Netflix hat in den vergangenen Jahren mit Sportdokumentationen wie „Drive to Survive“ (Formel1) und „Break Point“ (Tennis) erfolgreich neue Zuschauergruppen erschlossen und das Interesse an verschiedenen Sportarten neu entfacht. Nun geht der Streaming-Gigant einen Schritt weiter: Mit der Übertragung von NFL-Weihnachtsspielen und einem fünf Milliarden Dollar schweren Vertrag mit World Wrestling Entertainment (WWE), einer der größten und bekanntesten Wrestling-Organisationen weltweit, steigt Netflix in den Live-Sportmarkt ein. Dieser behutsame Vorstoß könnte das Angebot von Netflix erheblich erweitern, birgt jedoch auch Herausforderungen und Risiken in einem hart umkämpften Marktsegment.
Carla Frei und Christian Lang vom Zentrum für Sportmanagement an der Universität St. Gallen sehen die Hinwendung von Netflix zum Live-Sport als logischen Schritt. „Der Sport erzählt Geschichten, die Millionen Menschen bewegen“, erklärt Frei gegenüber der Neuen Züricher Zeitung und verweist auf die emotionale Kraft des Sports, die Streaming-Plattformen für sich nutzen können.
Netflix hat diese Stärke in den vergangenen Jahren bereits unter Beweis gestellt: Mit Formaten wie „Drive to Survive“ hat das Unternehmen gezeigt, wie emotionale und exklusive Einblicke Zuschauer nicht nur an den Bildschirm locken, sondern auch Sportarten mit rückläufigen Zuschauerzahlen wieder populär machen können. Die Formel-1-Dokumentation erreichte laut Deutschlandfunk innerhalb eines Jahres eine deutliche Verjüngung der Zuschauerbasis, wobei das Durchschnittsalter von 36 auf 32 Jahre sank.
Besonders in den USA löste „Drive to Survive“ einen regelrechten Formel-1-Boom aus. Seit der Erstausstrahlung stiegen die TV-Zuschauerzahlen um 40 Prozent, und die Rennen verzeichneten deutlich höhere Besucherzahlen. Während 2018 rund 240.000 Zuschauer das Rennen in Austin verfolgten, waren es drei Jahre später bereits 400.000 – ein Anstieg, der einen Mehrumsatz von einer Milliarde Dollar generierte.
Sport-Dokus als Publikumsmagnet
Doch die Formel-1-Dokumentation ist längst kein One-Hit-Wonder. Seit dem Erfolg der Serie wurden nach einem ähnlichen Prinzip viele Weitere zu verschiedensten Sportarten produziert. So zum Beispiel „Break Point“, die Einblicke in das Leben der großen Tennisstars gibt, oder die Serie über die Cheerleader des Football-Teams der Dallas Cowboys. Auch die Doku-Serie „Quarterback“ über die großen Stars der NFL wie Patrick Mahomes erfreut sich großer Beliebtheit.
Eines haben die unterschiedlichen, aufwändig produzierten Doku-Serien von Anbietern wie Netflix gemeinsam: Sie öffnen Türen zu Momenten, die dem gewöhnlichen Fan normalerweise verborgen bleiben. Hierbei spielt ein Faktor stets eine entscheidende Rolle: Große Emotionen – ein besonderes Merkmal des Sports.
Dies harmoniert laut Sportmanagement-Expertin Carla Frei perfekt mit den Stärken von Streamingdiensten wie Netflix, die emotionales Storytelling auf höchstem Niveau beherrschen. „Deshalb ist Live-Sport der ideale Inhalt für solche Plattformen“, äußert Frei gegenüber der Neuen Züricher Zeitung. Christian Lang ergänzt: „Ein Angebot an Live-Sport motiviert die Zuschauerinnen und Zuschauer, ihr Abonnement zu behalten oder neu abzuschließen.“ Daher erscheint es logisch, dass nun auch Netflix den Schritt ins Live-Sport-Geschäft wagt.
Ein Paukenschlag für die Streaming-Branche
Damit hat Netflix seine Haltung innerhalb der letzten zwei Jahre gegenüber Live-Sportübertragungen grundlegend geändert. Noch im Dezember 2022 äußerte der Netflix-Co-CEO Ted Sarandos auf der USB Global TMT Conference: „We aren’t anti-sports, we’re pro-profit. […] I’m very confident we can get twice as big without sports.“
Im Mai 2024 sah das anders aus. „Letztes Jahr haben wir uns dazu entschlossen, eine große Wette auf Live-Sendungen einzugehen – und dabei auf riesige Fangemeinden in den Bereichen Comedy, Reality-TV, Sport und mehr zu setzen“, sagte Chief Content Officer des Streaming-Anbieters, Bela Bajaria. „Es gibt keine jährlichen Live-Ereignisse, weder im Sport noch in anderen Bereichen, die mit dem Publikum vergleichbar sind, das NFL-Football anzieht. Wir sind begeistert, dass die Spiele der NFL am ersten Weihnachtsfeiertag nur auf Netflix zu sehen sein werden.“
Thomas Klingebiel, President Media des globalen Sportrechtevermarkters Sportfive, betrachtet die Entscheidung von Netflix, gezielt auf das bedeutendste Teilrecht abseits von Super Bowl und Play-offs zu setzen, als ein starkes Signal an die Konkurrenz. Gegenüber OMR bezeichnet er diesen Schritt als echten Paukenschlag.
Die NFL-Weihnachtsspiele, begleitet von Auftritten von Mariah Carey und Beyoncé, erzielten auf Netflix durchschnittlich über 30 Millionen globale Zuschauer pro Spiel und machten den 25. Dezember 2024 zum meistgesehenen Weihnachtstag in der Geschichte von Netflix in den USA.
Der Kampf mit Technikproblemen und Nutzerklagen
Doch nicht jede Live-Übertragung des Streaming-Anbieters verlief reibungslos: Bereits im November sorgte die Übertragung des Boxkampfes zwischen Mike Tyson und Jake Paul für Schlagzeile – allerdings nicht nur wegen des Events selbst, sondern auch aufgrund massiver technischer Probleme. Während des Boxkampfes kam es bei zahlreichen Zuschauern zu erheblichen Störungen wie schlechter Bildqualität, stockendem Stream oder vollständigen Ausfällen. Viele Nutzer äußerten ihren Unmut in den sozialen Medien und kritisierten Netflix für die unzureichende Vorbereitung auf die hohe Zuschauerzahl. Einige fühlten sich vom Kundenservice nicht ernst genommen, da die Schuld teilweise auf die Internetverbindungen der Nutzer geschoben wurde.
Ein Abonnent aus Florida reichte daraufhin eine Sammelklage ein, in der er dem Unternehmen Vertragsbruch vorwirft, da es nicht in der Lage gewesen sei, die versprochenen Dienste bereitzustellen. Er fordert Schadenersatz für die betroffenen Kunden.
Trotz der Herausforderungen erreichte die Übertragung des Kampfes zwischen Jake Paul und Mike Tyson Rekordwerte und führte laut dem Forschungsunternehmen Antenna Data zu 1,4 Millionen neuen Abonnements. Große Sportereignisse würden außerdem laut klamm.de durch ihre Pausen zahlreiche Möglichkeiten für Werbeeinblendungen bieten, was sie zu einer besonders lukrativen Einnahmequelle macht.
Live-Sport als Antwort auf den Konkurrenzdruck
Mit seinem Schritt hin zu Live-Sportübertragungen reagiert Netflix auf seit 2022 stagnierende Abonnenten-Zahlen sowie seine zunehmende Konkurrenz im Streaming-Markt und möchte neue Zielgruppen erreichen. Doch der Live-Sport-Markt ist hart umkämpft. Neben Netflix investieren auch andere Technologiegiganten wie Amazon und Apple in Sportrechte. Apple besitzt beispielsweise einen Zehnjahresvertrag für die weltweiten Rechte der amerikanischen Fußball-Liga MLS im Wert von 2,5 Milliarden Dollar. Amazon Prime Video überträgt in Deutschland seit der Saison 2021/2022 das Fußball Champions-League-Topspiel am Dienstagabend live und exklusiv, von den Play-offs bis zum Halbfinale. Neben Fußball zeigt Prime Video auch andere Sportarten, darunter Tennis sowie Spiele der NFL.
Amazon hatte vor einigen Jahren das Rennen der Tech-Konzerne, um große Live-Übertragungen gestartet. 2021 kaufte das Unternehmen als erstes Technologieunternehmen Exklusivrechte an NFL-Spielen im Wert von elf Milliarden US-Dollar.
Der Wettlauf um Übertragungsrechte
Die NFL-Rechte zählen aufgrund ihrer weltweiten Aufmerksamkeit zu den kostspieligsten der Welt. Ihre enorme Attraktivität führt dazu, dass sich zahlreiche Anbieter Anteile sichern wollen: So verfügt YouTube über Live-Rechte, ebenso Amazon, und nun betritt auch Netflix diesen Markt. Wer heutzutage alle NFL-Spiele verfolgen möchte, muss dafür inzwischen auf sieben verschiedene Abonnements zurückgreifen.
Auch in der Welt des Fußballs sieht es nicht anders aus. Der Zugang zu Live-Sport hat sich in den letzten Jahren deutlich verändert. Früher reichte ein Sky-Abonnement, um die Bundesliga und Champions-League-Spiele deutscher Teams zu verfolgen. Heute sind bis zu vier kostenpflichtige Abonnements nötig, um nationale und internationale Bundesliga-Spiele zu sehen. Gleichzeitig verschwinden klassische Free-TV-Sportarten: Die Formel 1 ist seit 2021 exklusiv bei Sky, und Wimbledon ist bereits seit 2011 nicht mehr im Free-TV verfügbar.
Neue Anbieter wie DAZN, MagentaSport, Dyn oder Sportdeutschland.TV drängten auf den Markt und sicherten sich zunehmend Rechte an beliebten oder Nischensportarten. Auch Plattformen wie Amazon Prime Video und RTL+ investieren verstärkt in europäische Fußballwettbewerbe, was den Kampf um Sportübertragungen weiter verschärft. Nun hat Netflix die exklusiven US-Rechte für die FIFA Frauen-Weltmeisterschaften 2027 und 2031 erworben.
Ab dem 6. Januar 2025 plant Netflix, wöchentlich die Wrestling-Show „WWE Raw“ live zu übertragen. Allerdings sind diese Übertragungen nicht in allen Ländern verfügbar – Deutschland ist derzeit ausgeschlossen. Auch hier hat Netflix viel Geld investiert. Während der zehnjährigen Laufzeit sollen mindestens fünf Milliarden Dollar fließen.
Sport als Chance und Risiko für Streaminganbieter
Christian Seifert, ehemaliger Chef der Deutschen Fußball Liga (DFL) und Gründer des Streaming-Dienstes Dyn, sieht den Vorteil von Sport für Streaminganbieter in dessen Verlässlichkeit. Er verweist darauf, dass neue Filme und Serien eine Flop-Quote von bis zu 90 Prozent erreichen könnten, während sich bei großen Sportereignissen die Zuschauerzahlen gut prognostizieren ließen. Diese Stabilität mache Sport besonders attraktiv für die Anbieter, erklärt er gegenüber der Welt.
Trotz des Einstiegs des Streaming-Anbieters Netflix in das Live-Sportgeschäft sind die Sportmanagement-Experten Carla Frei und Christian Lang der Ansicht, dass Netflix derzeit den Markt teste und mit ausgewählten Live-Sport-Formaten das Zuschauerinteresse prüfe. Dies äußerten sie gegenüber der Neuen Züricher Zeitung. Ihrer Einschätzung nach seien Sportübertragungen mit beträchtlichen Risiken verbunden, etwa durch unvorhersehbare Schwankungen bei den Zuschauerzahlen oder technische Probleme, wie sie sich auch bei der Übertragung des Paul-Tyson Boxkampfes zeigten. Daher würden Streamingdienste eine flexible Herangehensweise bevorzugen und ihre Ressourcen gezielt einsetzen. Frei betont, dass ein umfassender Einstieg in den Live-Sport die Flexibilität einschränken würde und momentan nicht zum Geschäftsmodell von Netflix passe.
Auch Marktbeobachter Yannick Manuel Ramcke erklärt gegenüber OMR, dass das Kerngeschäft von Netflix – ebenso wie das der Mitbewerber Amazon und Apple – im Gegensatz zu traditionellen Lizenznehmern nicht von Live-Sportinhalten abhängig sei. „Im Sportrechtemarkt wird es weiterhin ein Kommen und Gehen neuer Rechtekäufer geben. Eine vollständige Dominanz durch Big-Tech-Firmen sehe ich jedoch keineswegs“, betont er.
Es bleibt abzuwarten, inwiefern Netflix weitere Schritte auf seinem Weg hin zum Sport-Streaming-Anbieter unternimmt. Da Übertragungen wie die der NFL-Weihnachtsspiele von Erfolg gekrönt waren, kann man annehmen, dass das Experiment Sport-Streaming für Netflix geglückt ist. Weitere Sportübertragungen sind somit nicht auszuschließen. Gleichzeitig ist aber nicht davon auszugehen, dass Netflix nun seinen alleinigen Fokus auf den Sport legt, sondern vielmehr darauf abzielt, sich ein weiteres Standbein aufzubauen, um auch zukünftig konkurrenzfähig zu anderen Tech-Giganten wie beispielsweise Amazon zu bleiben.
Text, Titelbild: Lilly Wende