Gutjahr beschreibt Blogger und Netzaktivisten als „fünfte Gewalt“ – als Kontrolleure der Kontrolleure. Doch sei es fatal und gefährlich, das weltweite Netz als „Moralpolizei“ zu sehen, meint medienMITTWEIDA-Redakteur Johannes Pursche.
Ob Guttenberg oder Haderthauer – eines haben sie gemeinsam: Ihre Vergehen wurden aus dem Internet heraus entdeckt. Von Leuten, die Doktorarbeiten auseinandernehmen, Aussagen von Politikern überprüfen und Dinge entdecken, die den Massenmedien entgehen. Richard Gutjahr, freier Journalist unter anderem für „Krautreporter“, stellt in seinem letzten Artikel die Frage in den Raum, ob die Netzgemeinde neben Exekutive, Judikative, Legislative und den Medien als „fünfte Gewalt“ gilt. Sie würden auch dann noch an Skandalen dranbleiben, wenn sich die allgemeine Medienlandschaft schon wieder mit anderen Dingen beschäftigt. Eigentlich eine gute Sache, doch die Web-Community als „Sittenwächter“ zu sehen, ist zu weit hergeholt.
Zwischen 9gag und youporn
Die Internetlandschaft besteht meiner Meinung nach immer noch überwiegend aus Trollen und gefährlichem Halbwissen. Zwischen den unzähligen Porno- und Witzseiten finden sich zwar auch einige seriöse Internetseiten und sogar richtig gute Blogs, doch die Mehrheit der User glänzt weitestgehend nur bei irgendwelchen Shitstorms. Wie kann man mit dieser Grundlage ein sich immer wieder wandelndes und immer unberechenbares Medium als Machtinstanz ansehen? Wer es drauf anlegt, kann im Internet auch viel Unfug treiben, der dann ganz schnell zu einem „Skandal“ wird. Schnell sind im Netz falsche oder halbwahre Behauptungen aufgestellt, die „Crowd“ tobt, es wird reagiert. Da schlampen auch die Massenmedien. Es werden Informationen und Behauptungen von Blogs oder Ähnlichem übernommen, ohne sie vorher genau zu überprüfen. Wie zum Beispiel mit dem falschen Twitter-Account von Ferrari.
Okay, ein eher harmloseres Beispiel, aber wie schnell ist der nächste Schritt gemacht? Wenn Menschen oder Unternehmen mit falschen Tatsachen öffentlich diskreditiert werden und die Masse darauf eingeht – ein gemeinsames Feindbild entsteht.
Die dunkle Seite der „Macht“
So zum Beispiel 2012 in Kanada: Dort nahm sich ein 12-jähriges Mädchen aufgrund von Cyber-Mobbing ihr Leben. Nach ihrem Tod durchforsteten die Ermittler das Internet, jedoch ohne Erfolg. Doch einige Tage später meldete sich die Hacker-Gruppe „Anonymous“ mit Bild, Adresse und Name eines Mannes – des Mannes, der verantwortlich für das Mobbing gewesen sein soll. Sofort war der Mann das Hassobjekt des Internets, erhielt mehrere Morddrohungen – ein Wunder, dass es bei Drohungen geblieben ist. Denn schnell kam heraus, dass der Mann überhaupt nichts mit dem Mädchen zu tun hatte. Doch die „fünfte Gewalt“ hatte schon geurteilt. Es ist im Netz also sehr einfach, diese „Gewalt“ auch mit falschen Informationen zu füttern und zu manipulieren.
Noch ein weiteres Beispiel dazu: 2010 waren laut der „Islamischen Religionsgemeinschaft Berlin“ 90% aller Insassen in Berliner Haftanstalten Muslime. Schnell griffen tendenziöse Blogs und Internetseiten die Geschichte auf und verbreiteten sie. Problem nur, dass diese Religionsgemeinschaft meiner Meinung nach alles andere als seriös, geschweige denn als ordentliche Quelle angesehen werden kann. In Berlin gab es schon mehrere Betrugsverfahren, der Bezirk Neukölln distanziert sich sogar weit von dieser nicht offiziellen Gemeinschaft. Diesen Fakt mit den 90% Insassen hatte sich einfach jemand ausgedacht und im Internet verbreitet. Dass so eine Zahl realistisch gesehen überhaupt keinen Sinn macht, sei mal außer Frage gestellt.
Wer sagt mir also, welche Informationen wirklich stimmen? Welcher Blog ist seriös? Wenn selbst die Massenmedien versagen, wem kann ich dann vertrauen? Das wird einem dann wahrscheinlich nur die eigene Vernunft sagen können – oder eine ordentliche Recherche. Doch diese scheint viel zu oft zu fehlen im Netz. Da wird zuerst geschossen und danach erst gefragt.
Ich behaupte nun mal, dass es für die große Masse kaum relevant ist, woher bestimmte Informationen stammen. „Hab ich im Internet gelesen“ wird wohl die meistverwendete Quelle neben Wikipedia sein. Die Quellen wirklich nachzuvollziehen ist nicht wirklich schwer, doch machen es die wenigsten. Dafür sollten dann eigentlich die großen Medienhäuser zuständig sein. Sie sollten neutral und unabhängig dafür sorgen, dass wichtige Informationen im Netz erhalten bleiben und verbreitet werden. Sie müssten die wichtigen Recherchen anstellen, damit ich als Nutzer eine Vertrauensbasis aufstellen kann – nicht andersherum. Das Internet kann keine solche Grundlage schaffen, dafür ist es viel zu undurchsichtig.
Der feine Unterschied
Wichtig ist, dass die meisten Blogs eine subjektive Meinung wiedergeben. Die Wenigsten berichten neutral über die verschiedensten Themen. Durch die Anonymität des Internets ist es schließlich auch viel besser möglich, das „Hinz und Kunz“ ihre Meinungen verbreiten – so wie ich hier natürlich auch. Schon allein dieser Umstand wird schnell vergessen und Behauptungen werden ungefiltert übernommen. Hier muss sich jeder Nutzer selbst kümmern, eine eigene Kontrolleinheit bilden. Jedoch für sich selbst, um eben nicht alles zu glauben, was irgendjemand irgendwo mal ins Internet geschrieben hat.
Der Blog, auf den sich Gutjahrs Artikel bezieht, ist eigentlich auch „nur“ ein Literatur-Blog und hat mit korrupter Politik, Ministern und psychiatrischen Anstalten eher weniger zu tun. Trotzdem deckte man mit diesem einen Skandal auf. Die Quellen stimmten, es wurde präzise recherchiert und Journalisten und Blogger arbeiteten zusammen. Ich möchte nicht bestreiten, dass eine unabhängige Kontrolleinheit (denn das Internet ist in seiner Gesamtheit unabhängig) komplett schlecht wäre. Doch denke ich nicht, dass die Internet-Community – Netzaktivisten und Blogger – schon so weit sind, diese eine „Verantwortung“ zu tragen.
Ein überwiegend anarchisches System sollte niemals so eine große Macht besitzen. Denn wer kontrolliert dann die „fünfte Gewalt der Selbstjustiz“, wenn doch mal wieder daneben geschossen wurde?
Text: Johannes Pursche. Bild: Christine Wolf. Bearbeitung: Louisa Bandura.