Das Christentum steckt in Deutschland in einer Krise, die zum Teil selbstverschuldet, zum Teil Ergebnis eines generationellen Umdenkens ist. Immer mehr Menschen hinterfragen ihren Glauben und die Kirchen. Brauchen wir unbedingt noch Religion in unserem Leben? Oder ist sie uns eher eine Last?
Adam war zuerst da
Gott ist überall. Dieser faktisch dubiose Sachverhalt lässt sich zum einen in der Bibel lesen, ist aber in unserer Lebensrealität auch für Ungläubige klar zu erkennen: In unserer Kultur findet sich der christliche Glaube in Kirchen, Feiertagen und sogar Sprichwörtern wieder. Ich persönlich hatte meinen aktuellsten Kontakt mit Gott vor ein paar Tagen, als sich einer seiner Jünger in der Form eines alten Bekannten bei mir über WhatsApp meldete. Dieser erzählte mir begeistert und von zahlreichen Bibelversen begleitet von dem evangelischen Theologie-Seminar, an dem er derzeit teilnimmt und nach dessen Abschluss er und seine Kommilitonen als Pfarrer arbeiten werden. „Kommilitonen“ ist hierbei kein Gender-Fehler, sondern Programm – das Seminar ordiniert nur Männer. „Der Hauptgrund ist, dass Gott zu Beginn der Erde Adam zuerst erschaffen hat und dann Eva“, schrieb mein Bekannter wie selbstverständlich auf meine Frage nach dem „Warum“. Männer sollten die Hauptleitung in einer Gemeinde übernehmen, denn bei Pfarrerinnen würden sich die männlichen Gläubigen ja möglicherweise von dem Äußeren des Gegenübers ablenken lassen.
Büfett der Ideologien
Ich fühlte mich, als hätte ich eine spontane Zeitreise ins Mittelalter vollzogen – oder wahlweise in eine fundamentalistisch-katholische Kirche. Wie können gebildete Menschen im 21. Jahrhundert solch veraltete Weltanschauungen verbreiten? Waren die letzten paar Jahrhunderte Frauenrechtsbewegung umsonst, nur weil ein alter Wälzer was anderes behauptet? Etwas Recherche zeigte, Gott sei Dank, dass das Seminar wohl nur ein extremistischer Ausreißer ist und zumindest die evangelische Kirche sehr wohl auch Frauen das Amt des Pfarrers zugesteht – unter anderem als Folge eben jener Frauenrechtsbewegung.
Trotzdem wurde ich das Gefühl von Déjà-vu nicht los. Wie oft schon habe ich die unheilige Dreifaltigkeit von Sexisten, Rassisten und Homophoben mit der Bibel argumentieren gehört, um ihre aus der Zeit gefallenen Meinungen zu legitimieren: Seien es die überwiegend christlichen „Pro-Life“-Vertreter, die „gottgegebenes Leben“ um jeden Preis schützen und dabei Frauen die Kontrolle über ihren Körper nehmen wollen. Seien es Bischöfe, die gleichgeschlechtliche Ehen immer noch verdammen, obwohl selbst die katholische und evangelische Kirche ihre jahrzehntelange Ablehnung davon langsam überdenkt. Oder seien es Brandstifter im hellblauen Anzug und mit braunem Hirn, die eine Bedrohung des christlichen Abendlandes fabrizieren, um den Islam und seine Anhänger zum Feindbild zu erklären. Die Bibel lehrt Nächstenliebe, doch die genaue Auslegung ihrer Verse lässt wohl auch aufgrund ihres frischen Alters von über 2000 Jahren viel Spielraum für Interpretationen. So wird der religiöse Glaube zum All-You-Can-Eat-Büfett, dessen sich jeder zum Anlocken hungriger Lämmer bedienen kann.
Aus der Zeit gefallen
Welcher Glaube genau, ist dabei übrigens wenig relevant. Ich schreibe als ein in einem christlich-geprägten Land aufgewachsener Mensch hier zwar hauptsächlich über das Christentum, aber im Kern sind sich die Weltreligionen in Struktur und Funktion alle recht ähnlich. So gaben sie, soziologisch betrachtet, unter anderem eine Richtlinie für moralisch korrektes Handeln vor und dienten als Quelle für einen Sinn des Lebens. Doch das Präteritum kommt nicht von ungefähr: Die meisten großen Weltreligionen entstanden zu einer Zeit, in der politische, juristische und soziale Verhältnisse meilenweit von denen unserer modernen Gesellschaft entfernt waren. Ein solcher moralischer Kodex, wie ihn unter anderem das Christentum mit der Bibel stellte, hatte da durchaus noch eine regulierende Wirkung. Ganz abgesehen davon, dass das Leiden der Armen und Schwachen sich mit dem Glauben an die Erlösung nach dem Tod sicherlich leichter ertragen ließ, dem Himmel sei Dank. Auch heute hat Religion vor allem in armen Ländern für viele Menschen noch einen hohen Stellenwert, doch wir und andere Industrienationen haben einen nie dagewesenen Grad an Lebensqualität und sozialer Gerechtigkeit. Wofür also brauchen wir die Anleitung noch, wenn sich die Spielregeln komplett geändert haben?
Glaube geht auch ohne Religion
Einer der Konfliktpunkte von Religion hat jedoch die Zeiten überdauert und ist auch heute noch sehr relevant: Sie ist ein hervorragendes Unterscheidungsmerkmal, welches allzu oft von ambitionierten Leitfiguren für die Einteilung von ihnen und ihren Widersachern in ein „uns“ und „die Anderen“ genutzt wurde. Durchaus bequem für die Schäfchen unter den Herolden, sorgt ein klares Feindbild schließlich für ein Zugehörigkeitsgefühl und senkt die Skrupel gegen Gräueltaten. Leider führten – und führen auch heute noch – eben jene, letztlich völlig künstlich erzeugten Unterscheidungsmerkmale regelmäßig zu religiös motivierten oder zumindest angetriebenen Kriegen mit Millionen von Opfern. Aber mal angenommen, dass es diesen blutigen Aspekt nicht gäbe: Wer braucht in unserer heutigen, individualistischen Gesellschaft noch ein jahrtausendealtes Konzept wie Religion, um sich zugehörig zu fühlen?
Das Verlangen, Teil einer Gruppe zu sein, ist inhärent menschlich und somit natürlich auch heute noch permanenter Teil unser aller Leben. Doch wende ich meinen Blick vom Altar für ein paar Minuten auf mein Handy, so begegnen mir scheinbar endlose neue Spielarten von Religion: Dort werden in Social Media-Threads Schauspielern, Fitness-Gurus und Milliardären gehuldigt, während Fans von Musikgruppen sich eigene Wörter und Gesten ausdenken und Tag und Nacht die Aktivitäten der Bandmitglieder verfolgen. Ganz zu schweigen von Online-Foren, auf denen sich selbsternannte Experten mit unerklärlichem Stolz gegenseitig das Interessengebiet ihrer Wahl erklären – solange ihre Ansichten nicht zu sehr von der gruppendefinierten Norm abweichen. All diese Arten von losen Gruppierungen haben gemein, dass es geschriebene oder ungeschriebene Regeln gibt, dass sie einen Fixierpunkt haben und dass die Mitglieder sich mehr oder weniger über diesen Punkt identifizieren. „Religion light“ könnte man auch sagen, bloß mit mehr Einbringungsmöglichkeiten des Individuums. Nicht-religiöse Menschen glauben auch heute noch an Idole und Ideen, klassische Religionen sind dafür nur nicht mehr notwendig.
Zu groß, zu intransparent
Die Vorteile solcher losen Strukturen offenbaren sich im Vergleich zur anderen Seite des Spektrums: Unter das Konzept „Kirche“ fallen Dutzende von Konfessionen mit über 2,5 Milliarden Gläubigen weltweit. Allein die katholische Kirche hat über 1,3 Milliarden Mitglieder und besitzt mit all ihren Bischöfen, Diözesen und Dekanaten einen gigantischen, streng-hierarchischen und undurchsichtigen Organisationsapparat, der die ganze Welt umfasst.
Wozu ein solches Konstrukt führen kann, zeigte sich bekanntermaßen ab 2010 in Deutschland, als nach einem Missbrauchsskandal an einem Jesuiten-Gymnasium mehr und mehr Opfer mit ihren Geschichten an die Öffentlichkeit traten und langsam sowohl ein jahrzehntelanges System des sexuellen Missbrauchs durch katholische Amtsträger, als auch der systematische Schutzes der Täter durch die Kirche bekannt wurde. Dieser Skandal, der bis heute aufgearbeitet wird, ist ein höllisches Paradebeispiel dafür, wie problematisch und undurchschaubar uralte, starre Machtstrukturen in Kombination mit Traditionen wie dem Zölibat werden können. Und er zeigt, dass allein Beten und Predigen eben nicht reicht, um ein Paradies auf Erden zu kreieren, und dass religiöse Einrichtungen eine Überwachung genauso verdienen wie alle anderen öffentlichen Institutionen.
Lassen wir die Kirche mal im Dorf
Natürlich fordere ich nicht per se ein Verbot aller Religionen. Abgesehen davon, dass die Religionsfreiheit ein im Grundgesetz fest verankertes Recht ist, glaube ich an die Freiheit des Individuums und dass jeder selbst entscheiden sollen dürfte, ob und woran er oder sie glaubt. Ich will niemand sein Gefühl und seine Kirche rauben, und bei einem intrinsisch mit der Psyche und Emotionen verbundenen Thema wie dem Glauben spielen Argumente wohl, auch wenn mir das als Kommentarschreiber weh tut, eine untergeordnete Rolle. Doch auch wenn ich der festen Überzeugung bin, dass man zum Vollbringen guter Taten nicht an mehr glauben muss, als dass man etwas Gutes tut, so leisten die Glaubensgemeinschaften immer wieder beeindruckende humanitäre Hilfe: Von der Flüchtlingsrettung im Mittelmeer durch die evangelische Kirche bis zur Versorgung ukrainischer Flüchtlinge durch die Malteser beweisen sie, dass sie auch das Wasser trinken können, das sie predigen.
Die Leute, die zu der immer größer werdenden Menge an Menschen gehören, die zwar auf dem Papier gläubig sind, sich aber nicht mehr wirklich in den kirchlichen Strukturen wohlfühlen, möchte ich trotzdem zum Austritt ermuntern. Abgesehen von der eingesparten Kirchensteuer kann jeder im Zweifelsfall auch wieder eintreten, und christliche Werte kann man auch so im Alltag ausleben. Schließlich braucht es kein Abonnement, um ein guter Mensch zu sein.
Text, Titelbild: Paul Klotzsche