Kinder aus Suchtfamilien

Im Schatten des Alkoholismus

von | 19. Januar 2024

Wenn Kinder unsichtbar werden – wie ist das Leben mit einem alkoholkranken Elternteil?

Triggerwarnung: Der folgende Text enthält sensible Beschreibungen im Zusammenhang mit Alkoholabhängigkeit, familiären Traumata und psychischem Leiden. Die beschriebenen Erfahrungen können bei einigen Leser*innen unangenehme Gefühle oder emotionale Belastungen hervorrufen. Wenn du Probleme mit diesen Themen hast, lies den Beitrag nicht alleine oder meide ihn ganz.

Seltene Momente der Liebe und Sicherheit prägen den Alltag einer Familie. Tanja* erlebte eine traumatische Kindheit – ihre Mutter ist Trinkerin. Ein Schicksal, das sich in Deutschland Millionen von Kindern teilen. Über Alkoholabhängigkeit wird häufig gesprochen, über das schweigende Leiden der betroffenen Kinder zu selten.

Mama trinkt

Tanja wuchs mit ihren Geschwistern bei einer alkoholkranken Mutter auf, der Vater war berufsbedingt selten zuhause. Auf dem Heimweg von der Schule fragte sie sich als Kind immer, wie es heute sein würde und hoffte, ihrer Mutter nüchtern zu begegnen. „Jeder Tag, an dem sie Alkohol trank, machte mir damals Angst. Betrunken ist sie auch heute noch unberechenbar“, sagt die heute 23-jährige Tanja in einem Gespräch mit medienMITTWEIDA. Schätzungsweise 2,65 Millionen Kinder und Jugendliche leben bundesweit in einer Familie mit mindestens einem alkoholkranken Elternteil. Betroffene Kinder begegnen dem Problem meist mit einer früh erlernten Schutzstrategie – sie gehorchen den ungeschriebenen Gesetzen des Suchtsystems:

Rede nicht! Sprich mit niemandem über das, was in der Familie vor sich geht.

Vertraue nicht! Deine Wahrnehmung stimmt nicht. Nur was deine Eltern dir sagen, ist wahr. (Also: „Mama hat nichts getrunken!“)

Fühle nicht! Verstecke deine Gefühle, wenn du dich fürchtest, traurig oder wütend bist. Für deine Gefühle gibt es keinen Grund, denn bei uns ist alles in Ordnung. 

Stilles Leiden

Diese drei Gesetze haben für die seelische Entwicklung des Kindes gravierende Folgen: Es führt zu tiefen Scham- und Schuldgefühlen. „Als Kind habe ich oft gedacht, ich bin verantwortlich dafür, dass meine Mutter trinkt“, erzählt Tanja. Sie hatte das Gefühl, nicht „normal“ zu sein und schämte sich: „Ich versuchte, unsere familiäre Situation vor anderen zu verbergen und habe Lügengeschichten erzählt. Ich fühlte mich verpflichtet, meine Eltern nicht zu verraten.“ Selbst ihrer Großmutter habe Tanja nie erzählt, was sie zu Hause erlebte.

Kinder suchtkranker Eltern lernen automatisch, die Sucht der Eltern zu vertuschen, sagt Henning Mielke, ehemaliger Vorsitzender des Vereins Nacoa, einer Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien, gegenüber dem Spiegel. In der Familie werde häufig geheim gehalten, dass es ein Alkoholproblem gibt – nicht nur vor den Kindern, sondern auch nach außen. Familien schotten sich daher häufig ab. Alkoholabhängigkeit ist eine schleichende Krankheit, die sehr lang unter der Oberfläche gehalten werden kann. Das Problem: der Alkoholkonsum der Eltern wird zur Normalität der Kinder.

Vergessene Kinder

Die meisten Kinder und Jugendlichen lernen schon früh, sich auf die Krankheit ihrer Eltern einzustellen. Wenn ihre Mutter wieder trank, suchte Tanja mit ihren Geschwistern das Haus nach Flaschen ab, meistens Wein und Schnaps. „Wir versteckten den Alkohol oder schütteten ihn in den Abfluss, um ihren Konsum zu kontrollieren. Oft mussten wir ihr auch den Autoschlüssel wegnehmen, wenn sie betrunken los fahren wollte“, sagt Tanja. Damals versuchte sie alles, damit ihre Mutter endlich aufhört: „Ich schrie sie an, ich redete ruhig mit ihr, ich weinte vor ihr. Aber sie machte einfach weiter.“

Damit Kinder im Suchtsystem überleben können, kommt es oftmals zum Phänomen der Parentifizierung: Dabei vermischen sich die Rollen von Erwachsenen und Kindern, die früh ein hohes Verantwortungsgefühl für ihre Eltern entwickeln und sich um ihre Bedürfnisse kümmern. Sie werden zu den Eltern ihrer Eltern. In Familien mit Alkoholproblemen vernachlässigen Eltern häufig die emotionalen Grundbedürfnisse der Kinder. Sie werden in der Literatur daher auch als „vergessene Kinder“ bezeichnet, weil die Gedanken beider Elternteile ständig um die Sucht kreisen. „Das Kind kann das nicht verstehen, es wird immer meinen, es selbst sei die Ursache für die Probleme“, so Mielke, ehemaliger Vorsitzender des Vereins Nacao, gegenüber der TAZ.

Parentifizierung

Die Parentifizierung ist ein Entwicklungstrauma. Es kehren sich die Rollen in der Eltern-Kind-Beziehung um, was zu Spätfolgen führt, wie geringes Selbstwertgefühl, fehlende Grenzen, Überforderung, Schuld- und Schamgefühle, übertriebenes Harmoniebedürfnis, Suchtverhalten, überhöhtes Pflichtgefühl.

Kindheit in Alkohol getränkt

Das exzessive Trinken ihrer Mutter wurde mit der Zeit immer häufiger. Eines Abends kam sie in das Kinderzimmer von Tanja und drohte ihr mit Schlägen. „Ich schrie sie an und sagte ihr, dass sie zuschlagen soll, damit ich endlich die Polizei rufen kann.“ Stattdessen schmiss ihre Mutter einen Schrank um und zwang Tanja danach dazu, alles wieder aufzuräumen. „Im Rausch sagte sie manchmal, meine Geschwister und ich hätten Schuld daran, dass sie trinkt.” An solchen Tagen existierten sie nicht als ihre Kinder, sondern waren der Sündenbock ihrer Probleme. Tanja habe ein ständig unsicheres Verhältnis zu ihrer Mutter entwickelt: „Am nächsten Tag war sie plötzlich wieder die fürsorgliche Mutter, die ich liebte, als hätte sie alles vergessen.“ In manchen Monaten sei es mehrmals pro Woche zum Rauschtrinken gekommen, fast immer waren sie als Kinder auf sich allein gestellt.

„Zuhause drehte sich alles um Alkohol. Wenn mein Vater nach Hause kam, stritten sie sich.“ Oft ging es um die Frage, warum sie schon wieder trinkt. „Wir mussten nie körperliche Gewalt erfahren, aber wenn ein Streit zwischen meinen Eltern eskalierte, zerstörten sie Möbel oder schmissen Gegenstände nach sich. Meine Mutter drehte einmal durch und würgte meinen Vater.“ Aus Angst, dass Schlimmeres passiert, rief der damals neun Jahre ältere Bruder die Nachbarn um Hilfe. Das familiäre Klima mit suchtkranken Eltern ist geprägt von einer Atmosphäre der Unsicherheit, Unberechenbarkeit und Angst. „Für die betroffenen Kinder gibt es nur eine Sicherheit: Nichts ist sicher“, sagt Henning Mielke. In Alkoholfamilien gibt es keine klaren Grenzen. Neben Vernachlässigungen komme es überdurchschnittlich oft zu Missbrauch, körperlicher Gewalt und sexuellen Übergriffen, führt er fort.

Geißel der Sucht

Die elterliche Suchterkrankung kann bei Kindern zu sozialen oder psychischen Störungen, wie Depressionen, Angstzuständen und Essstörungen, bis hin zur eigenen Abhängigkeit führen. Das Risiko, eine psychische Krankheit zu entwickeln oder später selbst abhängig zu werden, ist sechsfach höher als bei gleichaltrigen Kindern aus nicht suchtbelasteten Familien. Mehr als 30 Prozent von ihnen werden im Laufe ihres Lebens alkoholabhängig. „Oft führen Rollenmuster zur Sucht, da es die Kinder durch das Vorbild ihrer Eltern nicht anders kennengelernt haben“, erklärt Anke Zergiebel, Sozialpsychiatrische Fachkraft der Sozialtherapeutischen Wohnstätte in Seifersbach gegenüber medienMITTWEIDA.

„Obwohl ich jahrelang miterlebt habe, was Alkohol bei Menschen anrichtet, habe ich selbst irgendwann angefangen exzessiv zu trinken“, erzählt Tanja. In den darauffolgenden Jahren kam der Konsum von Schmerzmitteln dazu. „Ich habe damals versucht, den Schmerz und die Hilflosigkeit zu verdrängen.“ Als ihre Mutter immer öfter durchdrehte und kein vernünftiges Gespräch mehr mit ihr möglich war, zog sie aus. „Ich wollte vergessen, wie es zuhause ist, aber irgendwann habe ich nur noch geweint.“ Tanja entwickelte Angststörungen, die zu Suizidgedanken führten. Erst da verstand sie, dass sie auch Hilfe braucht und begann eine Psychotherapie.

„Ich bin nicht schuld“

Es ist jedoch kein zwangsläufiges Schicksal, dass Kinder aus alkoholkranken Familien psychische Erkrankungen entwickeln oder selbst alkoholabhängig werden. Etwa ein Drittel zeigt eine hohe Resilienz, also die Fähigkeit der kindlichen Seele, belastende Einflüsse ohne dauerhafte Schäden zu überstehen. Als wichtigster Schutzfaktor, um die Resilienz von Kindern zu fördern, sind sichere Beziehungen zu anderen erwachsenen Bezugspersonen. „Das können eine liebevolle Großmutter sein, Lehrer, Freunde oder Menschen aus der Nachbarschaft“, sagt Anke Zergiebel. Dadurch könnten Kinder Liebe erfahren und Schuldgefühle durch Verständnis genommen werden.

Tanja erkannte durch die Therapie, dass sie ihre Mutter nicht retten kann, sondern übernahm die Verantwortung für ihr eigenes Leben. Auch wenn es oft weh tat, weiß die 23-Jährige heute, dass sie nicht schuld und ihre Mutter krank ist. Alkoholabhängigkeit wird häufig fälschlicherweise als selbstverschuldet oder als Folge einer Charakterschwäche betrachtet. Eine Sucht ist eine Krankheit. „Ich liebe meine Eltern trotzdem und glaube, sie lieben uns auch. Aber ich kann ihnen nicht verzeihen, was sie uns jahrzehntelang angetan haben”, sagt sie.

*Name geändert

Text und Titelbild: Annabell Winhart
<h3>Annabell Winhart</h3>

Annabell Winhart

Annabell Winhart ist 27 Jahre alt und studiert derzeit im 5. Semester Medienmanagement an der Hochschule Mittweida. Seit dem Wintersemester 2023 engagiert sie sich als Mitarbeiterin des Resorts Gesellschaft bei medienMITTWEIDA.