Musikikonen

Stimmgabel der Massen

von | 1. Juli 2022

Ökonomisch, kulturell oder emotional - Musikikonen beeinflussen die Menschheit. Doch was macht eine Musikikone aus und wer kann sich heute als solche bezeichnen?

Hysterie, Dopamin und Bassfrequenzen. 1,5 Milliarden Menschen, die gebannt den Klängen der Bühnen- oder Fersehlautsprecher lauschen. Der Gesang der Massen biegt sich nach den Gesängen des Leadsängers auf der Bühne. Menschen fallen in Ohnmacht. Ein Moment, der als Höhepunkt des Live Aid-Konzerts und bester Live-Auftritt in die Musikgeschichte eingehen wird. Freddie Mercury hat zweifellos eine besondere Wirkung auf das Massenpublikum. Künstler:innen wie er, Elvis Presley oder Madonna werden häufig als Musikikone bezeichnet. Aus welchem Holz sind Ikonen geschnitzt und welche aktuellen Musiker der westlichen Kultur reichen an die historischen Größen heran?

Ikonen als kulturelle Vorbilder

Was haben Freddie Mercury, Mickey Mouse und Audrey Hepburn gemeinsam? Auf den ersten Blick vermutlich nicht viel. Allerdings wird allen gleichermaßen ein besonders großer Einfluss zugeschrieben – wenn auch auf verschiedene Menschengruppen und zu verschiedenen Zeitpunkten.
Musikikonen gehören, gemeinsam mit Berühmtheiten des Filmgenres und der Mode, zu der Populärkultur. Ikonen werden in erster Linie als Leitbild beziehungsweise Verkörperung von Wertevorstellungen, Stil oder einem spezifischen Lebensgefühl gesehen. Sie dienen einer Vielzahl an Menschen als Vorbild. Doch warum suchen Menschen nach Personen, denen sie nacheifern können?  Die Antwort lautet: Inspiration. Die Ursache für das menschliche Verlangen nach Vorbildern ist, neben dem Grundbedürfnis der Orientierungssuche, der Drang neue Ziele zu erreichen. Die verkörperten Ideale motivieren den Menschen zum Anstreben von neuen Soll-Zuständen und dem daraus resultierenden Gefühl von Verwirklichung und Erfolg. Dabei müssen Vorbilder nur in bedingtem Maße weltberühmte Stars und Sternchen sein. Der Mensch, als hilfloses, unwissendes Wesen in diese Welt hineingeboren, befindet sich auf der allgegenwärtigen Suche nach Leitfiguren und Vorbildern, von denen er lernen will. Sei es die liebende, fürsorgliche Mutter, später der inspirierende Lehrer oder der Mercedes fahrende Nachbar von nebenan – Vorbilder beeinflussen oft die Verhaltens- und Denkweisen, vor allem für junge Menschen – und sind wegweisend für deren Lebensrealität. 

Bauanleitung zur Musikikone 

Bei dem Namen Freddie Mercury ist sich die Masse einig: Er war eine Musikikone.  Aber wann kann man sich als Ikone bezeichnen und wer legt das eigentlich fest? 

Eine feste Formel dafür gibt es natürlich nicht, allerdings reicht es definitiv nicht als Musiker:in einfach nur “dick im Geschäft” zu sein. Die Weltberühmtheiten gleichen sich zum Teil in greifbaren EigenschaftenRocksänger Freddie Mercury, gebürtig Farrokh Bulsara, galt privat als introvertiert und schüchtern, auf der Bühne hingegen glich er einer Supernova. 

Auch heute ist die Nachwelt noch fasziniert von verstorbenen Größen wie Freddie Mercury: Das Biografische Filmdrama, benannt nach einem ihrer größten Hits “Bohemian Rhapsody”, umreißt die Erfolgsgeschichte von Queen. Ein Vergleich zwischen realem Konzertmitschnitt des Live Aid-Konzerts 1985 und Filmausschnitts zeigt deutlich den detaillierten Blick der Medien auf den weltbekannten Performer Mercury und dessen Einfluss auf das Konzertpublikum.

Die Kunstfigur, mit der er sich schließlich gänzlich identifizierte, diente dem Musiker als Neuerfindung seiner Selbst – ein Selbst, mit dem er seit seiner Jugend haderte. Psychische Probleme treten häufig bei besonders erfolgreichen Personen auf. Sie können durch beruflichen und gesellschaftlichen Druck, traumatische Schicksalsschläge oder durch eine schwere Kindheit entstehen.  

Damit verbunden ist der Hang zur inneren Unruhe. Musiker wie Mercury streben stets nach höheren Leistungen und Zielen. Daraus resultiert nicht nur ein häufig eintretender Größenwahn, sondern Verbissenheit und Ehrgeiz teilweise bis in extremste Weise an der Selbstvermarktung und eigenen Produktionen und Techniken zu feilen. Besonders wenn es sich dabei um musikalisches Neuland handelt, ist eine große Risikobereitschaft von Nöten. Wenn sich Musik neuer Einflüsse, Techniken oder Stile bedient, hebt sie sich vom Massenmarkt der Musikindustrie ab. 

Einzigartig war nicht nur die Stimmfarbe von Freddie Mercury – besonderen Ausdruck verlieh er seinem Gesang durch grelles Vibrato – einer speziellen Stimmtechnik. Aber nicht allein sein Gesang war Garant für goldene Schallplatten am Fließband. Gemeinsam mit seinen Bandkollegen Brian May, Roger Taylor und John Deacon, interpretierte er Rockmusik neu. Ihr vielleicht experimentellster Titel Bohemian Rhapsody verarbeitete in knapp sechs Minuten große stilistische Vielfalt und verschiedene Emotionsausprägungen – sowohl Überlänge als auch die Einflüsse aus der italienischen Oper erfordern großen Mut. Bereits 5 Tage nach der Veröffentlichung wurde der Track zur ersten Nummer-1-Single für Queen

All die Arbeit und musikalische Qualität sind in der Regel trotzdem nicht genug, um sich als Interpret:in durchzusetzen: Hörer:innen stehen allein auf der Streamingplattform Spotify über 82 Millionen Tracks zur Verfügung. Um die für wachsende Streamingzahlen nötige Aufmerksamkeit zu generieren, reicht es als Musiker:in heute nicht mehr aus, “nur“ außergewöhnlich gute Musik zu machen. Daher gehört auch die Selbstvermarktung über Charisma und Charakter zu den Anforderungen im Musik-Business. Besonders durch den Überfluss an Angebot auf dem Musikmarkt stellen Menschen hohe Ansprüche. Sie wollen nicht nur „Neues“ hören, sondern vor allem sehen. Künstler:innen werden zur Marke: sei es die unverwechselbare Attitüde, Ausrichtung des sozialen Engagements, Live-Performances der Superlative oder schrille, unerwartete Erscheinungen. Alles sollte neu, auffallend sein, und vor allem ein Gesamtbild ergeben. 

Um den Vorstellungen von Individualität und Auffälligkeit zu entsprechen, legen sich viele Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, Kunstfiguren, Alter Egos und Künstlernamen zu. Auch Queen verdankte einen großen Teil ihres Erfolgs den lasziven, mitreißenden Bühnen-Performances des Frontsängers. Unter neuem Namen und hinter einer aufgesetzten Persönlichkeit versteckte sich ein, vielleicht trotz seiner Berühmtheit, vollkommen unbekannter, introvertierter, unsicherer Mensch. Man könnte sich also die Frage stellen: Existieren Ikonen denn überhaupt oder sind es Illusionen und Kunstfiguren, welche wir uns in unseren Köpfen zu Vorbildern zurechtlegen?

Wer die Musik zum Beruf machen möchte, darf eines nicht vergessen: Networking. Heute eins der bedeutendsten Instrumente in der Berufswelt, ist das Netzwerken unabdinglich geworden, um neue Aufstiegschancen und Ressourcen zu erschließen. Auch im Musikbusiness kommen Künstler nicht ohne das Knüpfen von Kontakten zu Labels, Presse und anderen Business-Partnern aus.

Egal ob nun “Was lange währt, wird endlich gut” oder “Die Übung macht den Meister.” Durchhaltevermögen und eine gewisse Opferbereitschaft – besonders im Bezug auf zeitliche Investitionen – sind zwei Eigenschaften, die nicht nur nach Erfolg dürstende Musiker:innen vereinen sollten.

Der Grundton der Musik-Szene 

Beim Blick auf die heutige und vergangene Musiklandschaft stellt sich die Frage: Wie haben sich die Grundtendenzen und Voraussetzungen für aufstrebende Musiker:innen geändert?

Auffallend ist der stetige Zuwachs an neuen Künstlern und die damit einhergehende Differenzierung des Musikmarktes. Einstiegsbarrieren gibt es heute kaum noch in der Branche. Technische Hürden werden durch den kostengünstigen Zugriff auf Tontechnik und Audio-Software, wie Ableton, stark entschärft. 

Auch bei großen Künstlern bereits etabliert, kann im praktischen Home-Studio Musik geschrieben, aufgenommen und produziert werden. In vielen Fällen kann sogar auf professionelles Equipment in Form von Mikrofonen verzichtet werden: Selbst Smartphones, Laptops und Co. haben unter anderem Mikrofone, die geeignet sind, um Gesang aufzuzeichnen. So entspringen sogar die Gesangsspuren von großen Chart-Hits, wie I like me better von Lauv, zum Teil aus Smartphone-Recordings. 

Wer Musik produzieren möchte, dem sind heutzutage kaum Grenzen gesetzt. 

Besonders durch die sozialen Medien hat so ziemlich jede:r die Chance Aufmerksamkeit zu generieren und seine beziehungsweise ihre Musik an ein Publikum zu tragen. Die Meinung einzelner Vertriebsunternehmen und Labels ist zu Gunsten der digitalen Massenmeinung an zweite Stelle getreten. Digitale Vertriebssysteme wie Spinnup ermöglichen das Veröffentlichen von Songs auf den großen Playern der Musik-Streamingdienste wie Spotify für kleines Geld. 

Ein guter Song, ein ausdrucksvolles Video, selbst eine prägnante Line kann ausreichen für einen Hype und somit zum musikalischen Durchbruch führen.
Doch genau hier liegt der Haken: Jeder kann Musik machen und diese veröffentlichen. Das Überangebot mindert die Aufstiegschancen für einzelne Künstler:innen, da ein Herausstechen umso schwerer ist. 

Die Vielzahl an Genre-Ausprägungen resultiert in einer feingliedrigen Fankultur. Es ist also schier unmöglich, alle Bands und Musiker:innen unserer Zeit zu kennen. Auch die Tendenz zu sogenannten One-Hit-Wonder ist durch die Schnelllebigkeit der Branche stetig gestiegen. Ist es unter den vorherrschenden Bedingungen denn dann überhaupt möglich, einen Ikonen-Status zu erreichen? 

Auf seinem eigenem YouTube-Channel zeigt der Sänger und Songwriter Lauv wie er Melodie-Stimmen seines Songs I like me better über Smartphone aufnimmt.

Ist Harry Styles der neue Freddie Mercury?

Harry Styles ist mittlerweile nicht mehr aus unserem Social-Media-Alltag wegzudenken. Derzeit löst der britische Solo-Künstler scheinbar einen Hype nach dem nächsten aus. Gibt es sie also immer noch – die Superlativen der Musikbranche? Begeistern Künstler:innen noch immer gleichermaßen oder hat sich ihre Wirkungsweise geändert?

Tonträger-Verkäufe

In den Statistiken der Tonträger-Verkäufe werden sowohl analoge als auch digitale Verkäufe und Streams jeglicher Veröffentlichungen berücksichtigt. Für besonders hohe Verkaufszahlen werden sogenannte Goldene Schallplatten verliehen. 

Wer einen Blick auf die Tonträger-Verkäufe wirft, erkennt, dass aktuelle, westliche Künstler:innen kaum mit den Verkaufszahlen der alten Größen mithalten können. Das Ranking der Künstler mit über 200 Millionen verkauften Tonträgern wird eisern von den Popikonen des vergangenen Jahrhunderts, wie Madonna, den Beatles oder Elton John, “regiert”. 

Bis zum jetzigen Zeitpunkt konnte nur Pop-Sängerin Rihanna, als einzige:r Künstler:in der Post-Jahrtausendwende, einen Platz in der Liste mit 250 Millionen oder mehr verkauften Tonträgern ergattern. Rapper Eminem, Pop-Sängerin Taylor Swift und Justin Bieber haben die 250 Millionen-Marke zwar noch nicht geknackt, schaffen es aber auch in die oberen Reihen der Tonträger-Verkaufszahlen.
Wenn auch in der Unterzahl gibt es also aktuelle Musiker:innen, welche die Verkaufs-Dimensionen der alten Musikikonen erreichen.
Die Anordnung dieser Rangliste dürfte sich mit den fortschreitenden Karriere-Jahren der Branchen-Neulinge jedoch weiter verschieben. Aber wo liegt Harry Styles auf dieser Liste? Trotz seiner allgemeinen Bekanntheit, vor allem in jüngeren Altersgruppen, kann Styles zahlentechnisch nicht mit den “Urgesteinen” mithalten. Der durch die Boyband One Direction berühmt gewordene Sänger, feierte jedoch erst vor knapp fünf Jahren sein Debüt und erzielte mit seiner Musik bereits große Erfolge. Sein neues Album Harry’s House knackte mit 182,000 Verkäufen den Rekord für den stärksten Vinyl-Album Verkauf innerhalb der ersten Release-Woche. Er ist also auf dem besten Weg weitere Rekordmarken zu setzen.

Was den jungen Musiker aber neben seinen musikalischen Leistungen zu so großer Aufmerksamkeit und Popularität verhilft, ist sein Wesen. Denn auch in Bühnenperformance und Stilbewusstsein, Ausdruck und Wertevermittlung steht der 28-Jährige seinem Vorbild Freddie Mercury kaum in etwas nach. Seine Authentizität, Individualität und sein Freigeist machen ihn sympathisch und idealistisch für seine Fans. 

Fest steht: die Bedeutungszuweisung einer Musik-Größe ist letztendlich eine subjektive Betrachtung und kann nur schwer generalisiert werden. Jedoch lassen sich gewisse Parallelen in den Karrieren und Charakterzügen weltbekannter Ikonen erkennen. Am Ende des Tages sucht sich allerdings jeder Mensch eigenständig, und durch Urinstinkte bedingt, Vorbilder, die ihn nach höheren Zielen streben lassen und ihm Orientierung bieten. Diese Vorbilder können, aber müssen nicht Ikonen der Populärkultur sein.

Unberührt davon, wen der persönliche Musikgeschmack als solche anerkennt – Ikonen unterliegen alle demselben Phänomen: Sie scheinen unsterblich. Ihr größtes Merkmal ist also ihr überdauerndes Andenken, ihr Vermächtnis. Mit der Zeit wird die Beständigkeit der aktuellen Musikgrößen aufzeigen, wer den Nachhall einer wahren Musikikone ertönen lässt.

Text: Lena Grünert, Titelbild: Tom Heinke
<h3>Lena Grünert</h3>

Lena Grünert

ist 21 Jahre alt und studiert derzeit im 5. Semester Medienmanagement an der Hochschule Mittweida. Bei medienMITTWEIDA engagiert sie sich als Redakteur seit dem Sommersemester 2022.