Loverboys

Seelen-Mörder

von | 6. September 2019

Über einen Loverboy geriet Sandra in die Zwangsprostitution. Ein ehemaliges Opfer erzählt.

Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung ist nicht nur der Handel mit Menschen über Grenzen hinweg, sondern auch innerhalb Deutschlands. Die Loverboy-Methode ist hierzulande trotz steigender medialer Aufmerksamkeit eine Masche, der vor allem Mädchen und junge Frauen zum Opfer fallen.

Laut dem Bundeslagebild 2017 des Bundeskriminalamtes werden Loverboys kaum erkannt und schlagen immer häufiger zu. Eine unbekannte Anzahl an Mädchen und jungen Frauen werden getäuscht und anschließend ausgebeutet. Kaum ein Opfer erkennt diese Gefahr. So erging es auch Sandra Norak. 

„Durch die Prostitution habe ich gelernt, aus dem Moment wegzugehen, um den Schmerz besser ertragen zu können, um die Freier besser ertragen zu können“, schildert die 29-jährige Sandra Norak. Die junge Frau mit den blonden Haaren, locker zusammengebunden zu einem Pferdeschwanz, sitzt gefasst vor ihrem Mikrofon in der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin. Im Raum mehrere Menschen. Polizisten, Streetworker, Sozialarbeiter und Studierende. Die Mischung aus Fachleuten und Laien starrt gebannt zu Sandra Norak. Jede fallende Stecknadel wäre jetzt zu hören. Sie erzählt von ihrem Ausstieg aus der Prostitution, der ihr mit der Arbeit als Pferdepflegerin gelang. „Ich dachte, ich muss lächeln, damit es dem Pferd gut geht, ja, ich muss etwas spielen, genauso spielen wie mit den Freiern, aber ich konnte nicht mehr, ich bin in Tränen ausgebrochen – ja ich habe halt geweint und habe das rausgelassen, was ich vorher nicht rauslassen konnte.“ Das erste Mal fühlte sich Sandra Norak authentisch. Sie konnte sie selbst sein. Sie beschreibt, wie das Pferd ihr gezeigt habe, wie wichtig es sei, keine Maske zu tragen. Heute ist Sandra Norak 29 Jahre alt und studiert Jura. Mit 17 Jahren kam sie in die Prostitution, mit 24 Jahren gelang ihr der Ausstieg. Im Nachhinein wurde ihr klar, sie war Opfer der sogenannten Loverboy-Methode.

Was ist ein Loverboy? 

Das Bundeslagebild 2017 des Bundeskriminalamtes zum Thema Menschenhandel und Ausbeutung beschreibt die Loverboy-Methode wie folgt: 

„Bei dieser Methode werden weibliche Minderjährige und junge Frauen durch die ‘Loverboys’ unter Vorspiegelung einer Liebesbeziehung in ein emotionales Abhängigkeitsverhältnis gebracht, um sie in der Folge an die
Prostitution heranzuführen und auszubeuten.“

Definition des Bundeslagebild 2017 des Bundeskriminalamtes

Das bedeutet, Loverboys sind Männer, meist im Alter zwischen 18 und 28 Jahren, die minderjährigen Mädchen oder auch jungen Frauen ganz gezielt eine Liebesbeziehung vorspielen. Auf eine Art und Weise, die für sie kaum erkennbar ist, werden diese in eine Abhängigkeit gebracht. Dazu zählen tolle Geschenke, die große Liebe und eine Zukunft zu zweit. „Je jünger die Frauen sind, desto einfacher lassen sie sich manipulieren“, so Dr. Kraus, eine international renommierte Psychotraumatologin, die Sandra Norak begleitet. Wie es auch Sandra Norak später in ihrer Geschichte schildert, gäben diese Mädchen nach und nach alle sozialen Kontakte auf. Oft hätten sie familiäre Probleme und nicht viele Freunde. Daher merke niemand, in welche Falle die Mädchen oder jungen Frauen getreten seien. Anfangs gingen sie noch zur Schule und wohnten Zuhause. Später würden sie den Kontakt nach Hause abbrechen und mit dem Loverboy in eine andere Stadt ziehen. Dort lebten sie sozial isoliert und emotional wie auch psychisch abhängig von ihm. Auf diese Weise habe der Loverboy die Möglichkeit, sie in die Prostitution zu treiben und in einer Art von Zuhälterei auszubeuten.

Vorgetäuschte Schulden und Drohungen setzten die Mädchen unter Druck. Aus Angst, ihre einzige Bezugsperson zu verlieren, gäben sich die jungen Frauen dem Sex mit fremden Männern hin. Das hierbei verdiente Geld geht zu „100 Prozent an den Loverboy”, so das ehemalige Opfer. Anfänglich sind es nur ein paar Freunde mit denen die Mädchen Geschlechtsverkehr haben sollen, später leben sie in Bordellen. „24 Stunden im Bordell über Jahre hinweg.“ Oft würden sie sich auch an Schulen, Jugendtreffs oder im Internet herumtreiben. Das Internet biete den Loverboys zudem die Möglichkeit, gleich mit mehreren Identitäten zu agieren. Ihre Suche sei gezielt. “Oft wissen sie auch über familiäre Verhältnisse Bescheid”, erklärt Dr. Kraus.

Das seien sogenannte Push-Faktoren, auf die Loverboys zurückgreifen würden. Dazu zählten Vernachlässigung in der Kindheit, Armut oder Krieg. „Dort waren die Menschenhändler, also die Loverboys sichtbar. Die sind mit Mercedes herumgefahren und haben sich gezielt junge Frauen ausgesucht – die sich in einer extremen Verwundbarkeit befanden“, erzählt Dr. Kraus über ihre Zeit kurz nach dem Krieg, im Kosovo. Sieben Jahre betrieb sie dort ein Frauenhaus. „Diese Männer gehen so vor, sie wissen so sehr mit diesem Leid umzugehen, die war kaum noch erreichbar“, so die Psychotraumatologin, als sie von einem Loverboy-Opfer aus dem Kosovo erzählt.

Von der Bezugsperson zum Zuhälter

Die junge Frau mit den blauen Augen und einem natürlichen Erscheinungsbild erzählt eine ähnliche Geschichte. Sandra Norak war 16 Jahre alt, als sie das erste Mal angeschrieben wurde. Zuhause waren die familiären Verhältnisse schwierig. Ihre Mama krank, ihr Papa nicht da. Sandra Norak trieb sich in vielen Chatrooms herum. Eines Tages schrieb ihr eine Frau. Anfänglich hatte sie nur mit ihr Kontakt, später leitete sie die Frau an einen Mann weiter. „Er hat sich halt meiner Probleme angenommen, er wurde zu meiner Bezugsperson.“ Dennoch versprach er Sandra Norak, ihr aus ihrer Situation Zuhause raus zu helfen. Erst einige Monate später kam es dann zum ersten Treffen. „Ja, ich war verliebt, er war mein erster Freund und ich hatte zuvor noch nie Geschlechtsverkehr.“ Ihre ersten sexuellen Erfahrungen machte sie mit ihm. Das sei nicht selten, oft haben die Mädchen keine sexuellen Erfahrungen, erzählt das ehemalige Opfer. Von Prostitution ist erstmal nicht die Rede. „Irgendwann begann er dann, mich in Bordelle seiner Freunde mitzunehmen. Er hatte sehr viele Bordellbetreiber als Freunde – er war ein alter Hase im Rotlichtmilieu“, erzählt sie. Nach anfänglichem Kaffeetrinken in den Bordellen kam die Forderung, sie solle sich auch prostituieren. Sie nahm Abstand von diesem Vorschlag. Der Loverboy distanzierte sich daraufhin auch von ihr. Mit Liebesentzug und vorgetäuschten Schulden brachte er letztendlich auch Sandra Norak dazu, sich für ihn zu prostituieren. 

Genau diesen Weg bestätigt Stephan Strehlow vom Landeskriminalamt Berlin. Auch dem Chef Ermittler in der Abteilung für Banden- und Schleuserkriminalität sind die Loverboys bekannt. „Da haben wir verschiedenste Verfahren abgeschlossen, das letzte im vorigen Jahr. Ein 35-jähriger Eventmanager hatte zig Identitäten – unter denen er das Opfer weitergeleitet hat. Letzten Endes hat er es aber immer nur weiter zu sich geleitet”, so Strehlow. Weiter betont er, Berlin schaue sehr genau hin. Dennoch beschreibt er, wie schwierig es für die Beamten sei ohne ausreichend Beweismaterial, einzugreifen. „Wir sind immer in der Problematik, dass wir die Opferzeugin brauchen, um das Verfahren voran zu bringen.“ 

Im Jahr 2017 wurden insgesamt 327 Ermittlungsverfahren im Bereich des Menschenhandels zur sexuellen Ausbeutung polizeilich abgeschlossen. Das sind 36 Verfahren weniger als im Vorjahr 2016. Bei über einem Viertel der Opfer von Zwangsprostitution, also rund 127 Opfern, wurde die Loverboy-Methode angewendet. Im Vorjahr war diese Vorgehensweise noch deutlich weniger verbreitet. Hier waren es nur 17,8 Prozent. Das geht aus dem Bundeslagebild 2017 vom Bundeskriminalamt, hervor. Ein Rückgang dagegen ist bei dem Einsatz von psychischer wie auch physischer Gewalt zu verzeichnen. „Leute sprechen von 200.000 bis eine Million Prostituierten und wie ich gesehen habe, sind über 90 Prozent durch Menschenhandel in die Prostitution gekommen”, so das ehemalige Loverboy-Opfer.

„Mit jedem Freier verlor ich mehr von meinem Ich”

Bei ihren ersten Besuchen im Bordell lernte auch Sandra Norak die Strukturen krimineller Machenschaften kennen. Sie verstand schnell, wenn sie nicht das Geld für ihren Loverboy anschaffen gehe, dann „macht er irgendwie kriminelle Geschäfte mit denen.“ Aus Liebe zu ihm prostituierte sich die damals noch Minderjährige. „Beim ersten Freier war so großer Widerstand da, ja, man hat das Gefühl man will sich wehren, man will weg aus der Situation – aber irgendwann mit der Zeit hab ich dann aufgegeben.“ Sandra Norak erzählt, wie sie recht schnell in einen Flatrate-Club gebracht wurde. Hier zahlen Männer eine Tagespauschale und dürfen den ganzen Tag verschiedene Mädchen beanspruchen. „Innerhalb von vier Wochen 400 bis 500 Freier.” Die Loverboys wüssten, dass man daran kaputt ginge. Ganz gezielt sind sie darauf aus, dass die Mädchen keinen Widerstand mehr zeigen. „Ich kann sagen, dass ich meine Identität damals komplett verloren hatte. Ich hatte keine Wünsche mehr, keine Sehnsüchte mehr – in der Schule hatte ich davon geträumt, Meeresbiologin zu werden.“ Mit jedem Freier verlor Sandra Norak mehr von ihrem Ich. „Wenn das Ich dann komplett aufgelöst ist, funktioniert man wie eine Maschine“, so Sandra Norak über ihre persönliche Ich-Auflösung. Sie ging dann auch nicht mehr zur Schule. 

Dr. Kraus kennt sich damit sehr gut aus. „Irgendwann löst sich das Ich auf und traumatische Störungen stehen im Vordergrund.“ Hierbei gibt es verschiedene psychische Mechanismen, die die Opfer verstummen lassen und wehrlos machen. Ein Mechanismus sind die täterloyalen Anteile. Die Bindung, die die Opfer zum Loverboy, also dem Täter aufgebaut haben, verteidigen sie nun. Die Traumatherapeutin zitiert ein paar Beispiele. „Er versteht mich, er liebt mich“, „ich muss ihm helfen“, „er gibt mir auch was, er hat mir geholfen in der Not.“ Weiterhin spricht sie von Täterintrojekten. Hierbei geht es darum, die Bindung zum Täter zu stabilisieren. Also passen sich die Opfer an und verinnerlichen die Erwartungen, die der Täter an sie stellt. Eigene Bedürfnisse und Gefühle werden nicht mehr wahrgenommen. Sogar Gewalt nehmen die Opfer in Kauf. Daraus resultiert ein Gefühl der eigenen Wertlosigkeit und Scham. Nun ist das Opfer soweit zu denken es habe nichts Besseres verdient. Auch Angst sei einer der Mechanismen, der letztendlich die Opfer dazu bringe, sich selbst zu verlieren. Das alles, ein Prozess der Ich-Auflösung.

„Warum kann ich mir das Gesicht von dem Freier nicht merken?“

„Die Freier haben in der großen Mehrheit gesehen, dass wir leiden, dass wir Schmerzen haben, dass es uns nicht gut geht“, versucht Sandra Norak in Worte zu fassen, wie es ihr und anderen Mädchen ergangen war. All diese Brutalität nahm sie später nur noch wie in Trance wahr. „Natürlich habe ich mich manchmal gefragt, warum kann ich mir das Gesicht von dem Freier nicht merken, warum den Namen nicht, warum weiß ich nicht mehr was ich mit dem gesprochen hab, aber ich habe mir keine Gedanken darüber gemacht.“ Nachdem die heute 29-Jährige aus der Prostitution ausgestiegen war, bemerkte sie erst, dass etwas nicht stimmte. Sie erzählt wie sie nach Gesprächen mit ihrer Arbeitgeberin oft nicht mehr gewusst habe, was besprochen wurde. Im ersten Moment bekam sie Angst später begriff sie, der Mechanismus Dissoziation wurde zum Automatismus. 

„Wenn wir traumatisiert werden, dann ist der Hippokampus ausgeschaltet“ erklärt Dr. Kraus. In unserem Gehirn gibt es die Amygdala, den Hippokampus und den Kortex. Alle drei haben bei einer Angstsituation eine eigene Aufgabe. „Wenn wir jetzt ein ganz lautes Geräusch hören – dann erschrecken wir vielleicht“ erläuterte Dr. Kraus als Beispiel. Als erstes setzt hier die Amygdala ein, sie ist unser Angstzentrum. Dort entstehen Gefühle wie Wut, Trauer und Angst. Mit den Worten von der Traumatherapeutin würde der Hippokampus sagen „Nein, wir sind nicht im Krieg. Wir befinden uns im Haus der Konrad-Adenauer-Stiftung.“ Auch die Rolle des Kortex kommt dann ins Spiel. Er beruhigt und besitzt die Eigenschaft, diese Reaktion längerfristig zu speichern. Wenn Menschen in extreme Stresssituationen geraten, versetzt die Amygdala diese in einen Zustand, indem sie kämpfen oder fliehen können. Dazu gehört zum Beispiel ein Adrenalinschub. Wird der Stress aber zu groß, schüttet unser Gehirn betäubende Hormone aus. Wenn das geschieht, reagieren Hippokampus und Kortex nicht mehr. In diesem Trance-Zustand funktionieren Bewusstsein und Gedächtnis nicht mehr. Dieser Mechanismus nennt sich Dissoziation. Wie es auch Dr. Kraus schon mehrfach erlebt hat, können sich die Frauen durch den Mechanismus oft nicht an das Geschehene erinnern. Ihre Aussagen sind schwammig und haben Lücken. Vor Gericht wird ihnen dann Täuschung vorgeworfen. Für die Traumatherapeutin ist aber ganz klar: Die Frauen sind Opfer schwerwiegender Traumatisierungen.

Endstation Sexkaufverbot

Heute ist Sandra Norak Teil des „SISTERS – für den Ausstieg aus der Prostitution! e.V.“ Ein wichtiger Schritt ist für sie die Aufklärung. Sie plädiert an alle im Raum, es müsse mehr Aufklärung stattfinden. Angefangen bei Polizeibeamten, über Staatsanwälte, Richterinnen und Richter bis hin zu minderjährigen Schülerinnen. Sandra Norak selbst besuchte bereits Klassen, um dort über die Loverboy Methode zu informieren. Gemeinsam mit Dr. Kraus fordert auch sie das „nordische Modell“. Dies sieht ein Sexkaufverbot vor.

Text und Titelbild: Hannah Narçin

<h3>Alexander Grau</h3>

Alexander Grau

geb. 1997 in Leipzig, studiert Medienmanagement im fünften Semester in der Vertiefungsrichtung Journalismus. Bei medienMITTWEIDA ist er als Redakteur und Lektor tätig.