Aufgeräumt

Warum ein bisschen Chaos hilfreich ist

von | 8. Juli 2022

Ordnung und Chaos passen nicht zusammen? Psychologin Larissa Sander erklärt, warum wir beides brauchen.

„Ordnung ist das halbe Leben!“, dieses alt bekannte, mahnende Sprichwort haben wahrscheinlich schon viele von uns zu hören bekommen. Mittlerweile ist der Trend zum selbstoptimierten und strukturierteren Leben nicht mehr zu übersehen. Das “zukunftsInstitut” bezieht sich auf die Trendstudie “Die neue Achtsamkeit” und spricht von einer “neuen Sehnsucht nach Klarheit, Ordnung und Wohlbefinden”. Die Psychologin Larissa Sander erklärt im Interview mit medienMITTWEIDA, was Chaos eigentlich bedeutet und was das mit unserer Seele zu tun hat.

Hinsichtlich Ordnung und Chaos können Menschen sehr unterschiedlich sein. Manche Menschen stören sich an jedem nicht ordnungsgemäß platzierten Gegenstand, andere finden zwischen etlichen herumliegenden Sachen gerade noch den Weg durch die eigene Wohnung. Gibt es eine Definition von Chaos?

Larissa Sander: In der Psychologie gibt es keine mir bekannte genaue Definition von Chaos. Allerdings ist durchaus definiert, was wir im Rahmen von Theoriebildung als Chaos bezeichnen oder als Chaosprinzip. Wir versuchen immer, Verhalten so präzise wie möglich vorherzusagen und erklären zu können. Wenn das nicht mehr möglich ist, ist das für den Psychologen chaotisch. Ich denke, dass sich Chaos grundsätzlich darüber auch ableiten lässt. Immer dann, wenn ich eine Sache suche und sie nicht finde, dann könnte ich theoretisch schon von Chaos sprechen, weil ich nicht mehr vorhersagen kann, wo sich ein Gegenstand im Raum befindet. Ähnlich ist es mit dem Chaos im Inneren. Wenn ich nicht mehr vorhersagen kann, wie ich emotional auf eine Sache reagiere, habe ich in der Regel ein Verhaltenskontrollproblem, ein Emotionskontrollproblem und damit auch eine Form von Chaos, weil ich mich selbst nicht mehr zuordnen kann.

Würden Sie sagen, dass inneres und äußeres Chaos zusammengehören?

Larissa Sander: Die Frage ist immer erstmal: Was ist das Chaos und aus wessen Perspektive? Ist es das eigene wahrgenommene Chaos oder ist es ein Chaos, was jemand anderes bei mir identifiziert? Die Maßstäbe sind sehr verschieden. Es kann sein, dass jemand von außen meine Situation als total chaotisch betrachtet, während sie für mich überhaupt kein Problem darstellt. Wenn ich selbst mit einer Situation umzugehen weiß und sie meinem persönlichen Stil entspricht, dann weiß ich auch, was ich in der Situation, in der Räumlichkeit oder in meinem Erleben als nächstes zu erwarten habe. Andersrum kann mich jemand von außen als sehr strukturiert wahrnehmen und ich fühle mich aber sehr chaotisch, weil ich selbst keine große Kontrolle über meine Umwelt habe. Ich lebe zum Beispiel in einem super aufgeräumten Haus und finde dort nichts, weil ich keine Kontrolle darüber habe, wie meine Schränke eingeräumt werden, da mein Mann darüber das Sagen hat. Wenn ich selbst Chaos im Inneren empfinde, dann ist das ein Phänomen, dass sich so auch in der Umwelt widerspiegeln kann. Wir sprechen ja immer von einer Dualität zwischen Erleben, Verhalten und eben auch der Projektion auf die Umwelt oder der Beeinflussung durch diese. Es gibt Hinweise darauf, dass Menschen, die sich in einem chaotischeren Seelenzustand erleben, auch in einem chaotischeren Haushalt, einem chaotischeren Umfeld sind. Wenn das ihrer eigenen Wahrnehmung entspricht, bestärkt es das Gefühl vom Chaos im Inneren und ein Teufelskreis entsteht. Verhaltenstherapeutisch lohnt es sich darum durchaus, wenn man in der Seele aufräumen will, erst einmal in seiner Wohnung aufzuräumen.

Die eigene Wohnung aufzuräumen, nehmen sich viele Menschen vor … Es gibt sogar einige Aufräum-Coaches, deren Dienstleistung sehr gefragt ist. Warum gelingt es Menschen oft nicht, so ordentlich zu sein, wie sie es gerne wären?

Larissa Sander: Als Erstes brauche ich dafür eine Zieldefinition: Wie ordentlich möchte ich es bei mir haben? Und ich glaube, da scheitert es schon bei vielen, weil die Zieldefinition aus dem Äußeren heraus entsteht, zum Beispiel: Die Schwiegereltern kommen vorbei und es muss jetzt tippi toppi bei mir aussehen. Oder: Ich habe gesehen, wie Angelina Jolie wohnt in ihrer tollen Villa und wie dort alles geleckt und geputzt ist, und ich möchte das jetzt auch. Bei dem ersten Beispiel habe ich einen situativen Faktor, der zeitlich beschränkt ist. Das heißt, ich werde keinen nachhaltigen Effekt im Aufräumen haben. Wenn die Schwiegermutter geht, verfalle ich oft wieder in meinen Alltag. Bei dem zweiten Beispiel vernachlässige ich, dass das ganz andere Grundvoraussetzungen sind, mit denen ich hantiere: dass eine Angelina Jolie vielleicht auch eine Haushaltshilfe hat, die ich nicht habe. Das heißt, ich muss erstmal wieder mein Umfeld erfassen, meine Möglichkeiten abstecken und mir selbst Ziele setzen: Ab wann fühle ich mich denn eigentlich wohl? Alles, was ich über das Wohlfühlen hinaus mache, ist ganz klar verschenkte Energie. Es muss keinem in den eigenen vier Wänden gefallen außer einem selbst, das ist der eigene Rückzugsort. Und solange das in keinem gesundheitsschädlichen Zustand ist, also wenn ich jetzt mal wirklich von Vermüllung oder Verdreckung spreche, dann ist es eigentlich völlig egal, was Andere darüber denken. Dazu kommt, dass Ordnung halten, eine gewisse Ordnung herstellen, viel mit Gewohnheit zu tun hat und wir brauchen ziemlich lange, bis sich neue Gewohnheiten einschleifen. Es gibt so genannte „neural highways“, neuronale Netzwerkbahnen in unserem Hirn, die häufig benutzt werden, wir bezeichnen die mal als Autobahnen. Auf diesen Autobahnen laufen Informationen super gut lang, das sind unsere eingeschliffenen Gewohnheiten. Und dann gibt es neuronale Bahnen, die vernachlässigt wurden, da ist Urwald. Da kann ich mich nicht so schnell bewegen, da muss ich mich erstmal durchs Dickicht kämpfen. Information auf diesen Bahnen läuft sehr viel langsamer und ich muss sie ausbauen, um meine Gewohnheiten zu verändern. Das ist nicht mit einem Mal „Ich werde jetzt ordentlicher!“ verändert, sondern das braucht Training und Übung.

Die Psychologin Larissa Sander räumt mit ein paar Vorstellungen zum Thema Ordnung und Chaos auf.  Foto: Foto Lösche

Was würden Sie Menschen raten, die ordentlicher werden wollen?

Larissa Sander: Ich würde empfehlen, sich zunächst eine Liste zu machen, auf dem Papier oder in Gedanken: Was möchte ich ganz konkret verändern? Möchte ich zum Beispiel nicht mehr so viele Klamotten auf dem Boden herumliegen lassen, die Dokumentensortierung übersichtlicher gestalten oder mein Bücherregal aufräumen? Und dann priorisiere ich und stelle mir Fragen wie: Was davon ist mir am wichtigsten und was ist mir am wenigsten wichtig? Und dann fange ich an, Schritt für Schritt, meine Liste abzuarbeiten nach Priorität und nach Zeitaufwand. Am besten ist es immer, mit Dingen anzufangen, die für mich in der Priorität relativ hoch stehen, aber einen verhältnismäßig kleinen Zeitaufwand bedeuten. Dann komme ich in den Groove rein, sehe schnell Ergebnisse, sehe auch, was sich Schönes für mich verändert hat und mache dann gegebenenfalls weiter. Ganz wichtig ist außerdem, sich nicht alles auf einmal vorzunehmen, sondern zunächst ein Zimmer auszusuchen, das man ordentlicher gestalten und halten will. Nachdem es in den gewünschten Zustand versetzt wurde, muss aktiv trainiert werden, diesen über mehrere Wochen zu halten. Denn da scheitert es ja bei den meisten: nicht, das Ding einmal schön glänzend und schick zu bekommen, sondern diesen Zustand auch aufrechtzuerhalten. Und wenn ich gemerkt habe, das funktioniert mit dem einen Zimmer, dann gehe ich zum nächsten.

Mittlerweile ist Minimalismus zum Trend geworden. Viele Menschen wollen weniger Sachen besitzen. Ist das die Lösung des Problems?

Larissa Sander: Auch da gibt es leider wieder keine Pauschalantwort. Grundsätzlich hilft Reduzieren. Aber wenn ich mich von allen Dingen trenne, die mir Freude machen oder die für mich empfundene Luxusgüter sind, dann nehme ich mir da auch wieder Lebensfreude raus. Wenn ich jemand bin, der viel Wert darauf legt, seine Wohnung schön zu dekorieren und die Deko aber immer einstaubt, ist es vielleicht nicht die Lösung, alle Deko wegzuschmeißen oder auszusortieren oder zu verkaufen. Dann habe ich vielleicht weniger Staubfänger herumstehen, am Ende aber trotzdem keine Freude an meinem Umfeld, weil mir alles zu steril wirkt. Dadurch boykottiere ich mich auch am Ende wieder selbst und schade damit möglicherweise meiner seelischen Gesundheit.

Minimalismus bedeutet ...

… das eigene Leben einfacher zu gestalten und sich auf möglichst wenige wichtige Dinge zu beschränken. Die Gründe für diese Selbsteinschränkung können unterschiedlich sein: Manche Menschen wollen weniger konsumieren und sparsamer leben, anderen ist die persönliche Freiheit ohne unnötigen Ballast wichtig. Unabhängig vom Grund kann Minimalismus dabei helfen, mehr Ordnung ins eigene Leben zu bringen.

Wenn wir noch einmal auf den Wohlfühlfaktor eingehen: Gibt es Menschen, die ein gewisses Maß an Chaos brauchen, um sich wohlzufühlen?

Larissa Sander: Mit Sicherheit! Da würde ich mal aus Erfahrung sprechen, da gehöre ich, glaube ich, dazu. Wenn alles super strukturiert ist, dann macht mir das eher immer ein bisschen Angst. Ich finde, ein leichtes Chaos hat auch etwas Heimisches, es hat einen eigenen Charakter. Und es ist ja, wie gesagt, nur dann Chaos, wenn ich selbst das Gefühl habe, ich habe es nicht mehr unter Kontrolle. In dem Moment, wo ich alle meine Sachen wiederfinde, habe ich kein Problem damit. Der Leidensdruck entsteht dann, wenn ich das als Chaos empfinde, weil ich gewisse Dinge nicht mehr machen kann oder bestimmte Dinge einfach nicht mehr finde. Es kann aber auch Leidensdruck entstehen, wenn alles zu steril aussieht. Da sind wir Menschen zum Glück ganz verschieden, auch vom arbeitstechnischen her. Es gibt auch prozessuales Chaos. Es gibt Leute, die arbeiten ganz strukturiert ihre Arbeitsaufträge runter. Und dann gibt es Menschen, die von außen empfunden eher chaotisch an Arbeitsaufträgen arbeiten. Sie fangen den einen an, machen bei dem anderen weiter, je nach Gefühl. Auch das kann aber ein sehr produktiver Arbeitsstil sein und es wäre dann fatal, solche Menschen in eine bestimmte Struktur zu pressen, weil sie unter der vielleicht gar nicht arbeiten können.

Da sagt man ja zum Beispiel auch: Der Künstler beherrscht das Chaos … Was ist bei solchen künstlerisch veranlagten Menschen anders?

Larissa Sander: Sprichwörter wie diese sind nicht sehr nah an den tatsächlichen psychologischen Hypothesen zu dem Thema dran. Aber man kann das von der neurokognitiven Seite schon so betrachten, dass ein kreativ-lösungsorientiertes Gehirn und ein rational-lösungsorientiertes Gehirn kognitiv neuronal anders aufgebaut sind. Ganz plakativ gesagt: Die rechte Gehirnhälfte ist eher für das rational-logische Denken, die linke eher für das kreativ-künstlerisch-lösungsorientierte Denken zuständig. Je nachdem, welche Hirnhälfte in welcher Situation aktiver ist, gestaltet sich auch mein Ansatz, wie ich für bestimmte Probleme Lösungen suche und finde. Und da gehört vielleicht ein chaotischer Herangehensweg genauso dazu wie ein strukturierter Herangehensweg.

Bedeutet dies, dass sich Struktur und Chaos gewissermaßen ergänzen?

Larissa Sander: Ja, durchaus. Ich glaube, man braucht beides. Es ist eben nicht auf die Person bestimmt, sondern auf die jeweilige Situation. Und darum sollte man, wie von so vielem im Leben, ein ausgewogenes Maß von beidem im Leben haben, sofern man Chaos so gesellschaftlich definiert. Wenn man es psychologisch definiert, dann erzeugt es Leidensdruck und dann sollte man gucken, dass man den schnellstmöglich beseitigt. Aber es kann wiederum auch ein Ansporn sein. Wenn ich nichts verändern will, habe ich auch keine Motivation, etwas zu tun. Also in der Hinsicht könnte es schon sein, dass ich auch das psychologische Chaos brauche.

Text: Franziska Börner, Bilder: Franziska Börner, Foto Lösche
<h3>Franziska Börner</h3>

Franziska Börner

studiert derzeit im 4. Semester Medienmanagement an der Hochschule Mittweida. Bei medienMITTWEIDA engagiert sie sich als Redakteurin und Assistenz der Bildredaktion seit dem Sommersemester 2022.