Hörspiele und Hörbücher-Angebote sind längst im Netz abrufbar. Mit dem 24-Stunden-Webradio „hörbuchFM“ und dem Crowdfundig-Projekt „Radiorollenspiel“ erlebt der Hörer eine neue Art der Radio-Unterhaltung. Und dabei liegen Abruf- und Hörerzahlen wohl längst in ungeahnten Höhen.
Der wärmste Frühlingstag seit langem. Kaffeetrinken und ausgelassene Gespräche mit Freunden im Biergarten. Einfach herrlich. Eine heftige Explosion ganz in der Nähe erschüttert plötzlich die Ruhe. „Das ist genau die Art von Szene, in der die Hörer selbstständig die Geschichte fortsetzen sollen“, sagt Marcus Richter, Radiojournalist und Mitgründer des Projektes „Radiorollenspiel“.
Passiver Hörer wird aktiver Mitspieler
Im Gegensatz zu vorproduzierten Hörspielen und Hörbüchern mit linearem Handlungsstrang verfolgt die Ausstrahlung eines Rollenspiels im Radio einen komplett anderen Ansatz: „Es ist eine Geschichte, die einen Ausgangspunkt hat, wo überhaupt nicht klar ist, was darin passiert und wie das Ganze ausgeht“, erklärt Marcus Richter, ehemalige Moderator des Jugendradios „Fritz“ vom rbb. Vorab wurde zwar eine komplett durchgeplante Version der Geschichte entworfen, die jedoch im Laufe des Spiels durch den Input der Hörer vollkommen verändert wird. Eine intensive Hörerbindung zum Sender beziehungsweise zum aktuellen Programm wird also dadurch erzeugt, dass der Hörer selbst die „Hauptrolle“ innehat. Moderatoren und Soundspezialisten reagieren lediglich als „Nebenrollen“ auf direkte Eingaben der Anrufer.
Comeback des Hörbuchs im Web
Das Webradio „hörbuchFM“ nutzt dagegen eine andere Variante um potentielle Hörer anzusprechen. Dort sind es die Social Media-Kanäle wie Facebook und Twitter. „Die Nutzer müssen nicht dauerhaft ‚hörbuchFM‘ hören, sondern können durch unsere Programmhinweise in sozialen Netzwerken bei Interesse einschalten“, erklärt der Webradio-Verantwortliche Sebastian Hensel. Das ausschließlich spendenfinanzierte Radio strahlt täglich 24 Stunden Hörspiele und Hörbücher komplett kosten- und werbefrei aus.
„Internetradio ist der absolute Zukunftsmarkt zur Unterstützung solcher Hörspiel-Formate, weil es eben nicht limitiert ist und interaktiv sein kann“, meint Hensel. Chefdramaturg Manfred Hess des Radiosenders SWR2 ist diesbezüglich anderer Meinung: „Die Frage nach der Mitgestaltung der Hörerschaft dürfte gewiss nicht des Rätsels Lösung sein, um ein Massenpublikum zu erreichen.“ Die Nutzungszahlen von Hörspielen und Hörbüchern im öffentlich-rechtlichen Rundfunk bewertet er − trotz Linearität – erfahrungsgemäß allerdings alles andere als gering: „Die angeblich geringen Abrufzahlen bei anspruchsvollen Projekten − plus der Hörerzahlen bei der Ausstrahlung im Radio − bewegen sich durchaus in Höhen, von denen Buchverlage nur träumen können.“
Betrug am Hörer?
„Wer im Netz sucht, der findet.“ Das Angebot von Hörspielen und -büchern im Internet sei groß. Dadurch habe sich die Politik der Sender mittlerweile geändert, führt der SWR2-Chefdramaturg weiter fort. So hat der Hörer täglich die Möglichkeit, im Netz bereits ausgestrahlte Hörbücher und Hörspiele bei einzelnen Landesmedienanstalten, beim Deutschlandradio oder Deutschlandfunk als kostenlosen Download herunterzuladen.
„Hier findet ein kleiner Etikettenschwindel statt. Es werden vielfach von den Hörverlagen Lesungen und Hörspiele als ‚Audiofile‘ angeboten, die von Haus aus qualitativ aufwändige Produktionen der öffentlich-rechtlichen Sender sind“, meint Hess. Somit sind die Sender die eigentlichen Produzenten. Nach Hess könne also eine Produktion unter gleichem Namen auf der Webseite des Senders heruntergeladen werden und gleichzeitig auf kostenpflichtigen Portalen wie „Audible“ existieren.
Digitale Wettbewerber Seite an Seite
Längst spielen kommerzielle digitale Wettbewerber auf dem Hörspiel-und Hörbuchmarkt keine unwesentliche Rolle mehr. Einer der führenden Marktteilnehmer ist „Audible“ von Amazon. Mit rund 50.000 angebotenen, mehrsprachigen Titeln ist das Unternehmen einziger Hörbuch-Partner von Apple iTunes. „Diese neuen Anbieter erhöhen nur das Interesse an der akustischen Erzählform“, meint Hess zu den Wettbewerbern.
„Bei ‚hörbuchFM‘ hingegen kann der Hörer den ganzen Tag im laufenden Programm Neuproduktionen entdecken, die er bei ‚Audible‘ niemals gekauft hätte.“ Deshalb seien die genannten Anbieter auch keine direkten Konkurrenten, weil diese unterschiedliche Ansätze verfolgen, erklärt „hörbuchFM“-Chef Sebastian Hensel. „Im Radio laufen immer Inhalte, die ich mir selbst nicht ausgesucht habe, die mich aber möglicherweise interessieren“, fügt der Radiojournalist Marcus Richter hinzu.
Spotify überzeugt als Anbieter weniger
Das Angebot durch Streaming-Dienste wie Spotify sieht Richter allerdings weniger euphorisch: „Hörspiele sind für Spotify so eine Art ‚Nebenher‘, also ‚Wir haben das auch‘. Aber sie werden damit nicht den Markt aufrollen, schon allein, weil Eigenproduktionen überhaupt nicht gegeben sind.“ Hess führt diesen Standpunkt weiter aus: „Fest steht aber, dass auf diesen Plattformen in der Regel nur Produktionen laufen, die sich auch verkaufen lassen“. Ohne die Sender gäbe es kein „High Quality Radio Play“ oder „Minderheitenprogramm“, denn das koste schließlich.
Teamarbeit Hörspiel-Produktion
Auch das Format „Radiorollenspiel“ ist aufgrund des Konzepts zur Vermeidung möglicher Lücken im Handlungsstrang sehr aufwändig, da inhaltliche und technische Rahmenbedingung so genau wie möglich definiert werden müssen. „Wir wollen einen Raum vorgeben, indem die Spieler sich bewegen können – also keinen festen Parcours. Deswegen werden Lücken in Kauf genommen, aber es wird so viel Szenerie am Rand aufgebaut, dass die Lücke quasi keine Lücke ist, sondern eine Weggabelung“, erklärt Projekt-Mitwirkender Marcus Richter. Die Umsetzung ist somit vergleichbar mit Improvisationstheater. „Der schlimme Trick der Radiomacher ist natürlich: Wenn es ganz finster wird, kann man immer noch einen Song spielen und sich kurz beraten“, scherzt Richter. Das Crowdfunding-Projekt „Radiorollenspiel“ erlebte am 30. Mai mit Ausstrahlung auf dem Webradio „detector.fm“ seine Premiere.
Text: Annika Hauke. Bild: jeff_golden. Bearbeitung: Susann Kreßner.