Organspende

Widerspruch statt Organmangel

von | 11. November 2022

Es fehlen Organe. Sind wir zu ängstlich oder zu faul zum Spenden? Die Widerspruchslösung könnte Leben retten.

Über 80 Prozent der Deutschen stehen einer Organspende positiv gegenüber. Dennoch standen Ende des letzten Jahres etwa dreimal so viele Patienten auf der Warteliste für ein Organ, wie im selben Jahr gespendet wurden. Trotz des großen Zuspruchs scheint es an der Bereitschaft zur Dokumentation einer Entscheidung zu fehlen. Kann die Widerspruchslösung mit aktivem „Nein“ eine effektive Lösung für das Problem sein?

Bedingungen und Ablauf einer Organspende

Bei einer Organspende werden einem Menschen ein oder mehrere Organe entnommen. Diese werden anschließend anderen bedürftigen Patienten transplantiert, um diesen das Leben zu retten. Gespendet werden können Niere, Leber, Herz, Lunge, Bauchspeicheldrüse und Dünndarm. Mit Abstand am häufigsten benötigt und transplantiert werden Nieren. In 64 Prozent der Fälle 2021 stammten die gespendeten Organe von Verstorbenen. Um zu einem postmortalen, also verstorbenen, Spender zu werden, müssen viele Bedingungen erfüllt werden.

Um ein Organ zu transplantieren, muss dieses in sehr gutem Zustand sein, das heißt gesund und gut durchblutet. Das ist allerdings nur dann der Fall, wenn der Verstorbene zwar hirntot ist, aber der Kreislauf noch künstlich aufrechterhalten wird. Dies ist nur auf einer Intensivstation möglich und trifft gerade mal auf ein bis zwei Prozent der im Krankenhaus verstorbenen Patienten zu.

Um mit Sicherheit festzustellen, ob der Verstorbene tatsächlich hirntot ist, also einen irreversiblen Hirnfunktionsausfall (IHA) erlitten hat, müssen mehrere Tests durchgeführt werden. Diese müssen – abgesehen von gewissen Ausnahmefällen (§ 5 Abs. 1 TPG) – nach den Richtlinien der Bundesärztekammer von zwei Ärzten unabhängig voneinander vorgenommen und dokumentiert werden. Bei den Tests werden Bewusstlosigkeit,  Atemstillstand sowie das Fehlen der Reflexe und Schmerzreaktionen überprüft.

Überprüfung der Hirnstamm-Areflexie

Eine Hirnstamm-Areflexie bedeutet, dass alle Reflexe, die den Hirnstamm betreffen, ausgefallen sind. Dazu gehören zum Beispiel der Lichtreflex und der Lidschlussreflex. Beim Lichtreflex verengt sich normalerweise die Iris, wenn viel Licht auf das Auge fällt. Beim Lidschlussreflex wird das Auge geschlossen, sobald die Augenhornhaut (die transparente Schicht vor Pupille und Iris) berührt wird. Im Falle eines irreversiblen Hirnfunktionsausfalls funktionieren diese Reflexe nicht mehr. Des Weiteren wird auch noch das Fehlen des Husten- und des Würgereizes überprüft. Auch Schmerzreaktionen werden von hirntoten Patienten nicht mehr gezeigt. Dies wird mit beidseitigen Stichen ins Nasenseptum untersucht. Zeigt der Patient keinerlei Reaktion, zum Beispiel durch ein Weiten der Pupillen oder einen Anstieg der Blutdruck- und Herzfrequenzwerte, handelt es sich dabei um einen weiteren Indikator für einen irreversiblen Hirnfunktionsausfall.

Können nicht alle dieser Symptome,  zum Beispiel aufgrund von Verletzungen, geprüft werden, muss durch zusätzliche Untersuchungen der Stillstand der Durchblutung des Gehirns nachgewiesen werden, um den irreversiblen Hirntod sicher zu diagnostizieren.

Zunächst muss dann geklärt werden, ob der Patient einer Organspende zugestimmt hat. Gibt es darüber keine Informationen, zum Beispiel auf einem Organspendeausweis oder in einer Patientenverfügung, werden die Angehörigen befragt, die dann im Sinne des Verstorbenen über eine Organspende entscheiden können.

Wird einer Spende der Organe zugestimmt, müssen diese vom Arzt noch auf den gesundheitlichen Zustand geprüft werden. Um das Risiko für die Empfänger so weit wie möglich zu minimieren, müssen die gespendeten Organe einwandfrei gesund sein.

Alle erfassten Daten, wie Zustand, Größe und Gewicht der Organe, werden über die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) an Eurotransplant vermittelt. Dort wird ermittelt, welcher Patient auf der Warteliste am besten zu dem gespendeten Organ passt, wobei Dringlichkeit und Erfolgsaussicht bei der Vergabe am meisten Ausschlag geben.

Schließlich kann das Organ entnommen, transportiert und beim Empfänger transplantiert werden.

Das Problem

Mit diesem Prozess konnten im Jahr 2021 mehr als 2900 Organe in Deutschland transplantiert und somit Leben gerettet werden. Das kann auf den ersten Blick recht viel wirken, allerdings ist die Zahl der Patienten auf der Warteliste in Deutschland etwa dreimal so hoch wie die Zahl der transplantierten Organe. Schaut man sich andere europäische Länder hinsichtlich der Spender pro Millionen Einwohner im Vergleich an, fällt auf, dass die Top zehn Länder mit Widerspruchslösung signifikant höhere Werte haben, als die Top zehn mit geltender Zustimmungslösung. Zu Letzterem zählt Deutschland, ebenso wie zu den Ländern mit den schlechtesten Zahlen in ganz Europa.

Die Widerspruchslösung

Bei der Widerspruchslösung wird man automatisch zum Organspender, wenn man vor seinem Tod einer Organentnahme nicht widersprochen hat. Je nach Land gibt es noch unterschiedliche zusätzliche Regeln. So können unter anderem in Schweden die Angehörigen einer Organentnahme widersprechen, auch wenn der Verstorbene dem zugestimmt hatte.

Anders ist es in Deutschland. Hierzulande gilt die Entscheidungslösung, welche eine Abwandlung der Zustimmungslösung ist. Bei dieser wird man nur dann zum Spender, wenn man dem zu Lebzeiten zugestimmt hat. In den meisten Ländern mit dieser Regelung können die Angehörigen eine Entscheidung im Sinne des Verstorbenen fällen, wenn von diesem keine vorliegt. Dabei handelt es sich dann um eine erweiterte Zustimmungslösung. Bei der Entscheidungslösung, die in Deutschland seit 2012 gilt, gibt es noch zusätzlich das Ziel, dass jeder zu einer Entscheidung ermutigt wird. Das soll zum Beispiel mit Infomaterialien erreicht werden, die die Krankenkassen regelmäßig an ihre Kunden schicken.

Im März dieses Jahres ist noch zusätzlich das „Gesetz zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft bei der Organspende“ in Kraft getreten. Laut Bundesgesundheitsministerium ist das Ziel, „die persönliche Entscheidung zu registrieren, verbindliche Information und bessere Aufklärung zu gewährleisten und die regelmäßige Auseinandersetzung mit der Thematik zu fördern.“ Dazu sollen verschiedene Maßnahmen eingeleitet werden, darunter das Einrichten eines Online-Registers, das Aushändigen von Informationsmaterialien an Ausweisstellen und die Vermittlung von Grundwissen zur Organspende bei Erste-Hilfe-Kursen.

Aber reicht das, um den Rückstand Deutschlands im Ländervergleich auszugleichen?

Spanien als Vorbild?

Spanien gilt immer als der absolute Vorreiter in Sachen Organspende. Und das nicht ohne Grund: immerhin gibt es in dem Land nicht nur im Europavergleich, sondern auch weltweit mit die meisten Spender pro Millionen Einwohner. Die dort geltende Widerspruchslösung ist sicherlich ein wichtiger, grundlegender Bestandteil für die hohe Spenderzahl. Doch es gibt noch andere Faktoren, die dazu beitragen.

So reicht in Spanien der Herztod aus, um Organe entnehmen zu können, das heißt der irreversible Hirnfunktionsausfall muss nicht nachgewiesen werden. Das führt zu deutlich mehr potenziellen Spendern: im Jahr 2021 stammten etwa ein Drittel der gespendeten Organe von Patienten mit Herztod. Gäbe es diese Regelung in Spanien also nicht, wäre die Zahl der Spender pro Millionen Einwohner 2021 wohl signifikant niedriger. Und trotzdem wäre das Land in diesem Szenario zahlenmäßig noch immer einer der Spitzenreiter.

Laut Beatriz Domínguez-Gil, Chefin der spanischen nationalen Organisation für Organtransplantation (ONT), liegt das an den Koordinationsteams, die jedes größere Krankenhaus in Spanien hat, wie sie Deutschlandfunk mitteilte. Die Ärzte dieser Teams kennen die Patienten und ihren gesundheitlichen Zustand sehr gut und gingen auch auf die Sterbenden und die Angehörigen ein, um sie zu der Möglichkeit einer Organspende zu beraten. Nach Domínguez-Gil sei es ein Schlüssel zum Erfolg, das Personal zu schulen, mit der Kompetenz bei Organspenden selbstbewusst zu werben.

Gesetzesänderungen, die Menschenleben retten

Deutschland hat mehrere Möglichkeiten, der geringen Zahl an Organspendern entgegenzuwirken.

An die spanischen Zahlen wird Deutschland wohl nicht herankommen, da dafür der Nachweis des Hirntodes nicht mehr verpflichtend für eine Organentnahme sein dürfte.

Die wahrscheinlich einfachste Möglichkeit ist die Fertigstellung und Veröffentlichung des geplanten Online-Registers, bei dem man seine Entscheidung freiwillig eintragen und jederzeit ändern können soll. Eine digitale Möglichkeit der Einwilligung oder Ablehnung fällt einigen vielleicht leichter, als sich erst einen Organspendeausweis zu besorgen und auszufüllen und wäre außerdem gemäß der Zeit der Digitalisierung. Laut Bundesgesundheitsministerium habe die Corona-Pandemie Auswirkungen auf den Start des Registers gehabt, welches ursprünglich am 1. März 2022 seinen Starttermin haben sollte.

Mit einigem Aufwand verbunden, wäre eine gesetzliche Änderung von der Entscheidungslösung zur Widerspruchslösung. Aber sie wäre möglich, wie aktuelle Geschehnisse in der Schweiz zeigen. Bei einem Volksentscheid wurde am 15. Mai 2022 entschieden, dass in den nächsten Jahren die Widerspruchslösung eingeführt wird. So könnten wir in Zukunft an diesem Beispiel sehen, welche Auswirkungen ein Umstieg von der Zustimmungs- zur Widerspruchsregelung tatsächlich haben kann. Bis es so weit ist, dauert es aber noch einige Jahre, denn die Regelung wird frühestens 2025 in Kraft treten.

Die Widerspruchslösung zwingt nicht zur Spende, sondern stellt vielmehr eine direkte Aufforderung dar, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und eine Entscheidung zu treffen. Denn auch bei geltender Zustimmungslösung wird ein verstorbener, potenzieller Organspender so lange künstlich am Leben gehalten, bis das Fehlen oder Vorhandensein einer Einwilligung bekannt ist. Bei denjenigen, die also zu Lebzeiten keine Entscheidung festgehalten haben, wird trotzdem vorerst in den Sterbeprozess eingegriffen, auch wenn sie es vielleicht nicht wollten.

Die Zustimmungslösung nimmt die Entscheidung also nicht wirklich ab. Sie könnte gar dazu führen, dass dem eigenen Willen eben nicht nachgekommen werden kann, solange man keine Entscheidung getroffen hat.

Text und Bild: Ronja Tretner

<h3>Ronja Tretner</h3>

Ronja Tretner

ist 20 Jahre alt und studiert derzeit im dritten Semester Medienmanagement an der Hochschule Mittweida. Bei medienMITTWEIDA engagiert sie sich als Lektorin seit dem Wintersemester 2022.