„Ich habe bis heute Probleme damit, mir zu vergeben.“ Talisa ist seit circa fünf Jahren kaufsüchtig, eingestanden hat sie sich das aber erst vor eineinhalb Jahren. Verleugnung, Schulden und fehlender Selbstwert beherrschen ihren Alltag.
Zwischen Verlangen und Kontrollverlust
Unter Oniomanie, beziehungsweise Kaufsucht, versteht man bislang eine Störung der Impulskontrolle, bei der eine Person ein zwanghaftes und übermäßiges Verlangen nach dem Kaufen von Produkten aufzeigt. Die aktuellen Forschungen deuten jedoch darauf hin, dass sie auch als Verhaltenssucht klassifiziert werden könnte. Das gekaufte Produkt steht bei einer Kaufsucht nicht im Vordergrund. Es geht vielmehr darum, seine negativen Gefühle durch den Kauf zu kompensieren. Etwa fünf Prozent der deutschen Bevölkerung sind stark kaufsuchtgefährdet. Die Dunkelziffer ist aber höher.
In einem Interview mit medienMITTWEIDA erzählt Talisa, dass es für sie einen bedeutenden Moment gab, indem sie sich eingestand, kaufsüchtig zu sein. „Den Moment, als ich alleine gewohnt habe und im Lidl mein Dispo so ausgereizt war, dass ich mir kein Essen mehr kaufen konnte, werde ich niemals vergessen.“ Doch mit einem Erkenntnismoment ist es bei einer Kaufsucht manchmal nicht getan. „Es gab dann noch einen Moment, wo ich mich nach vier Jahren von meinem damaligen Freund getrennt habe und wieder auf eigenen Beinen stehen musste. Ich musste mehr Geld fürs Leben haben und habe gemerkt, dass ich halt einfach keines habe, da ich zu viel gekauft habe.“
Zu den Ursachen einer Kaufsucht gehören schwierige Kindheitserfahrungen, die fehlende Fähigkeit, mit Geld umzugehen, aber auch spezifische Persönlichkeitsaspekte, wie Impulsivität. Psychologin Jennifer Klein arbeitet bei der Gesellschaft für Suchtforschung und -prävention im Bereich der Suchtberatung Dresden. In einem schriftlichen Interview mit medienMITTWEIDA erzählt sie, dass es eine hohe Komorbidität mit anderen psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen gebe.
Verhaltenssucht
Verhaltenssüchte sind substanzungebundene Abhängigkeiten. Eine Verhaltenssucht zeigt sich, wenn ein Verhalten in nicht mehr angemessenen Zeitabständen stattfindet, eine überdurchschnittliche Zeit in Anspruch nimmt und es eine Beeinträchtigung im Alltag einnimmt. Weiterhin wird ein starkes Verlangen, Kontrollverlust und die Fortsetzung trotz negativer Folgen beobachtet. Zu den Verhaltenssüchten zählen Glücksspielsucht, Kaufsucht, Sexsucht oder Computerspielsucht.
Komorbidität
Eine Komorbidität ist besser bekannt als Begleiterkrankung. Hierbei handelt es sich um das gleichzeitige Auftreten von zwei oder mehr Krankheiten oder Gesundheitszuständen bei derselben Person. In Fällen von psychischen Störungen kann eine Komorbidität durch zum Beispiel neurologische Erkrankungen ausgelöst werden. Dann wird die psychische Erkrankung zur Komorbidität der ursprünglichen Grunderkrankung. In dem Fall der Kaufsucht bedeutet es, dass es eine hohe Wahrscheinlichkeit gibt, dass sie zusammen mit Depressionen oder Angststörungen auftreten. Andersherum kann dies auch vorkommen.
Ein Problem mit dem Selbstwert
„Damit einhergehend finden sich in dem Zusammenhang auch oft Probleme mit dem Selbstwert“, erklärt Klein. Der Konsum ist für Betroffene der vergebliche Versuch, mit ihren Minderwertigkeitsgefühlen umzugehen. Dieser Ausgleich lässt sich auf die Aktivierung des Belohnungssystems zurückführen.
Auch bei Talisa ist das fehlende Selbstwertgefühl Auslöser der Kaufsucht gewesen. Sie ist der Ansicht, dass das überhaupt erst die Voraussetzung ist, dass man nach etwas süchtig wird. „In dem Moment, wo es dir schlecht geht, wo du dich vielleicht vergleichst oder nicht bei dir bist, wäre es gut in sich hineinzuhören und zu schauen, was man wirklich braucht. Aber dann greift man zum Handy, fährt irgendwo hin, holt sich Naschen oder bestellt was.“
Kaufsüchtige Menschen sind in dem Moment überzeugt, das erworbene Produkt auch wirklich zu benötigen. Ob das nun zehn Deos sind oder drei Weihnachtsbäume. Mit dem Erwerben des Produktes überdecken die Betroffenen ihre negativen Gefühle und steigern ihr Selbstwertgefühl für einen begrenzten Zeitraum.
„Klarna ist der Untergang“
Laut Talisa sei „Jetzt kaufen, später bezahlen“ aber der wahre Ruin für Menschen mit Kaufsucht. Für sie ist Kauf auf Rechnung, generell Onlineshopping so einfach, dass es die Kaufsucht unterstützt. Besonders durch die Covid-19-Pandemie verlagerte sich das Problem zunehmend ins Internet, wodurch das Problem verstärkt wurde. Das Kaufen ist nun nicht mehr von dem Ort und der Zeit abhängig, was zusätzlich dazu führt, dass sich soziale Kontakte vermeiden lassen. Die Suche nach Produkten und der tatsächliche Kaufprozess sind im Internet auch stark beschleunigt, was dazu führt, dass auch die Glücksgefühle schneller eintreten.
Vor allem die beim Zahlungsanbieter Klarna mögliche Ratenzahlung stellt für kaufsüchtige Personen ein erhöhtes Risiko dar, denn es ist leicht einzurichten und zu Beginn bleiben die direkten Konsequenzen erst einmal aus. Talisa ist auch in die Klarna-Falle getappt und stürzte sich so in Schulden im fünfstelligen Bereich. Für Betroffene sollte die wichtigste Frage immer vor dem Kauf sein, ob sie das Geld gerade haben. „Wenn ich es nicht habe, kann ich es nicht bezahlen, aber dann kommt Klarna und lässt uns auf die fast zwölf Prozent Zinsen scheißen, die wir noch in sechs Raten aufgeteilt bezahlen”, gibt Talisa zu.
Psychologin Klein sieht das Problem auch darin, dass Zahlpausen oder Rechnungskäufe die reale Finanzlage des Betroffenen verschleiern und es so für den Bekanntenkreis noch schwerer sei, die Suchterkrankung zu erkennen.
Der verharmloste Konsum
Getrieben von dem Wunsch, mit den neuesten Trends und Lifestyle Produkten mithalten zu können, besteht das Risiko, dass Menschen in eine Kaufsucht gelangen. Plattformen wie Instagram oder TikTok sind jedoch nicht mehr nur Wege der Kommunikation, sondern auch Schauplätze für einen der wichtigsten Aspekte unseres modernen Lebens: Konsum. Jedes Mal, wenn wir unser Handy anschalten, sehen wir Bilder und Reels von perfekt inszenierten Produkten und Menschen, die scheinbar ein glückliches Leben führen.
„In der Gesellschaft ist jeder am Handy, fast jeder hat coole Klamotten und dann ist Social Media der perfekte Einstieg, um sein fehlendes Selbstwertgefühl zu kompensieren“, teilt Talisa ihre Ansicht. Die ständige Präsentation des vermeintlich idealen Lebensstils und die Jagd nach Likes und Bestätigung beeinflussen das Leben.
Auch das Phänomen des Fear of Missing Out (FOMO) spielt eine große Rolle. Die Plattformen müssen ständig aktualisiert werden, damit nicht das Gefühl erzeugt wird, dass wir etwas verpassen. Dieses Gefühl tritt auch auf, wenn wir nicht ständig neue Produkte kaufen und unseren Lebensstil aktualisieren. Die Angst, nicht dazuzugehören, wird verstärkt.
Talisa hat die Erkenntnis gemacht, dass Kaufsucht auf Social Media oft verharmlost wird. Der #Kaufsucht wird auf Instagram überwiegend von Menschen genutzt, die ihre sogenannten „Hauls“ präsentieren und scheinbar humorvoll darüber jammern, wie anstrengend doch der Shoppingtrip wieder war. Dies geschieht oft im Zusammenhang mit dem weiteren Hashtag #gönnjamin, der eine scheinbare Belohnung für exzessiven Konsum darstellt. #Gönnjamin wird vorwiegend von Jugendlichen zur Beschreibung von Menschen genutzt, die sich gerne mal etwas Luxuriöses kaufen. Der Hashtag bedeutet also ungefähr soviel wie „Gönn dir”. Diese Art der Darstellung erschwert betroffenen Menschen, ernst genommen zu werden und verhindert auch die Suche nach anderen Betroffenen, wenn man selbst von der Kaufsucht betroffen ist.
Bis heute Probleme, sich selbst zu vergeben
Die Folgen einer Kaufsucht können in verschiedenen Lebensbereichen verheerend sein. Am offensichtlichsten sind wohl die Finanzen. Die Betroffenen verschulden sich extrem durch ihr exzessives Kaufverhalten. „Viele Betroffene erleben zumeist eine Verschlechterung ihrer finanziellen Situation, sodass private Schulden beziehungsweise externe Kredite aufgenommen werden“, erklärt Klein den Verlauf einer Kaufsucht.
Diese finanzielle Instabilität wirkt sich auch auf den Umgang im persönlichen Umfeld aus. Das extreme Kaufverhalten führt meist zu Geheimnissen, Vertuschungen oder Notlügen gegenüber der Familie und Freunden. Talisa hat sich durch ihre Kaufsucht viel Geld von ihren Eltern geliehen. „In dem Moment, wo du nicht checkst, dass du ein Problem hast, merkst du auch nicht, dass du eine Beziehung zu einem Menschen zerstörst“, gibt sie zu. Bis heute ist das Vertrauen zwischen ihr und ihren Eltern beim Thema Geld schwierig. Neben ihren Eltern hat das Ganze auch das Verhältnis zu ihrem damaligen Partner nachhaltig verändert, was sie jedoch erst nach der Trennung realisierte.
Das Thema Geld ist eines der Hauptstreitthemen in Beziehungen. Eine Umfrage von verivox und Paarship zeigt, dass jede vierte Person sich schon einmal über Finanzen in der Beziehung gestritten hat. Für jede zehnte Person war dies sogar der Trennungsgrund. Wenn jedoch eine Kaufsucht im Raum steht, geben die Personen das Geld nicht freiwillig, sondern aufgrund ihres Krankheitsbildes aus. Meist wird dann über eine mögliche Therapie gesprochen. Menschen wie Frau Klein und Talisa sehen dort aber ein Problem. Beide sind sich einig, dass die Versorgungslage in Bezug auf Kaufsucht in Deutschland noch recht mangelhaft ist und viele Beratungsstellen noch kein spezifisches Angebot haben.
Talisa kritisiert die widersprüchliche Botschaft in der Gesellschaft: „Es wird viel über Klimaschutz geredet und dass man Ressourcen sparen sollte, aber trotzdem läuft die Werbung.“ Sie fühlt sich ziemlich alleine gelassen mit dem Thema und ist sich sicher, dass man nur für sich selbst entscheiden kann, dass man sich nicht von dieser konsumfördernden Werbung beeinflussen lässt.
Eine Kaufsucht, die nie endet
Frau Klein ist wichtig, dass „Sucht eine chronische psychische Erkrankung darstellt und es per se keine Heilung gibt. Anders als bei einer stoffgebundenen Sucht, wie zum Beispiel bei Alkohol, funktioniert hier Abstinenz nicht”, fügt Klein hinzu. Auch Talisa selbst ist sich sicher: „Ich bin nicht geheilt. Ich werde es auch mein Leben lang in mir tragen.” Beide sind sich einig, dass Betroffene jedoch lernen können, damit umzugehen, ihr Leben nach gewissen Regeln auszurichten und immer achtsam bei Einkäufen zu sein.
Text: Karolin Nemitz, Titelbild: Nicolas Lieback via Adobe Firefly