Im Porträt

„Der da oben hat mich vergessen“

von | 1. Mai 2020

Alt werden und lange leben - für Elfriede Geißler gibt es keinen Kompromiss.

Auf ein langes und erfülltes Leben zurückblicken – wer möchte das nicht? Doch Elfriede Geißler schaut nicht nur auf Vergangenes. Auch mit 97 Jahren bietet das Leben Anekdoten, die erzählt werden wollen.

23 Stufen führen zur Wohnung von Elfriede Geißler im Norden Mittweidas. Seit 67 Jahren wohnt sie in der sächsischen Kleinstadt – 50 davon in dieser Wohnung. Sie hört gern Operettenmusik, legt Wert auf ihr Äußeres und trinkt bis heute gern Campari Orange.  

Warmes Licht und warme Luft strömen von Raum zu Raum. Im Wohnzimmer blitzt das Kaffeeservice, in der Küche gluckert die Maschine. Schon tausende Male hat sie sich in der Vergangenheit erhoben, um die kleine Kanne Kaffee zu holen. Ein Strauß Tulpen erinnert an den kürzlichen Besuch. Kekse und Kuchen komplettieren das Bild. „Das sieht aber gut aus – wir probieren uns gleich durch“, sagt sie und kostet vom ersten Stück. „Früher habe ich gar nicht so gern Kuchen gegessen, das kam erst im Alter – abgesehen von frischer Erdbeertorte aus eigener Ernte. Als mein zweiter Mann hier noch einen Garten hatte, haben wir auch Erdbeeren angebaut. Im Sommer war das etwas ganz Feines.“

Elfriede Geißler wurde im Juli 1922 als jüngste von sechs Geschwistern in Zeithain geboren. Ihre Eltern stammten aus Ost- und Westpreußen, wurden vertrieben und kamen so nach Sachsen. Zeithain war nur ein Zwischenhalt, niedergelassen hat sich die Familie in Plauen. Sie wuchs heran und lernte den Beruf der Kontoristin – heute vergleichbar mit einer kaufmännischen Angestellten. Schließlich wechselte sie die Arbeitsstelle und ging zur Vogtländischen Maschinenfabrik AG (VOMAG). „Mit 19 Jahren habe ich geheiratet, da war ich schon in anderen Umständen. Meinen Mann habe ich beim Tanz kennengelernt, als ich zur Kur war.“ Kleine Lachfalten umspielen ihre Augen bei dem Gedanken daran. Die beiden bekamen insgesamt drei Kinder. All das ist lange her. Doch das Lächeln ist geblieben.

Die 100 vor Augen

„Ich wollte nie so alt werden. Ich habe immer gesagt: ‚Der da oben hat mich vergessen.‘ Langsam glaube ich selbst, dass ich noch 100 werde. Das wird dann auch gefeiert.“ Vielleicht sogar in der „Räuberschänke“ – dort ist sie Stammgast. Beinahe jedes Wochenende geht sie mit Tochter und Enkeltochter essen. Die drei Frauen kennen sich in der Gegend aus und witzeln regelmäßig darüber, wie selten sie das doch eigentlich machen. Die 97-Jährige ist draußen nicht mit dem Rollator unterwegs. Sie nimmt den Stock oder hakt sich unter. Treppenstufen nimmt sie Schritt für Schritt – mit der nötigen Zeit und Routine. „In der Wohnung bewege ich mich ohne Einschränkungen. Hier könnte ich mich im Notfall überall festhalten. Nur einmal bin ich gestürzt, vom Bad in den Flur. Ist das nicht komisch? Ich habe mich schon längere Zeit gefragt, ob ich in einem solchen Fall noch alleine aufstehen könnte. Also bin ich auf dem Boden entlang ins Wohnzimmer gekrochen, habe mich an Sofa und Sessel untergehakt, hochgezogen und siehe da – es ging noch.“ Auch bei dieser Anekdote, unterstützt durch Gesten, wo und wie sich das Beschriebene abgespielt hat, muss sie schmunzeln.

An den Wohnzimmerwänden hängen Bilder aus verschiedenen Jahrzehnten. Sie zeigen Personen in Schwarz-Weiß und in Farbe. Die Familie hat sich entwickelt, ist gewachsen. Mittlerweile ist sie Ur-Ur-Oma. Alles hat seinen Platz in der Wohnung, aber aus der Schrankwand quellen keine Figürchen oder Staubfänger. Obwohl sie ein halbes Jahrhundert in dieser Wohnung lebt, hängt sie nicht an der Einrichtung. „Ich bin schon immer gern verreist. Denn wer nicht auf Reisen geht, kann nicht mitreden. Mit 90 Jahren habe ich alleine eine Schiffsreise nach Norwegen gemacht. War das herrlich mit den Fjorden. Aber keiner an Bord hat mir mein Alter geglaubt.“ Ihre braunen Augen strahlen stärker noch als sonst beim Gedanken an jene Tage. Nach Kanada ging ihre Lieblingsreise. Zweimal war sie dort. „Ich war schon immer ein überaus kontaktfreudiger Mensch. Es gab nie Probleme, Anschluss zu finden. Ich hatte immer ein gutes Bauchgefühl dahingehend, wen ich ansprechen kann.  So habe ich immer Freundschaften geschlossen. Außerdem konnte ich in jeder Hinsicht auf den Rückhalt in meiner Familie zählen.“ Bei diesen Worten gerät sie ins Stocken. Emotionen bahnen sich ihren Weg aus der Vergangenheit an den Kaffeetisch. Sie findet ein Taschentuch und hält noch einen Moment daran fest.

Ihr erster Mann arbeitete acht Jahre lang bei der „Wismut“ im Uranbergbau. Der Lohn war gut, doch die gesundheitlichen Folgen unbekannt. Ihr Mann starb an den Langzeitfolgen, eine Entschädigung gab es nicht. Ihr ältester Sohn verstarb bereits mit 36 Jahren und ihr zweiter Mann überlebte einen Schlaganfall nicht. Schicksalsschläge prägen einen Menschen, doch sie wusste: „Irgendwie geht es immer weiter.“ Bis heute ist das so eine Art Leitspruch in ihrem Leben und die daraus gewonnene Stärke spiegelt sich in ihren Augen.

Das Alter holt sie nicht ein

Andere Senioren hadern mit dem Alleinsein. Das kommt für sie nicht infrage: „Einsam fühle ich mich überhaupt nicht. Ich interessiere mich für viele Dinge und komme auch allein sehr gut zurecht. So lese ich unheimlich gerne, telefoniere oder löse Kreuzworträtsel – das trainiert zusätzlich den Kopf. Im Winter komme ich nicht so viel vor die Tür, im Sommer schon öfter. Wenn es warm wird, sitze ich auch sehr gerne auf dem Balkon. Manchmal mache ich mir Bowle dazu: eine kleine Flasche Sekt, Obst und den Saft für die Süße.“ – Ob das ihr Rezept für bleibende Gesundheit ist?

Medikamente nimmt sie keine und in der Apotheke ist sie ein seltener Gast. „Bloß gut“, sagt sie und klopft zur Bekräftigung dreimal auf den Wohnzimmertisch. „Nur mit dem Hören geht es nicht mehr so gut, aber dafür habe ich mittlerweile ein Hörgerät. Das Problem habe ich aber auch erst seit wenigen Jahren.“ Eine Sache muss sie nun noch loswerden: „Das klingt verrückt, aber ich habe das Gefühl, meine linke Hand kann heilen. Wann immer es Beschwerden gab – auch damals schon bei meinen Kindern – habe ich die linke Hand aufgelegt und der Doktor konnte sich den Weg sparen.“ Heute noch macht sie das regelmäßig, etwa am Herzen. „Vielleicht schlägt es deshalb immer weiter.“ 

Es mag mehrere Gründe oder auch gar keine Erklärung dafür geben, weshalb ihr Leben Elfriede Geißler bis ins hohe Alter getragen hat. Sie hinterfragt es nicht. Sie nimmt es, wie es kommt und ist vor allem eines: vollkommen zufrieden. „Ich habe in meinem Leben nichts versäumt und nichts bereut. Ich hatte immer ein gutes Leben und dafür bin ich sehr dankbar.“

Text: Kim Lu Kutschbach, Titelbild: Kim Lu Kutschbach

<h3>Kim Lu Kutschbach</h3>

Kim Lu Kutschbach

ist 22 Jahre alt und in Frankfurt (Oder) geboren. Momentan studiert sie an der Hochschule Mittweida Medienmanagement. Schon von klein auf galt ihr Interesse der Sprache und Kommunikation und genau dieser Leidenschaft kann sie bei medienMITTWEIDA nachgehen.