Migrationspolitik

Das Problem mit Pull-Faktoren

von | 12. Januar 2024

Wie attraktiv ist Deutschland für Asylsuchende?

In Deutschland sind im Jahr 2023 rund 325.000 Asylanträge gestellt worden, dazu kamen rund 1,1 Millionen ukrainische Kriegsflüchtlinge seit Kriegsbeginn, die direkt als Geflüchtete anerkannt wurden. Die Ankunft dieser Menschen und der damit verbundene finanzielle und behördliche Aufwand, lässt die Debatte über Migrations- und Asylpolitik wieder neu aufleben. Häufig wurde in der Politik mit der Attraktivität Deutschlands als Zielland argumentiert. In der Debatte fällt immer wieder der Begriff der Pull-Faktoren Deutschlands, welcher einen Grund für die im europäischen Vergleich höchste Anzahl an Asylanträgen liefern soll. 

Was sind also Pull-Faktoren und was muss man über Sie wissen?

Pull Faktoren

Die Theorie der Push- und Pull-Faktoren geht auf den Soziologen Everett Lee zurück und beschreibt, dass universelle Faktoren Menschen im Heimatland wegdrücken und wiederum entgegengesetzte universelle Faktoren Menschen in Zielländer ziehen. Pull-Faktoren (dt. Zieh-Faktoren) beschreiben die positiven Umstände im Zielland für Migrant*innen. Dazu zählen in Deutschland zum Beispiel der Rechtsstaat, eine stabile Demokratie, worauf unser materieller Wohlstand und persönliche Freiheit basieren. Aber auch der Arbeitsmarkt gehört dazu. Demgegenüber stehen die Push-Faktoren (dt. Drück-Faktoren). Diese beschreiben die negativen Umstände im Herkunftsländern von Migrant*innen. Hierzu zählen beispielsweise politische oder religiöse Verfolgung, ebenso Kriege oder wirtschaftliche Krisen. Neben diesen politischen und wirtschaftlichen Beweggründen sind aber auch Umweltfaktoren seit jeher ein entscheidender Treiber für Migration. Durch den Klimawandel werden extreme Wetterereignisse wahrscheinlicher, wodurch eine steigende Anzahl an Menschen von umweltbedingter Migration betroffen sein wird. Dabei sind einige Regionen besonders intensiv betroffen: deutlich wird das schon jetzt bei Inselstaaten, die aufgrund steigender Meeresspiegel zukünftig nicht bewohnbar sein werden.

Die Theorie steht in der Kritik

Die Erklärung von Migrationsbewegungen durch Push- und Pull-Faktoren steht bei Expert*innen in der Kritik. Häufig wird bemängelt, dass die Theorie nur einen Ausschnitt der tatsächlichen Gründe für Migration umfasst und kaum auf die individuellen Rahmenbedingungen jedes einzelnen Menschen eingeht. Im Interview mit medienMITTWEIDA erklärt Prof. Dr. Tobias Heidland, Migrationsforscher am Kieler Institut für Weltwirtschaft, dass es eine große Heterogenität bei den Menschen gebe und die Debatte über Push- und Pull-Faktoren diese nicht reflektiere.

Der Großteil der Menschheit möchte das Land nicht verlassen.

Prof. Dr. Tobias Heidland

Dieser Punkt komme in der gesamten Debatte über die Pull-Faktoren zu kurz. Die Gründe und Motive, die einen Menschen dazu bewegen, aus seinem Heimatland zu fliehen und in einem fremden Land Asyl zu beantragen, seien komplex. Im Interview mit der Tagesschau, konstatiert Heidland:

Wenn man das mal wortwörtlich nimmt, dann kann es Faktoren geben, die jemanden schieben, und es gibt Faktoren, die jemanden ziehen. Der Mensch selber hat in diesem Modell eigentlich gar kein Mitspracherecht, sondern ist diesen Faktoren von außen komplett unterworfen.”

Prof. Dr. Tobias Heidland

Individuelle Faktoren, wie die geografische Nähe zur Familie zu wahren, die Sprache sowie soziale Kontakte kämen bei dieser Betrachtungsweise zu kurz. In der Wissenschaft spielen daher Push- und Pull-Faktoren kaum noch eine Rolle. Wir wissen heute, dass Migration viel komplizierter ist, sagt Migrationsforscher Jochen Oltmer im Gespräch mit dem Mediendienst Integration. Die Familiensituation spiele bei der Entscheidung eine wesentliche Rolle. Das Hauptmotiv für migrierende Eltern sei die Ermöglichung eines besseren Lebens für ihre Kinder, während junge Menschen ohne eigene Familie oft auf der Suche nach guten Berufen seien, so Heidland.

Politiker*innen argumentieren mit Pull Faktoren

Um die politische Debatte zum Thema Migration und Pull-Faktoren besser einschätzen zu können, ist es wichtig zu wissen, in welchem Zusammenhang der Begriff verwendet wird. Der Begriff Pull-Faktor wird kaum in Bezug auf Arbeitsmigration, Bildungsmigration oder Familienmigration verwendet. Geht es jedoch um Asyl und die damit verbundenen Sozialleistungen, wird häufig auf den Begriff zurückgegriffen. Friedrich Merz, Parteivorsitzender der CDU, sorgte erst im September 2023 für viel Aufregung mit seiner Aussage über Asylbewerber*innen beim Fernsehsender Welt:

Die sitzen beim Arzt und lassen sich die Zähne neu machen, und die deutschen Bürger nebendran kriegen keine Termine. Was Sie hier machen, ist eine Katastrophe für dieses Land.

Friedrich Merz

Mit seiner Aussage kritisiert er die aktuelle Regierung in Bezug auf die Sozialleistungen für Asylbewerber*innen. Schon Ende 2022, als er den ukrainischen Flüchtlingen Sozialtourismus vorwarf, geriet Merz in die Kritik. Die Regierungsparteien warfen Merz Stimmungsmache und Taktiken der AfDvor. Später entschuldigte er sich für die Aussage. Aktuell gebe es laut Migrationsforscher Heidland zwei Ansätze in der politischen Landschaft, um das Problem zu beschreiben. In der Ampel-Koalition sei es ziemlich breiter Konsens, dass vor allem die gemischte Migration das Problem darstelle. Also Menschen, die keinen Chance auf Asyl hätten, es trotzdem versuchten und somit das System ein Stück weit verstopfen, so Heidland. Der zweite Ansatz: Dass Deutschland attraktive Sozialleistungen biete und damit zu viele Migranten anziehe, “ein Punkt, der viel von Friedrich Merz und anderen, insbesondere auch von der AfD, gemacht wird“, so Heidland.

Das ist eine ganz andere Herangehensweise, zu sagen, wir wollen weniger Menschen Schutz gewähren, und das nicht ein[zu]schränk[en] auf die Leute, die keinen Schutz bekommen und nicht abgeschoben werden können.”

Prof. Dr. Tobias Heidland

Aber wie sehen die Leistungen für Asylbewerber*innen überhaupt aus und kann man diese einfach ändern?

Sozialstaat für alle

Deutschland ist ein Staat mit Sozialleistungen und Absicherungen. Im weltweiten Vergleich ist das deutsche Sozialstaatssystem besonders umfassend. Rund 30 Prozent des deutschen Bruttoinlandsproduktes wird für die soziale Sicherung aufgebracht, das entsprach im Jahr 2023 1.178,5 Billionen Euro. Damit ist Deutschland bei der Höhe des beschriebenen Sozialbudgets im internationalen Ranking auf den oberen Plätzen. Auch in unserem Grundgesetz ist das verankert. Der Hintergrund: Art. 20 Absatz 1 Variante 2 des Grundgesetzes bestimmt, dass die Bundesrepublik Deutschland ein Sozialstaat ist. Durch ein Netz aus gesetzlichen Versicherungen wie der Krankenversicherung, Rentenversicherung oder der Arbeitslosenversicherung sind deutsche Staatsbürger*innen vor existenziellen Bedrohungen abgesichert. Ausdruck findet das Sozialstaatsprinzip etwa im Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Das heißt, dass der Staat unterstützt, wenn man selbst nicht mehr für seinen Lebensunterhalt sorgen kann. Mit Blick auf die Menschenwürdegarantie sicherte ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts das Grundrecht im Jahr 2010. Dieses gilt für alle Deutschen sowie ausländischen Staatsangehörigen mit Aufenthalt in Deutschland und ebenfalls für Menschen mit abgelehnten Asylanträgen.

Die Ausgestaltung und Höhe der Sozialleistungen für Asylbewerber orientiert sich an diesem Existenzminimum. In der Politik wird jedoch häufig die Höhe der Sozialleistungen kritisiert und als Pull-Faktor genannt, der verringert werden sollte. Prof. Dr. Tobias Heidland sagt folgendes über die Senkung von Leistungen für Asylsuchende:

Die Gerichte in Deutschland sind sehr klar, dass unser Grundsicherungsniveau […] die absolute Untergrenze ist, dessen was ein menschenwürdiges Leben erlaubt. Das ist das, was von rechtlicher Seite als absolutes Minimum definiert wird. Es ist also sehr schwierig zu argumentieren, dass ein anderes absolutes Minimum für Menschen gelte, die von woanders kommen.

Prof. Dr. Tobias Heidland

Wolle man diese Grenze unterschreiten, sei das nur über eine Gesetzesänderung möglich, so Heidland.

Diese Leistungen bekommen Asylbewerber

Festgeschrieben ist das, was Asylbewerber*innen letztendlich bekommt, im Asylbewerberleistungsgesetz.
Die Leistungen für hilfsbedürftige Personen lassen sich je nach Stand des Asylantrags in drei Gruppen unterteilen. Während der Antragsstellung, deren Dauer 2022 durchschnittlich länger als sieben Monate betrug, stehen einer alleinstehenden Person 410 Euro pro Monat zur Verfügung.

In dieser Zeit bekommt man eben eine […] gute Sicherung, und die ist besser als in anderen europäischen Ländern. 

Prof. Dr. Tobias Heidland

Der Betrag unterteilt sich in 182 Euro persönlichen Bedarf und 228 Euro notwendigen Bedarf. Diese Leistungen können je nach Situation auch als Sachleistungen oder in Form von Wertkarten überschrieben werden. Außerdem gibt es die Möglichkeit einer Abstufung der Leistungssätze. So erhalten beispielsweise Paare, die in einem Haushalt leben, 369 Euro pro Person und Kinder im Alter von sechs bis dreizehn Jahren 304 Euro. Nach einer erfolgreichen Antragsprüfung steht dem Antragsteller, wie jedem anderen deutschen Staatsbürger auch, ein Recht auf Bürgergeld zu, welches sich aus 502 Euro sowie die Kosten für Wohnung und Heizung zusammensetzt. 

Im Fall eines abgelehnten Asylantrags und auch bei Ausreisen wird die Zahlung von Leistungen eingestellt. Liegt jedoch eine Duldung des Asylbewerbers vor, die beispielsweise in fehlenden Dokumenten oder einem Sicherheitsrisiko im Herkunftsland begründet sein kann, so stehen ebenfalls Leistungen zu. 

Gewollt unattraktiv

Lässt man die bereits aufgezeigten rechtlichen Schwierigkeiten zu Senkung der Sozialleistungen für Asylbewerber einmal außen vor und geht von einer Gesetzesänderung aus, mit der es möglich wäre, die Leistungen für Asylsuchende in Deutschland verringern, steht nun die Wirksamkeit dieser Änderung zu Frage. Die Verringerung des Pull-Faktors Sozialleistungen, beispielsweise durch eine Senkung des Grundsicherungsniveaus für diese spezielle Gruppe, soll eine geringere Anzahl an Asylanträgen in Deutschland zur Folge haben. Im Interview mit medienMITTWEIDA erklärte Tobias Heidland, dass es bei migrationspolitischen Entscheidungen eine große Schwierigkeit gebe durch Veränderung merklich etwas zu steuern. Klar ist trotzdem, viele kleine Maßnahmen erzeugen einen Gesamteffekt, der durchaus eine Wirkung zeigen kann, so Heidland. Eine große Wirksamkeit lasse sich beim EU-Türkei-Deal aus dem Jahr 2016 erkennen. Das ebenfalls oft kritisierte Abkommen bestand darin, dass die EU der Türkei dafür Geld zahlte, Menschen, die über die Türkei in die EU geflohen waren, bei einer Abschiebung aus der EU wieder aufzunehmen.Wichtig seien aber die Lösungen, die auf europäischer oder globaler Ebene angestrebt werden, so Heidland.Eine hohe Wirksamkeit biete jedoch die schnellere Abwicklung von Asylverfahren. Der Asylkanal solle offen stehen, aber Menschen, denen von vornherein keine Chance auf Asyl zustehe, sollten sich darüber im Klaren sein und sich dann gar nicht auf den Weg machen, so Heidland. Auch in der Wissenschaft würde dieser Klarheit im Bezug auf Abschiebung für Menschen ohne Aufenthaltsrecht eine hohe Wirksamkeit zugesprochen werden.

Kurzkommentar des Autors

Gewollt attraktiv

Unser demografischer Wandel führt schon jetzt zu einem akuten Arbeitskräftemangel. Die Lücke an Arbeitsstellen, für die es keine passenden Fachkräfte gibt, beträgt 2023 mehr als eine halbe Million Stellen. Demgegenüber steht eine enorme Migrationsbewegung auf Grund des Klimawandels, die auf uns zukommen wird. Schätzungen zufolge werden bis 2050 mehrere hundert Millionen allein durch Umweltveränderungen von Migration betroffen sein. 

In Zukunft wird der Umgang mit Menschen, die in Deutschland Asyl suchen, entscheidend sein. Die Art und Weise, wie wir diesen Menschen, die oft einen schweren Weg hinter sich haben, entgegentreten, wie wir sie aufnehmen und integrieren, wird unser zukünftiges gesellschaftliches Klima prägen. Und dafür braucht es strukturelle Änderungen im Umgang mit dem Thema Migration und Asylsuchende. Jeder kann seinen Teil zur Integration beitragen, und da kann es schon helfen, in seinem Umfeld, in der Bahn oder auf Arbeit diesen Menschen ein gutes Gefühl zu geben und sie nicht abzustempeln. Hier sind populistische Äußerungen von Spitzenpolitiker*innen, die sich eigentlich ihrer Verantwortung bewusst sein sollten, enorm kontraproduktiv. Menschenbilder, die durch die öffentliche Kommunikation geprägt werden und auch die Abwehrhaltung in der Politik, werden in Zukunft nicht zu nachhaltigen Lösungen führen. 

Ganz im Gegenteil sollte sich die Politik noch mehr bemühen, attraktiver für Fachkräfte zu werden. Arbeitsmigrant*innen einfachere legale Optionen bieten, in Deutschland zu arbeiten und diese dann ebenfalls gut zu integrieren ist eine Notwendigkeit. Der deutsche Arbeitsmarkt sei sehr verschlossen, und wer nicht über illegale Wege probiere, nach Deutschland zu kommen, gehe in andere Länder, so Heidland. Wir verlieren dadurch dringend benötigte Arbeitskräfte.

Asylsuchende an Arbeitsplätze heranzuführen, um dem demografischen Wandel entgegenzuwirken, sind auch für unsere Wirtschaft und unseren Wohlstand notwendig. Und auch einen Schritt davor müssen wir ansetzen, Bildungswege öffnen und die Fachkräfte der Zukunft in Deutschland ausbilden. Wir sind darauf angewiesen. Jetzt darf uns bei der Debatte über zu große Attraktivität in der sozialen Absicherung nicht der Fehler passieren, den Anschluss bei der Attraktivität für Arbeitsmigrant*innen zu verlieren.

Text, Titelbild: Paul Frommann

<h3>Paul Frommann</h3>

Paul Frommann

ist 20 Jahre alt und studiert derzeit Medienmanagement im 6. Semester an der Hochschule Mittweida.