Ein Video wird in deinen Feed gespült. Freundlich schaut ein Mädchen in die Kamera. Über ihr leuchten große weiße Buchstaben: „Woran hast du eigentlich gemerkt, dass du ADHS hast?” Das Mädchen beginnt zu dem Song „Flowers” von Miley Cyrus zu tanzen, während im Takt vermeintliche Symptome von ADHS auf dem Bildschirm erscheinen. Kein Zeitgefühl, in Gesprächen nicht richtig zuhören, neue Hobbys anfangen und kurz darauf das Interesse daran verlieren, ständig Sachen verlegen. Auf TikTok hat das Video über 80.000 Likes. Die Kommentare darunter ähneln sich: „Ja wow, jetzt weiß ich, was ich hab.” „Einfach ich aber ohne Diagnose.” „Hab immer gedacht, das wäre einfach ich. TikTok hat mir gezeigt, dass es ADHS ist.”
In den sozialen Netzwerken gewinnen Videos, die zu Selbstdiagnosen anregen, immer mehr an Reichweite. Auf TikTok beispielsweise zählt der Hashtag #selfdiagnosed mehr als 65 Millionen Aufrufe. Besonders häufig geht es bei derartigem Content um Neurodivergenzen, wie ADHS oder Autismus. Durch die Eigenschaft der Plattformen, jedem das Veröffentlichen von Informationen zu ermöglichen, mischen sich schnell falsche Aussagen mit hilfreicher Aufklärungsarbeit. Eine Studie des Canadian Journal of Psychiatry untersuchte die 100 reichweitenstärksten TikTok-Videos zum Thema ADHS. 52 Prozent wurden dabei als irreführend eingestuft. Nicht zuletzt deshalb wird das Thema „Selbstdiagnosen” oft kontrovers diskutiert.
Neurodivergenz
Eine Neurodivergenz liegt vor, wenn einige Funktionen des Gehirns einer Person anders arbeiten als bei neurotypischen Menschen, bei welchen keine neurologischen Auffälligkeiten festzustellen sind. Der Begriff soll wertungsfrei sein, auf natürliche Vielfalt hinweisen und wird deshalb anstelle von „Krankheit” verwendet.
„Ich dachte schon, ich bin verrückt in der Birne und bilde mir alles ein.”
Eine, die Selbstdiagnosen in solchen Diskussionen verteidigt, ist Jasmin. Sie ist überzeugt, dass sie ohne TikTok niemals zu ihrer Diagnose gekommen wäre. Die 29-jährige hat ADHS und Autismus und erzählt im Gespräch mit medienMITTWEIDA von einem langen Leidensweg.
Seit ihrer frühesten Kindheit lebt Jasmin sich gerne kreativ aus, malt und zeichnet. Mittlerweile studiert sie schon seit einigen Jahren Kunst, glaubt aber, dabei nicht wirklich voranzukommen. Starke Aufmerksamkeitsprobleme und das Gefühl, nirgendwo richtig reinzupassen, machen ihr zu schaffen. Teilweise muss sie sogar wegen Gefühlsstörungen in den Händen und Beinen ins Krankenhaus. Was sich später als Reizüberflutung herausstellt, erklären ihr etliche Ärzte mit Hypochondrie, Depression und Panikattacken. Manchmal wird sie auch gefragt, ob sie gerade ihre Tage habe. „Gerade Frauen sind davon betroffen, dass sie nicht ernst genommen werden. Ich hab einfach selber gedacht, dass ich übertreibe”, erinnert sich die 29-jährige. Aus Langeweile lädt Jasmin sich während der Pandemie TikTok runter. Dort stößt sie auf Videos von Katharina Schön, die auf der Plattform über ADHS und Autismus spricht. In den genannten Symptomen findet Jasmin sich wieder. Endlich glaubt sie zu wissen, was mit ihr los ist. „Ich war mir hundertprozentig sicher.”
ADHS und Autismus
Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eine angeborene Neurodivergenz. Die Symptome Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität treten dabei am häufigsten auf.
Autismus ist eine angeborene Neurodivergenz, bei der Betroffene Schwierigkeiten im sozialen Miteinander und mit der Kommunikation haben.
Katharina Schön ist selbst von ADHS und Autismus betroffen und arbeitet als psychologische Trainerin. Auf Anfrage von medienMITTWEIDA erklärt sie schriftlich, warum sie auf Social Media über Neurodivergenzen aufklärt: „Als ich begriffen habe, dass womöglich tausende Menschen in Deutschland unerkannt neurodivergent sind und von psychiatrischem Fachpersonal nicht richtig untersucht, geschweige denn aufgeklärt werden, habe ich den Mut gefasst damit zu beginnen.” Sie kritisiert, dass die Gesellschaft bei dem Wort „Selbstdiagnose” sofort das Bild einer Person vor Augen habe, die fünf Minuten auf Google recherchiert und dann mit Selbstbewusstsein sagt: „Ja, das hab ich.” Bei Neurodivergenzen sei das anders. Laut Katharina Schön finde hierbei ein monate- bis jahrelanger Analyseprozess statt, weshalb sie glaubt, dass der Begriff „Selbstevaluierung” besser passt.
Auch Jasmin beschäftigt sich Tag und Nacht mit Fachliteratur und Diagnose-Manuals bis sie ihren Termin beim Therapeuten hat. Mit ihren Fingern zeigt sie, wie dick der Stapel an Unterlagen war, den sie zu dem Gespräch mitbrachte – ungefähr drei Zentimeter. Ihr Therapeut, selbst Besitzer eines neurodivergenten Gehirns, vermutet schon nach wenigen Minuten, dass Jasmin richtig liegt, sodass die Diagnosebögen nur noch pro forma ausgefüllt werden müssen. Für die 29-jährige war es wichtig, die Diagnose von einem Experten bestätigt zu bekommen. Viele Medikamente könne man sich sonst auch gar nicht verschreiben lassen. Seitdem sie ihre Symptome behandeln kann, „funktioniert das Leben einfach wieder.” Für sie war die Selbstdiagnose eine Verdachtsdiagnose. „Das macht man ja auch so, wenn man sagt, ich hab ‘ne Grippe. Beim Arzt lässt man dann abchecken, ob es wirklich so ist.”
Warum sollte das problematisch sein?
Anders als bei einer Grippe ist die Diagnose von ADHS sehr komplex. In der Symptomatik kann es zu Überschneidungen, beispielsweise mit Borderline oder Depressionen kommen, wodurch das Risiko einer Fehldiagnose steigt.
Außerdem wird berichtet, dass ADHS bereits überdiagnostiziert ist. Bei einer Überdiagnose wirkt sich der Befund nachteilig auf den Patienten aus und die Störung hätte sich ohne eine Untersuchung nie bemerkbar gemacht. Sie ist also klar von einer Fehldiagnose zu unterscheiden und kann durch überflüssige Behandlungen für die Patienten sehr belastend sein. In Australien fand eine Arbeitsgruppe in einer Untersuchung Anhaltspunkte für die Überdiagnose und Überbehandlung von ADHS. Bei der Analyse von insgesamt 334 Studien wurden zudem in Fällen mit milden Symptomen Forschungslücken bezüglich der Langzeitfolgen einer Diagnose festgestellt. Eine demnach nicht notwendige Behandlung der Patienten mit beispielsweise Ritalin wirkt in Anbetracht der Nebenwirkungen schlicht unverantwortlich. Das Medikament kann unter anderem Gewichtsverlust, Leberschäden und Suizidgedanken verursachen.
Trotzdem sehen viele Experten auch positive Aspekte in der Thematisierung von Neurodivergenzen auf Social Media. So kann derartiger Content zur Entstigmatisierung beitragen. Wenn offen über psychische Probleme gesprochen wird, geht die Scham der Betroffenen zurück.
„Ich hab mich total schuldig gefühlt”
Diese Scham, über ihr ADHS zu sprechen, kennt auch Emma*. Sie diagnostizierte sich ebenfalls selbst und hatte deshalb lange Zeit mit Schuldgefühlen zu kämpfen. „Ich dachte, wenn ich mich jetzt selbst diagnostiziere, nehme ich Leuten, die das wirklich haben, irgendwie die Ressourcen weg, die sie eigentlich bräuchten”, erzählt sie im Interview mit medienMITTWEIDA. Um ihre Schuldgefühle zu besänftigen, möchte Emma sich ihren Verdacht auch von medizinischer Seite bestätigen lassen. Sie ruft in einer Klinik an und fragt nach einem Diagnostiktermin. Daraufhin wird ihr ein Psychiater vermittelt, der ihr eine Überweisung für die Diagnose schreiben muss. Emma macht sich auf den Weg und sitzt plötzlich vor „so einem alten weißen Mann”, dem sie von ihren Problemen erzählen soll. Er sagt, sie sei neurotisch, viel zu perfektionistisch und hätte einfach zu hohe Ansprüche an sich selbst. ADHS sei das nicht. Da glaubt er sowieso nicht dran. Schon gar nicht bei Frauen oder im Erwachsenenalter. Unter Tränen verlässt sie das Gebäude.
Emma gibt noch nicht auf und nimmt an einer Studie des Uniklinikums Leipzig teil. Die Ergebnisse sprechen für ADHS, sind allerdings nicht ganz eindeutig. Mit den Befunden geht sie kurze Zeit später zu einem anderen Psychiater. Dort muss sie verschiedene Tests und Übungen machen, bei denen andere neurologische Störungen ausgeschlossen werden. Schnell stellt er daraufhin die ADHS-Diagnose und fragt schließlich, welche Medikamente sie denn haben wolle. Emma erzählt, dass sie den Eindruck hatte, er wisse gar nicht, was er hier eigentlich verschreibt. „Ich habe mich ziemlich alleingelassen gefühlt. Das ist ja eigentlich sein Job. Das war für mich aber trotzdem besser als diese ganze negative Energie, die mir vorher entgegengebracht wurde.“
Was tun, wenn dein Arzt dir nicht glaubt?
So wie Emma, erzählen viele Betroffene von schlechten Erfahrungen mit medizinischem Fachpersonal. Besonders häufig fällt dabei der Begriff „Medical Gaslighting“. Dieser Ausdruck bezieht sich auf Situationen, in denen sich Patienten von medizinischem Fachpersonal nicht ernst genommen oder abgewiesen fühlen. Zum Beispiel, wenn Symptome heruntergespielt werden oder man selbst die Schuld dafür zugewiesen bekommt. Besonders Menschen aus anderen Kulturen, Frauen und übergewichtige Personen haben mit diesem Phänomen zu kämpfen. Laut Katharina Schön könne „Medical Gaslighting” dazu führen, dass Patienten „ihre eigenen Erfahrungen anzweifeln, sich schuldig oder verlegen fühlen und letztendlich ihre Suche nach angemessener medizinischer Versorgung aufgeben.”
Eine Ursache des „Medical Gaslighting” ist der Gender Health Gap. Bei Frauen bleibt beispielsweise ADHS oftmals bis ins Erwachsenenalter unerkannt, da die Symptome meist weniger offensichtlich sind oder Strategien, wie das „Masking” angewendet werden, um sie zu „verstecken.” Während männliche Personen mit der Diagnose eher zu Hyperaktivität neigen, überwiegen beim weiblichen Geschlecht Unaufmerksamkeit, Tagträumereien oder Stimmungsschwankungen. Diese Symptome werden dann häufig als Persönlichkeitsmerkmale abgestempelt und nicht mit ADHS in Verbindung gebracht. Im Gegensatz zur Arztpraxis sind die sozialen Netzwerke für viele Betroffene eine Art Safe Space. Hier herrschen Verständnis und Akzeptanz, die Angebote sind niederschwellig erreichbar und Erfahrungen können anonym ausgetauscht werden.
Mehr zum Thema Gender Health Gap lest ihr hier.
Masking
Unter dem Begriff „Masking” versteht man das Verstecken von Symptomen, indem neurotypische Verhaltensweisen imitiert werden. Die Person tritt also so auf, als würde sie nicht mit einer Neurodivergenz leben, um sich gesellschaftlich akzeptiert zu fühlen und Stigmatisierung zu vermeiden.
„Es ist nicht nur die Eigenanamnese. Es sind viele Faktoren, die zur Diagnose führen.”
Mit Verständnis versucht auch Dr. med. Janina Gburek-Augustat ihren Patient*innen gegenüberzutreten. Sie ist Oberärztin der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin Leipzig und stutzt, als im Gespräch das erste Mal das Wort „Neurodivergenz” fällt. „Das setzen wir jetzt in der Regel nicht so ein. Aber interessant zu wissen.” Die blonde Frau mit den freundlichen Augen nickt einfühlsam, als sie von den schlechten Erfahrungen, die Betroffene wie Emma machen mussten, erfährt. Sie glaubt, dass das Problem zum Teil auch in der Versorgungsstruktur liege. „Es gibt einen Mangel an Psychotherapeuten und lange Wartezeiten in verschiedenen Sprechstunden. Wenn sich dann jemand da hinsetzt und sagt, ich hab mir jetzt die TikTok-Videos angeguckt und das passt alles, dann kann ich mir schon vorstellen, dass das vielleicht nicht immer so ernst genommen wird.”
Gburek-Augustat finde es gut, dass durch die Thematisierung von ADHS auf Social Media eine gewisse Sensibilität in der Bevölkerung geschaffen werde. Bei Videos, die zu Selbstdiagnosen anregen, wäre sie allerdings vorsichtig. „Wenn banale Symptome, die eigentlich jeder an sich beobachten kann, so hochgepusht werden, dann wird das tatsächlich zum gesellschaftlichen Problem.” Die Diagnose beschreibt sie als eine Art Puzzle, das zusammengesetzt werden muss. Wichtig sei dabei besonders der richtige Ansprechpartner. Also in der Regel ein Neurologe oder ein Psychiater.
Dr. med. Janina Gburek-Augustat, Bild: Jessy Schrödter
Keine andere Option
Aber was passiert, wenn kein Neurologe oder Psychiater einen Termin frei hat? Genau hier liegt das Problem. Nur wenige Fachärzte beschäftigen sich mit ADHS im Erwachsenenalter. Das bedeutet für die Betroffenen lange Anfahrtswege und noch längere Wartezeiten. Katharina Schön erklärt: „Sehr viele würden sich gern professionell diagnostizieren und dann natürlich auch behandeln lassen. Aber in Bezug auf ADHS oder Autismus im Erwachsenenalter gibt es Wartezeiten von bis zu 40 Monaten oder die Wartelisten sind geschlossen, sodass man nicht einmal eine Möglichkeit hat, den ersten Schritt zu tun.”
Deshalb wünschen sich Jasmin und Emma für die Zukunft mehr Akzeptanz für Selbstdiagnosen. Man solle die Leute ernster nehmen und größeres Vertrauen in die Betroffenen haben. Emma sagt dazu: „Ich denke, es ist ein ableistischer Gedanke, zu glauben, dass du deinen eigenen Körper nicht so gut kennst wie eine fremde Person, die dich fünf Minuten pro Woche sieht.”
*Name geändert