Langeweile. Ein Essay

Der Schatz der Monotonie

von | 13. Januar 2023

Während man auf die Uhr starrt, passiert nichts. Es gibt nichts außer der Einsamkeit der Stille.

Was wäre, wenn wir allein in einem Raum wären, ohne jegliche Gegenstände? Die Umgebung ist ohne Reize oder Ablenkungen. Minuten vergehen wie Stunden. Wie lange würden wir es in diesem Raum mit den eigenen Gedanken aushalten?

Die Qual der Sinnlosigkeit

Langeweile ist ein unangenehmer Gefühlszustand, in dem man sich einer befriedigenden Tätigkeit widmen möchte, aber dazu nicht in der Lage ist. Sie taucht auf, wenn wir uns in bedeutungslosen und unterfordernden Situationen befinden. Die Verwechslung von Langeweile und Entspannung liegt nahe, da beide inaktive Zustände sind. Doch der zentrale Unterschied liegt in der Bewertung des Zustandes: Niemand will sich gerne langweilen, weil es sich schlecht anfühlt. Und so ist Langeweile per Definition unangenehm. Aus der Leere des Augenblicks folgt die Sinnlosigkeit, welche einem das Gefühl gibt, es sei keine andere Emotion da, außer der erdrückenden Unerfülltheit. Diese ist auf einen Mangel von Stimulation zurückzuführen, der die gelangweilte Person daran hindert, eine anregende Aktivität auszuwählen und sich daran zu beteiligen.

erdrückende Langeweile; Foto: Melissa Berthold, Model: Giselle Berthold

Verzerrte Wahrnehmung der Zeit 

Unser Zeitgefühl ist paradox. Je nachdem, wie wir uns fühlen und was wir tun, kann die Zeit langsam und träge dahinfließen oder schnell und reißend vorbeirauschen. Selbst in Situationen, die andere normalerweise interessant und anregend finden, können wir uns langweilen. Wer gelangweilt ist, denkt, die Zeit vergeht langsamer und zieht sich unendlich. Das kann daran liegen, dass man sich in einer Situation befindet, die keine ausreichenden Anreize bietet, um die Aufmerksamkeit zu fesseln. 

Ist uns beispielsweise eine Aufgabe zu einfach oder zu schwierig, kann unser Interesse nicht auf einem optimalen Erregungsniveau gehalten werden und zu einer Unter- oder Überstimulation unserer Aufmerksamkeit führen. Wenn uns Begeisterung fehlt oder wir keinen Zweck finden in dem, was wir tun, ist unser Gehirn weniger aktiv und die Zeit vergeht langsamer. Die Fähigkeit, aufmerksam zu sein, erfordert ein optimales Maß an Erregung. So kann eine Aufgabe, die herausfordernd genug, aber nicht zu schwierig ist, uns in einen Flow-Zustand versetzen.

langsames Vergehen der Zeit; Foto: Melissa Berthold, Model: Giselle Berthold

Die Schattenseite der Langeweile

Beim Versuch, sich endlich nicht mehr nutzlos zu fühlen, kann Langeweile negative Verhaltensmuster mit sich bringen. Erkenntnisse der Wissenschaft, dass andauernde Langeweile längerfristig mit depressiver Verstimmung, aggressivem Verhalten, Essstörungen und Suchtverhalten zusammenhängen kann. Einige Menschen, die unter Essstörungen leiden, berichten, dass sie sich langweilen und zu ungesundem Essen greifen, um sich zu beschäftigen oder um ihre Stimmung zu verbessern.

Experten sprechen auch von einem „Bore-out” am Arbeitsplatz, wenn Menschen an permanenter Unterforderung und Langeweile im Job leiden. Für Arbeitnehmende kann es belastend sein, dass ihr mögliches Potenzial permanent ungenutzt bleibt. Ein Bore-out kann zu Niedergeschlagenheit und Schlafstörungen führen. „Langeweile kann quälend sein. Es gibt aber keine Belege, dass diese zu Depressionen führt“, erklärt der Vorsitzende der Stiftung Deutsche Depressionshilfe Ulrich Hegerl im Interview für Quarks und ergänzt: „Wenn körperliche Beschwerden, Schlafstörungen, Appetitstörungen, Erschöpfungsgefühl und gedrückte Stimmung dazukommen, dann spricht dies für das Vorliegen einer depressiven Erkrankung.“ Auch wenn es wenig Trennschärfe zu einer Depression gibt, fehlt es an aussagekräftigen psychologischen und neurologischen Studien, die diese Abspaltung deutlich machen.

Langeweile an der Bushaltestelle; Foto: Melissa Berthold, Model: Giselle Berthold

Warum ist Langeweile wichtig?

Doch Langeweile kann durchaus auch wünschenswerte Verhaltensweisen hervorrufen. Britische Forscher argumentieren, dass Langeweile eine wichtige Funktion erfüllt: Wenn uns langweilig ist, signalisiert uns das, dass die momentane Tätigkeit an Bedeutung verloren hat. Sie entsteht in Zeiten, in denen Ziele blockiert sind oder starke Emotionen wie Glück oder Traurigkeit, nachlassen. Sie signalisiert, dass wir unsere Ziele neu ausrichten sollten und ist eine Aufforderung zur Veränderung. Ein ähnlicher Blickwinkel auf Langeweile liefert uns Schmerz. Schmerzen entstehen, sobald mit unserem Körper irgendetwas nicht so ist, wie es sein sollte. Sie machen uns darauf aufmerksam, dass etwas in Schieflage geraten ist, um das wir uns kümmern und das wir beheben sollten. Eine ähnliche Warnung birgt die Langeweile für unsere Psyche. Sie ist eine Aufforderung zur Veränderung. Sie hilft uns zu verstehen, wann wir etwas tun, das uns nicht vorwärts bringt. Kein anderes Gefühl macht die Kluft zwischen dem, was wir erreichen wollen und dem, was wir erreicht haben, spürbarer als Langeweile.

Doch gerne hören wir nicht, was unangenehme Gefühle uns sagen wollen. Wenn wir auf sie hören, müssen wir unser eigenes Verhalten kritisch hinterfragen und wahrscheinlich sogar umdenken. Wer mag das schon? Darum vertreiben wir unsere Langeweile mit Ablenkung oder verdrängen unsere Angst. Wann war uns zuletzt so richtig langweilig? In der heutigen Welt hat Langeweile kaum noch Platz. Wir hetzen durch den Berufsverkehr, arbeiten unsere To-Do-Listen ab, schauen die nächste Folge auf Netflix und sollte doch einmal Zeit für Langeweile auftauchen, wischen wir sie mit einer kleinen Bewegung schnell weg. Das Internet ist voll von Tipps, wie man die plötzlich freie Zeit sinnvoll nutzen kann. Wir ersticken das unliebsame Gefühl und machen uns damit taub für ein Signal, das wir genauso als Kompass für den Weg durch unser Leben brauchen wie den Schmerz und die Angst.

Hoffnungsschimmer der Langeweile; Foto: Melissa Berthold, Model: Giselle Berthold

Langeweile fördert die Kreativität

Sich bewusst der Langeweile auszusetzen und das Gehirn leer laufen zu lassen, hat einen entscheidenden Einfluss: Unsere Fantasie wandert umher und wir werden kreativ. Äußere Reize können in normalen Situationen ablenkend sein und verhindern, dass etwas Neues, Selbstgeschaffenes hervorgebracht wird. Setzen wir uns der Langeweile aus, improvisieren wir, spielen mit neuen Ideen und sprengen den formalen Rahmen der Gewohnheit. Wer sich nie langweilt, bringt auch nie etwas Neues hervor. Deshalb ist es wichtig, sich bewusst Zeit für die Langeweile zu nehmen und sie als Chance zu betrachten, sich selbst kreativ zu entfalten.

Text: Melissa Berthold, Titelbild und Beitragsbilder: Melissa Berthold
<h3>Melissa Berthold</h3>

Melissa Berthold

studiert Medienmanagement und ist bei medienMITTWEIDA in der Bildredaktion tätig.