausländische Freunde und ihre Herkunft spielte für mich überhaupt keine Rolle. Meine Eltern haben sich auch bemüht, die Sprache zu lernen, allerdings ist das im Alter schon schwieriger. In den Anfangszeiten war es dann schon so, dass es mein Zweitjob war, sie bei Papierkram zu unterstützen. Nach der Grundschule habe ich die Realschule abgeschlossen und danach eine Ausbildung gemacht. In dem gleichen Unternehmen arbeite ich jetzt immer noch. Ich hatte nie das Gefühl, dass meine Herkunft mich auf meinem Werdegang sonderlich beeinflusst hat, zumindest nicht ins Negative. Die Flucht hat mich in erster Linie also nicht beeinträchtigt.
Fühlst du dich hier in Deutschland vollständig angekommen?
Ein Teil von mir ist immer mit der Vergangenheit verbunden, das lässt sich nicht aus einem rausprügeln. Ich bin in Montenegro geboren und fühle mich immer wieder mit dem Land verbunden, wenn ich dort bin, auch wenn ich den Großteil meines Lebens in Deutschland verbracht habe. Ich fühle mich hier angekommen, aber teilweise nicht immer angenommen. Das mag wahrscheinlich mit der politischen Situation hier in Sachsen zu tun haben, als Kind war es wesentlich einfacher, da war es egal, woher man kommt. Aber gerade in den letzten Jahren merke ich, wie ich schief angeguckt werde, einfach weil ich ein bisschen südländisch aussehe. Wenn ich dann meinen Mund aufmache und mit den Leuten rede, dann schauen sie oft erstaunt. Ich bin dann der Ausländer, der vor dem „Aber“ kommt, der integrierte und arbeitende Ausländer. Ich wünschte mir, das wäre ein bisschen anders.
Was wünschst du dir für deine Zukunft, bezogen auf deine Herkunft?
Ich wünsche mir auf jeden Fall ein besseres Miteinander, auch in Zukunft. Und dass meine Kinder, sollte ich denn später mal welche haben, auf jeden Fall wissen, woher ihr Papa kommt. Dass sie von der Geschichte mit der Flucht wissen, vom Balkankrieg, von den ganzen Strapazen, die ihre Großeltern auf sich genommen haben, um hierher zu kommen. Das soll erhalten bleiben, weil ich das wichtig finde und weil man durchaus an solchen Erfahrungen wächst.
Was bedeutet Heimat für dich heute? Hat sich die Definition davon im Laufe der Zeit verändert?
Deutschland und Montenegro sind meine Heimat. Heimat ist für mich immer noch „ankommen“ und das war es auch schon damals bei der Flucht. Das hat sich nicht verändert. Ankommen und dort, wo man sich wohlfühlt, von seinem Umfeld angenommen werden – umgeben von seiner Familie.