Literally Me

Die Idealisierung des Schattens

von | 7. Juli 2023

Warum "Literally Me" Charaktere existieren und welche Psychologie dahinter steckt.

Seit jeher gibt es in unserer komplexen und sozial vielschichtigen Gesellschaft immer wieder kulturelle Phänomene. Manche von ihnen kommen und gehen nach einer Weile wieder, andere bleiben bestehen. Ein solches popkulturelles Phänomen sind „Literally Me” Charaktere in Filmen. Der Begriff „Literally Me” stammt aus dem Englischen und bedeutet wörtlich übersetzt so viel wie„wirklich ich”. Mit dieser Bezeichnung werden Charaktere beschrieben, mit denen sich der Zuschauer besonders identifiziert und eine tiefere Verbindung spürt. „Literally Me” – Charaktere sind vor allem unter jungen Männern beliebt und gewannen in den letzten Jahren durch zahlreiche Memes und Trends im Internet an Popularität.

Beispiel für „Literally-Me“ Video. Credit: Giga-Nate, url:https://www.youtube.com/watch?v=Vgu6R1zx0TY

Man könnte denken, dass die Gründe für diese Empathie zum Beispiel ein ähnlicher Lebensweg, oder die gleichen heroischen Ziele des Protagonisten sind, doch der klassische Held ist kein „Literally Me” – Charakter. Vielmehr sind es die fehlerbehafteten und kranken Charaktere, mit denen sich viele junge Männer so tief verbunden fühlen. Aber warum ist das so?

Vom Banker zum Killer

„Literally Me” – Charaktere kommen in allen Lebenslagen vor. Als Wallstreet-Banker, Army Veterane bis hin zu Kleinkriminellen. Eines der bekanntesten Beispiele ist wohl Patrick Bateman aus American Psycho (2000). Patrick lebt ein fantastisches Leben als Investmentbanker an der Wallstreet. Er achtet strikt auf seine Ernährung, lebt sehr gesund und hält seinen Körper mit täglichen Sporteinheiten in Topform. Jeden Morgen versucht er mit dutzenden Beauty-Produkten das Beste aus sich herauszuholen. Er ist immer in den feinsten Anzügen gekleidet und voll an den Wallstreet-Lifestyle angepasst. Das alles tut er, um zur Gesellschaft dazuzugehören.

Im Kontrast dazu steht sein Verhalten, wenn er sich außerhalb seines Banking-Umfeldes aufhält. Ist er allein, wird klar, dass Patrick an einer schwerwiegenden Psychose und wahnsinnigem Verhalten leidet. Er ermordet Obdachlose, und Prostituierte, die er für Sex angeheuert hatte. Seine Taten werden mit der Zeit immer schwerwiegender und skurriler. Patrick zeichnet einen Mann ab, der an der Oberfläche ein charmanter, charismatischer Investmentbanker ist und alles haben kann, was er möchte. Auf der anderen Seite ist er jemand, der versucht, seine dunkle Seite zu verstecken, aber im Endeffekt vollkommen von ihr eingenommen wird.

Flucht aus dem Alltag

Ein weiteres bekanntes Beispiel ist die Handlung von Fight Club(1999). Der namenlose Ich-Erzähler ist in seinem konsumorientierten Arbeitsleben gefangen. Er leidet an Schlaflosigkeit, was dazu führt, dass sich für ihn jeder Tag gleich anfühlt. Er hat keine wirkliche Identität und wünscht sich oft, dass er in einem Unfall ums Leben kommt. Durch seine Schlaflosigkeit entwickelt er eine zweite Persönlichkeit: Sein Alter-Ego Tyler Durden, der das genaue Gegenteil von ihm ist. Er ist alles, was sich der Erzähler wünscht, zu sein. Tyler ist ein Freigeist, mysteriös, gutaussehend und interessiert sich nicht dafür, was die Gesellschaft von ihm hält. 

Tyler lebt allein in einem alten, verschimmelten Haus. Im Laufe des Films gründet er mit dem Erzähler den Fight Club, in dem sich Männer anonym treffen, um gegeneinander zu kämpfen. Das Ziel ist dabei keine Trophäe oder Geld, sondern die Flucht aus dem Alltag und das Ausleben von ihren tiefsten animalischen Bedürfnissen. Sich aus der Monotonie und Taubheit des Büro-Lebens zu flüchten und wieder lebendig zu fühlen.

David Fincher der Regisseur des Filmes hat Folgendes zu sagen:

„We’re designed to be hunters and we’re in a society of shopping. There’s nothing to kill anymore, nothing to fight, nothing to overcome, and nothing to explore. In that societal emasculation, this every man is created […]”

Tyler Durden und auch der Erzähler gelten als „Literally Me” – Charaktere, weil sie die Lebensrealität vieler Menschen in unserer Gesellschaft abbilden. Sie haben einen Bürojob, in dem sich jeder Tag gleich anfühlt. Ihr Individualismus kommt nur durch Konsum zustande, da sie bei abnormen Verhalten um ihr soziales Umfeld und ihren Beruf fürchten müssen.

Konformität

In beiden Filmen ist der Konformismus ein immer wiederkehrendes Motiv. In Fight Club rebelliert Tyler Durden gegen die erstickende, banale Alltagswelt. Er lehnt sich auf extreme Weise gegen unsere Alltagswelt auf und befreit sich und andere aus diesem Leben. Die selbständige Befreiung und die Rebellion gegen das System, was sie so lange unterdrückt hat, ist sicher ein Grund, warum viele junge Männer diesen Charakter lieben.

In American Psycho wird das Thema der Konformität etwas anders behandelt. Patrick Bateman gibt nicht nur sein Bestes, um in die Gesellschaft zu passen, sondern er versucht, das allerbeste aus sich zu machen. Er verkörpert die dunkle Seite in uns. Geprägt von extremen Narzissmus und dem Druck, die beste Version von sich selbst zu sein. Viele Männer können sich damit sehr identifizieren.

Solitude

So gut wie alle „Literally Me” – Charaktere haben etwas gemeinsam. Sie sind einsam. Ohne eine Familie, zu der sie sich hinwenden können, Freunde oder Lebenspartner, die ihnen Vertrauen schenken und in schwierigen Situationen beistehen. Niemand, der ihnen das Gefühl gibt, wirklich geliebt zu werden. Dieses Gefühl kennen viele jungen Männer heutzutage nur zu gut. Wenn sie für die Ausbildung oder das Berufsleben aus dem Elternhaus ausziehen, finden sich viele von ihnen allein wieder. Zuflucht wird durch Social Media, Videospiele oder Pornos gesucht. Diese können aber keine echten sozialen Kontakte, Liebe oder Vertrauen ersetzen. Was bleibt, ist ein tiefes Loch der Einsamkeit und inneren Leere. Deshalb können sie sich mit Literally Me Charakteren und der in den Filmen porträtierten Einsamkeit identifizieren.

Entfremdung

Neben der Einsamkeit verbindet die „Literally Me” Charaktere auch: Das Leiden. Teilweise wird dieses Leid explizit als psychische Krankheit benannt – wie die in „Fight Club“ erzählte Insomnie des Protagonisten. Teilweise wird diesen Leiden aber auch kein Name gegeben und wir als Publikum sehen lediglich, wie der „Literally Me” – Charakter damit umgeht. Im „besten” Fall sind sie sehr ungeschickt in sozialen Interaktionen, im schlimmsten Fall töten sie wahllos ihre Mitmenschen. Warum kann und will man sich mit solchen Personen identifizieren und warum nehmen so viele junge Männer diese Personen als Vorbilder?

Die Antwort auf diese Fragen ist meiner Meinung nach simpel. Die in den Filmen so überspitzt dargestellte Konformität, Einsamkeit und Entfremdung ist genau das, was viele Männer jeden Tag in ihrem Alltag spüren. Natürlich nicht in solchen Ausmaßen, die Grundgedanken sind aber gleich. Viele fühlen sich von unserer konsumorientierten, kapitalistischen Gesellschaft eingeengt und unterdrückt. Viele leiden unter Einsamkeit und wünschen sich, gegen das System zu rebellieren und viele wissen sich nicht anders zu helfen. Es macht den Anschein, dass es ein Teil der jungen Männer gar nicht mehr wirklich weiß, wie er mit sich und der Umwelt klar kommt und sich deshalb in die düsteren Lebensrealitäten von „Literally Me“ – Charakteren flüchtet.

Literally Me” Idealisierung ist problematisch

Doch die Idealisierung dieser Vorbilder führt zu Problemen. Viele junge Männer, die sich diese Charaktere zu ihren Vorbildern machen, neigen mit der Zeit zu genau dem antisozialen Verhalten, welches diese Charaktere porträtieren. Sie sind in einer Negativspirale gefangen, die nur bergab geht. Aus ihrer Einsamkeit wird Hass, aus Hass bildet sich eine negative Grundeinstellung, welche sie weiter aus der Gesellschaft entfremdet. Aus dieser Entfremdung entstehen psychische Leiden, Depression und Gewalt an sich und anderen. Diese Männer werden als „Incels” bezeichnet. Einsame Männer, welche keine Sexualpartner finden, weil sie sich selbst als Überlegen warnehmen. Sie sind eine der Hauptgruppen, die diese Charaktere hyped und sich mit ihnen identifizieren können.

Sich so stark mit Charakteren wie Patrick Bateman oder Tyler Durden zu identifizieren, ist auch problematisch, weil bei den „Literally Me” – Memes und Videos nur die Charaktere an sich betrachtet werden. Die eigentliche Aussage der Filme und Gesamtwerke wird hier gänzlich außer Acht gelassen, was mit den Charakteren passiert und wie sie sich gegenüber anderen verhalten. Ihre soziopathischen Tendenzen, unrealistische Lebensvorstellung, fehlende Selbstreflexion und die Auswirkung ihres Handelns werden von vielen, die sich mit den Charakteren identifizieren, nicht beachtet.

Die Theorie des Schattens

Ein weiterer Deutungsansatz beruht auf der These des Schattens von Carl Gustav Jung. Laut ihm entwickelt jeder Mensch im Laufe seines Lebens eine Licht- und eine Schattenseite. Das wird von der Gesellschaft angelernt. Uns wird schon als Kind durch Lob und Tadel beigebracht, welche Eigenschaften, Handlungen und Charakterzüge erwünscht und welche unerwünscht sind. Je älter wir werden, umso feiner wird unser Sinn dafür, welche unserer Eigenschaften gut oder schlecht ankommen. Wir tun unsere guten Eigenschaften automatisch hervor und versuchen sie im Alltag zu präsentieren. Auf der anderen Seite versuchen wir natürlich unseren Schatten, also all die Emotionen, Gedanken und Gefühle, die von der Gesellschaft als schlecht erachtet werden, unterdrücken.  

Das kann zu einer Entfremdung gegenüber den eigenen Gefühlen führen und damit auch zu psychischen Leiden. Die Gedanken und Gefühle sind immer noch ein Teil von uns. Genau diesen Schatten, den jeder Mensch mehr oder weniger mit sich herumträgt, sprechen solche Filme und Charaktere an. Rebellion, Gewalt und sogar Mordgedanken. Alles Schlechte, was viele Menschen jeden Tag unterdrücken, schlummert tief noch irgendwo tief in ihnen und wird von solchen Charakteren zum Ausdruck gebracht, was uns eine große Befriedigung bringt.

Ein besonderes Genre

Der Hype um „Literally Me” offenbart uns eine Generation von jungen Männern, die nicht richtig wissen, wo sie im Leben stehen, was sie gerne erreichen wollen oder wie sie mit ihrer Lebensrealität umgehen sollen. Viele hängen in der Luft. In Fight Club verleiht Tyler Durden diesem Gefühl eine Stimme:

„We’re the middle children of history, man. No purpose or place. We have no Great War. No Great Depression. Our Great War’s a spiritual war… our Great Depression is our lives. We’ve all been raised on television to believe that one day we’d all be millionaires, and movie gods, and rock stars. But we won’t. And we’re slowly learning that fact. And we’re very, very pissed off.” 

„Literally Me” ist ein besonderes Genre und sticht aus dem Einheitsbrei vieler Filme heraus. Die Figuren in den Filmen charakterisieren oftmals negative Emotionen und können dem Zuschauer helfen, sich selbst und die Welt um sie herum besser zu verstehen.

Text, Titelbild: David Barsch

<h3>David Barsch</h3>

David Barsch

ist 21 Jahre alt und studiert Medienmanagement im 5. Semester an der Hochschule Mittweida.