„Die Kamera blende ich aus“

von | 15. Dezember 2011

Juliane Seifert ist als Familiencoach für verschiedene TV-Stationen im Einsatz. Im Interview spricht sie über Authentizität, ihren spannendsten Fall und die Kritik am Coaching-TV.

Wer mit Juliane Seifert (ehemals Kolletzki) spricht, merkt schnell, dass sie für ihren Beruf brennt. Immer authentisch, immer emotional: Wenn die 33-Jährige vor der Kamera arbeitet, ist sie oft die letzte Hoffnung für Obdachlose, Messies und überforderte Familien. Die ausgebildete Pädagogin war und ist als Aufräum- und Familien-Coach für „ProSieben“, „Sat.1“, „RBB“ und „RTL“ im Einsatz. Einige TV-Produktionsfirmen konzipieren immer wieder eigene Formate für Seifert.

Die „Super Nanny“ hat ja erst vor kurzem aufgehört. Ist das Ihre Chance?

Also ich muss ehrlich sagen, darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Dass sie das Handtuch geworfen hat, kann ich aber verstehen, weil das natürlich ein sehr gewagtes Fernsehen war, was sie gemacht hat. Im pädagogischen Bereich können schließlich nicht alle Meinungen abgedeckt werden, von daher ist es schwierig vor der Kamera jedem gerecht zu werden.

Katherina Saalfrank soll aufgehört haben, weil immer mehr gescripted worden sei. Wie viel ist echt?

Was bei der „Super Nanny“ abgelaufen ist, weiß ich nicht. Von meiner Arbeit kann ich nur sagen, dass meine Fälle leider echt waren. Leider, weil es ja wirklich viele große Probleme in Familien gibt. Ich hatte noch nie einen gespielten Fall. Und so habe ich auch alle Menschen behandelt und versucht zu helfen. Richtig zu helfen. Die Kamera blende ich dann aus.

Juliane Seifert vor der Kamera.

Was ist an Coaching-TV bedenklich?

Nicht diese Art von Fernsehen ist bedenklich. Ich persönlich finde aber, Pädagogik und Fernsehen sollte man menschenwürdiger umsetzen. Dazu gehört zum Beispiel das sofortige Eingreifen in Konfliktsituationen. Das heißt: Sobald ein Kind geschlagen wird, greife ich ein.

Wenn Sie fürs Fernsehen im Einsatz sind, haben Sie ja nur wenige Tage Zeit etwas zu verändern. Was fasziniert Sie dennoch an der Arbeit fürs TV?

Die Arbeit beim Fernsehen macht mir generell Spaß. Außerdem arbeite ich sehr gerne mit Menschen und für Menschen. Das ist positiver Stress. Ich habe auch keine Probleme, jemandem 20 Stunden vor der Kamera zu helfen. Wenn ich sehe, die Betroffenen machen Fortschritte, dann motiviert mich das unheimlich. Natürlich ist auch klar, dass ich in drei oder vier Tagen niemanden komplett ändern  kann. Aber ich möchte, dass der Stein ins Rollen gebracht wird. Ein kleiner Schritt ist ein großer Fortschritt.

Sie haben für öffentlich-rechtliche und private Sender gearbeitet. Gibt es da Unterschiede?

Ich habe bei beiden gleich viel Redefreiheit und konnte meine pädagogischen Wünsche und Ideen einbringen. Bei privaten Sendern hatte ich bisher sogar mehr Zeit als bei öffentlich-rechtlichen. Ich arbeite aber für beide gleich gern.

Juliane Seifert im Einsatz für Berliner Obdachlose.

Immer nachdem Sie sich das erste Mal durch eine Wohnung führen lassen, wirken Sie extrem geschockt. Haben Sie schon einmal Schauspieltraining genommen?

Ich habe noch nie in meinem Leben Schauspieltraining gehabt! Noch nie! Wenn ich das erste Mal zu Familien in die Wohnung komme, habe ich diese Wohnung vorher noch nicht gesehen. Ich weiß wirklich nur ganz kurz und knapp: Wer wohnt dort, wie viele Personen, wie viele Kinder, wie alt sind alle ungefähr? Ich weiß aber nun wirklich nicht im Detail, was mich vor Ort erwartet. Und wenn ich dann die Tür aufmache, passieren viele Sachen, mit denen ich nicht gerechnet habe. Daher kommt meine Reaktion. Oder besser gesagt Überreaktion, manchmal bin ich wirklich sehr geschockt.

Aber es würde Sie ja kein Sender in eine eben von Tine Wittler renovierte Wohnung schicken.

Dass ich nicht damit rechnen kann, dass eine Wohnung perfekt ist, ist klar. Ich habe auch schon viele schlimme Situationen gesehen. Trotzdem sehe ich immer wieder Dinge, die mich schocken. Wenn ich in eine Wohnung komme und mich ein kleines Kind an die Hand nimmt und sagt ‚Ich möchte dir gern mein Kinderzimmer zeigen‘ und ich stehe dann in einem bis oben zugemüllten Raum, dann bin ich sehr geschockt. Oder wenn ein Baby zwischen Bierflaschen liegt, dann geht so etwas nicht einfach an einem vorüber. Immer, wenn Kinder und Tiere im Spiel sind, hört es für mich auf: Das sind Sachen, die mich richtig rühren und auch traurig machen und das sieht man mir dann auch an.

Was war denn Ihr schlimmster Fall?

Mein schlimmster Fall? Ja, das war auch eine Geschichte, wo nachher viele gesagt haben: ‚Das ist so kriminell und erschreckend, das kann nicht echt sein.‘ Es ist aber echt. Ich habe damals zwei obdachlose Jugendliche in Berlin betreut, als wir uns zum zweiten mal treffen wollten, waren sie verschwunden.

Durch Zufall begegneten wir einem Kumpel von denen, der uns sagte, dass sie in der Nacht zuvor einen Einbruch begangen haben und von Berlin nach Hamburg geflüchtet sind. Dann musste es schnell gehen: Wir sind mit dem besagten Kumpel, dafür aber ohne Reporter los. Denn einerseits haben die Jugendlichen eine kriminelle Tat begangen und zweitens hätte ihnen mit den Drogen, die sie ja dabei hatten, etwas passieren können.

In Hamburg sind wir ihnen dann aufgelauert. Und ohne dass die zwei etwas geahnt hätten, kam ich mit der Kamera wieder auf sie zu. Am Ende ging ich mit den Jugendlichen zu einem Anwalt und riet ihnen, zur Polizei zu gehen.

Das oft tränenreiche Coaching-TV ist ja sehr umstritten. Warum?

Ich kann immer nur von mir ausgehen, über andere Coaching-Formate mache ich mir keine Gedanken. Gedanken mache ich mir aber über meine Arbeit, das ist viel wichtiger. Ich mache das ja schon ein paar Jahre. Wer mich beobachtet hat, weiß und sieht vor allem auch, dass es mir wirklich am Herzen liegt, den Leuten zu helfen. Sicherlich bleiben bei den meisten Reportagen Tränen nicht aus. Ich gehe da aber nicht rein und bringe die Leute zum Heulen. Sondern ich gehe da rein, biete Hilfe an und die Betroffenen merken, sie können mir vertrauen. Ich helfe ein Stück weit und finde die Ursache für ihre Probleme. Dass da viele Menschen emotional reagieren, ist normal.

Juliane Seifert bei ihrem spannendstem Fall.

Helfen die Fernsehautoren da nicht etwas nach?

In meine Arbeit wird überhaupt nicht eingegriffen, da ich ziemlich hartnäckig und geradlinig bin. Klar muss aus Zeitgründen mal das eine oder andere weggelassen werden. Wenn ein Sender aber Ideen hat, die nicht mit meiner pädagogischen Überzeugung übereinstimmen, dann sage ich: Nein, ich kann das nicht mit mir vereinbaren und glaubwürdig rüberbringen. Von mir ist aber auch noch nie etwas verlangt worden, was ich grundlegend ablehnen würde oder was nicht pädagogisch sinnvoll ist.

Angehende Sozialarbeiter bekommen in ihrer Ausbildung gesagt: „So wie die Coaches das im Fernsehen machen, so macht ihr das bitte nicht.“ Warum?

Wenn ich im Büro bin und ein Mensch mit Problemen zu mir kommt, habe ich viel mehr Zeit, da baue ich meine Arbeit ganz anders auf. Ich kann auf einem Dreh in zwei bis fünf Tagen aber auch nicht alles schaffen, das funktioniert nicht. Man muss fürs Fernsehen natürlich auch anders arbeiten, für die Kamera muss man vieles bildlicher darstellen. Ich arbeite nicht schlechter vor der Kamera. Ich muss aber anders arbeiten, als wenn ich zwei bis drei Jahre Zeit habe. Die Ideen für die Kamera kommen trotzdem bei meinem Gegenüber an. An Unis lernt man die Theorie und nicht, einem Menschen an einem Tag zu helfen.

Also glauben Sie, dass Sie den Betroffenen tatsächlich helfen?

Ich glaube es nicht. Ich weiß es. Was sie aber daraus machen, das kann ich nicht beeinflussen. Ich habe aber durchaus mit einigen Kontakt. Das beruhigt mich dann schon, zu sehen, dass es einigen Familien nach meinem Einsatz besser geht.

<h3>Marcel Fröbe</h3>

Marcel Fröbe