„Meine Mutter deutete auf den Platz vor ihr, ich sollte dort Platz nehmen und dann hörte ich noch: ‚Sei ein artiges Kind, mach‘ mir keine Schande und schrei nicht'“, schreibt Fadumo Korn auf ihrer Website. „Nach dem ersten Schnitt war ich nicht mehr ansprechbar, hab nicht mehr gefühlt, was noch getan, geschnitten und zusammengenäht wurde.“
Fadumo Korn, 55 Jahre alt, ist eine der weltweit 200 Millionen Frauen und Mädchen, die beschnitten wurden. Heute kämpft sie für die Zukunft dieser Frauen, denn aktuell leben laut einer Studie von TERRE DE FEMMES rund 50.000 Frauen in Deutschland, die eine Beschneidung der weiblichen Genitalien erleben mussten. Demnach stieg die Zahl der Betroffenen von Ende 2014 bis Mitte 2016 um knapp 30 Prozent. Durch die wachsende Migration wird also auch Deutschland verstärkt mit dem Thema der weiblichen Beschneidung konfrontiert.
Doch der Begriff Beschneidung ist umstritten. Er wird von Experten häufig als Untertreibung angesehen, da er mit der männlichen Beschneidung assoziiert wird. Im internationalen Raum hat sich deshalb die Bezeichnung „Female Genital Mutilation“ (FGM, übersetzt: weibliche Genitalverstümmelung) durchgesetzt. Allerdings bevorzugen einige Organisationen den Begriff der weiblichen Genitalbeschneidung (Female Genital Cutting, FGC), da die Betroffenen hier nicht ausschließlich als Opfer beschrieben werden. Die Begriffe umfassen laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) „alle Praktiken, bei denen das äußere weibliche Genital teilweise oder vollständig entfernt wird. Sowie andere medizinisch nicht begründete Verletzungen am weiblichen Genital.“ Das Ritual wird laut TERRE DES FEMMES in 29 Ländern Afrikas, auf der Arabischen Halbinsel und in einigen Teilen Asiens durchgeführt.
„Genitalverstümmelung haben die Europäer nicht mitgekriegt“
Doch der genaue Ursprung des Rituals ist nicht bekannt. Allerdings wurden Aufzeichnungen gefunden, die darauf hinweisen, dass bereits zur Zeit der Pharaonen im alten Ägypten Frauen beschnitten wurden. Laut einer Veröffentlichung des Bundestages ist das erste schriftliche Zeugnis eine Anklageschrift auf Papyrus. Sie stammt aus Ägypten aus dem Jahr 163 vor Christus. Die Beschneidung der weiblichen Genitalien sei jedoch insbesondere im 19. Jahrhundert auch in Europa und den USA praktiziert worden. Doch FGM ist auch noch heute ein Teil vieler Kulturen. In Fadumo Korns Heimat Somalia sind rund 98% der Mädchen und Frauen zwischen 15 und 49 Jahren genitalbeschnitten. Laut TERRE DES FEMMES ist das eine der höchsten Anteile weltweit.
Fadumo ist als Nomadin aufgewachsen und wurde mit acht Jahren beschnitten. Die „fanatecas“ (Beschneiderin) hat bei ihrer Beschneidung nur ein kleines Loch offengelassen, sodass Urin und Menstruationsblut ablaufen kann, aber keine Penetration möglich ist. Obwohl die Genitalverstümmelung zum Beispiel in Puntland, im Nordosten Somalias, seit 2011 strafbar ist, ist diese Art der Beschneidung in Somalia weit verbreitet. Laut TERRE DES FEMMES gibt es vier verschiedene Typen in die Beschneidung kategorisiert werden kann:
Die vier Formen der Female Genital Mutilation
Typ I – Entfernung oder Beschädigung der Klitoris und/oder Klitorisvorhaut
Typ II – zusätzlich zu Typ I werden die inneren Schamlippen gekürzt oder komplett entfernt
Typ III – komplettes äußeres Genital wird entfernt und bis auf eine winzige Öffnung zugenäht
Typ IV – jegliche andere Praktiken die teilweise physische und/oder psychische Schäden hinterlassen
Quelle: TERRE DES FEMMES
Beschneidung im Urlaub
In Deutschland ist FGM seit 2013 als eigene Straftat im Gesetz definiert und wird, laut §226a Strafgesetzbuch, mit einer Freiheitsstrafe von bis zu 15 Jahren bestraft. Und obwohl weibliche Genitalverstümmelung nach deutschem Recht auch im Ausland strafbar ist, gibt es nach wie vor sogenannte „Ferienbeschneidungen“. Der Begriff beschreibt folgendes Prinzip: In Deutschland lebende Familien reisen in den Ferien in ihre Herkunftsländer, um dort eine Beschneidung durchführen zu lassen. Um diese Verstöße im Ausland zu verhindern, wurde 2016 eine Änderung des Passgesetzes beschlossen. Familien, die ihre Töchter im Ausland beschneiden lassen wollen, kann der Pass entzogen werden. Doch trotz der Maßnahmen sind auch in Deutschland laut einer Studie des Bundesamts für Frauen zwischen 1500 und 7500 Mädchen von einer Genitalbeschneidung bedroht. Doch bei den rund 50.000 in Deutschland lebenden Frauen kommt jede präventive Maßnahme zu spät. Sie konnten einer Genitalverstümmelung nicht entgehen und kämpfen jetzt mit deren sichtbaren und unsichtbaren Folgen.
Der Griff zur Rasierklinge
Die Genitalverstümmelung ist eng mit der Kultur verknüpft. Doch die Beweggründe für eine Beschneidung sind vielfältig. Ein Grund für die Beschneidung der Frau ist laut TERRE DES FEMMES, der Tradition zu folgen. Es sei ein „Ausdruck des Respekts gegenüber älteren Generationen und ein Zeichen der Dankbarkeit für die eigene Herkunft“, heißt es auf der Website der Nichtregierungsorganisation. Obwohl keine religiöse Schrift zur weiblichen Beschneidung aufruft, ist die Verknüpfung von Hygiene und spiritueller Reinheit für viele ein Faktor. Auch ökonomisch spricht in vielen Kulturen einiges für eine Beschneidung der Frauen, da ein höheres Brautgeld und bessere Heiratschancen erzielt werden können. In Ländern, in denen FGM praktiziert wird, ist die Frau dem Mann in der Regel untergeordnet. Die Beschneidung dient deshalb auch der Kontrolle der weiblichen Sexualität. Ohne beschnitten zu sein, läuft sie Gefahr, geächtet oder verstoßen zu werden. Doch die Risiken und Folgen sind groß, denn rund 25 Prozent der betroffenen Mädchen und Frauen sterben entweder während der Genitalverstümmelung oder an den Folgen. Die Beschneidung hat meist auch symbolischen Charakter: Sie gilt als Initiationsritus und markiert den Übergang vom Mädchen zur Frau.
Vom Mädchen zur Frau – ohne Schmerzen
Doch es gibt auch Alternativen in Form von Initiationsriten, die ohne Beschneidung durchgeführt werden. Das geht aus dem Training Kit zur Vorbeugung und Beseitigung der weiblichen Genitalverstümmelung bei Migranten in Europa hervor. Die Nichtregierungsorganisation „Sinim Mira Nassigue“ bietet demnach alternative Rituale an. Die Gründerin Maria Augusta Baldé hat in einem Interview mit der Berliner Zeitung gesagt, dass alles abliefe wie in alten Initiationsriten, aber Messer und Klingen seien verboten. Durch die Einbindung der „fanatecas“ (Beschneiderinnen) in den Prozess, könne deren Einkommen und sozialer Status trotzdem gesichert werden. Diese Alternativen sind zu spät für die Mädchen und jungen Frauen, die bei Fadumo Korn und NALA. e.V . Schutz suchen. Doch sie haben die Chance auf Bildung und ein befreites Leben in Deutschland. Fadumo Korn sieht die Zukunft der Mädchen positiv: „In Deutschland hat man den Luxus der plastischen Chirurgie. Und die Mädchen, die das gemacht haben, sind so glücklich. Aber am Anfang müssen sie auch lernen, dass die eigene Scheide ein Eigenleben führt. Eines meiner Mädchen hat mich zur Begrüßung bei einem unserer Treffen in die Küche gezerrt. Sie hat mir dann ganz aufgeregt erzählt, dass sie in der Schule saß und ihre Schamlippen hätten sich mit ihrer Unterhose unterhalten. Sie hat eine Erregung bekommen und musste erst lernen damit umzugehen. Denn seit sie drei Jahre alt war, war die Klitoris zugedeckt.“
Text: Julia Scholl, Illustration: Julia Scholl