Draußen erblüht alles, Vögel zwitschern, die Sonne scheint. Doch das ist egal. Viel wichtiger ist, was auf dem Bildschirm läuft. „Riverdale“, „Haus des Geldes“ oder „Stranger Things“, eine Serie, die von dunklen Gestalten und verängstigten Kindern garniert mit einer gruseligen Atmosphäre handelt. Diese Prozedur zieht sich den ganzen Tag, bis die Staffel vorbei ist und man sich eine Neue sucht. Der Countdown läuft, man hat genau 15 Sekunden um sich für die wirkliche Welt zu entscheiden oder doch lieber nochmal in der Serienwelt zu versinken.
Solche Entscheidungen kennen viele Menschen, die Netflix oder Amazon Prime nutzen. Serien haben über die vergangenen Jahre eine immer bedeutendere Rolle in unserem Alltag eingenommen. Laut einer Onlinebefragung der Forschungs- und Beratungsgruppe „Goldmedia“ schauen 75 Prozent der Deutschen mindestens eine Serie regelmäßig. 38 Prozent gucken zwei bis drei Serien und 23 Prozent sogar vier und mehr. Dabei sind vor allem junge Menschen im Alter von 18 bis 29 Jahren mit 88 Prozent die häufigsten Nutzer von Serienangeboten. Für diese Altersgruppe ist Video on Demand auch attraktiver als für 40-Jährige und ältere Menschen.
Video-on-Demand (VoD) bedeutet übersetzt „Video auf Abruf“ und ermöglicht dem Nutzer unabhängig von Zeit und Ort seine Lieblingsserie zu schauen oder runterzuladen. Dabei sind Netflix, Amazon Prime und Maxdome wohl die bekanntesten Anbieter von Streamingdiensten im Internet. Das Internetportal Netflix scheint dabei besonders für das sogenannte „Binge-Watching“ entwickelt worden zu sein. Der Begriff heißt so viel wie „Komaglotzen“ oder Serienmarathon und ist ein zunehmendes Phänomen bei jungen Menschen. Serienliebhaber wird es bei Netflix enorm einfach gemacht, Serien zu finden, zu schauen und nie mehr damit aufzuhören. Der therapeutische Leiter von der Suchtfachklinik „Magdalenenstift“ Stefan Melzer erklärt: „Aber natürlich unterstützen Netflix und Amazon Prime durch gewisse Funktionen eine gewisse Abhängigkeit. Also das was wir aktuell medial haben, diese ständige Verfügbarkeit, die macht das Ganze noch schlimmer. Man kann zu jeder Zeit so viele Serien konsumieren, wie man möchte.“ Laut Melzer, war es früher schwieriger, da die Abendserien immer zur gleichen Zeit liefen. Der Zuschauer musste genau zu dieser Zeit vor dem Fernseher sitzen, um nicht ihre Lieblingssendung zu verpassen. Gleichzeitig wurde dadurch aber auch der Serienkonsum begrenzt. Jetzt ist das anders. Man kann sich vier bis fünf Folgen hintereinander anschauen. Es gibt keine Begrenzung mehr. Wie der therapeutische Klinikleiter meint, kann man sich dadurch besser in den Serien verlieren. Diese ständige Verfügbarkeit verstärkt das Risiko, dass es ein Thema ist, was es früher weniger gewesen wäre.
Netflix als gefährliches Beispiel
Netflix hat aktuell laut der Frankfurter Allgemeine (Stand März 2018) etwa 125 Millionen Nutzer weltweit. Angefangen hatte das Unternehmen mit 22,93 Millionen Nutzern im Jahr 2011. Laut einer Prognose von Netflix soll die Anzahl der Abonnenten weiter stark ansteigen. Der Grund dafür könnten die relativ geringen Kosten von 7,99 Euro im Monat, das mehrfache Nutzen der Konten, die beliebten Eigenproduktionen und der Algorithmus der Seite sein. Durch kollaboratives und inhaltsbasierten Filtern wertet die Seite die Serien- und Filmnutzung aus und bietet neue Vorschläge und ähnliche Themen an. Dem Nutzer wird quasi zu jeder Zeit eine Riesenvideothek zur Verfügung gestellt, ohne Begrenzung wie viel geschaut werden kann, meist mit vollständigen Staffeln und dem persönlichen Interesse einwandfrei angepasst. Die Zuschauer nutzen diese Möglichkeit so oft wie es geht aus, schauen mehrere Serien parallel und sind permanent auf der Suche nach einer Neuen. Kann man in diesem Fall von einer Sucht sprechen und könnten die oben genannten Fakten Gründe für eine Seriensucht sein?
Laut Olaf Rilke, Leiter der Sächsischen Landesstelle gegen die Suchtgefahren, wird der Suchtbegriff zur Zeit sehr inflationär verwendet, aber nicht jede schlechte Gewohnheit ist eine Sucht. „Nach der Definition ist Sucht (mit Krankheitswert) ein unbezwingbares Verlangen mit Kontrollverlust, so dass die Sucht zum bestimmenden Lebensinhalt wird. Dafür werden körperliche, soziale und psychische Beeinträchtigungen in Kauf genommen. Das heißt Suchterkrankungen gehen immer mit gesundheitlichen und sozialen Auswirkungen (Beruf, Familie) einher“, erklärt der Leiter der SLS. Als medizinische Diagnose ist bisher im Bereich der Verhaltenssüchte nur das pathologische Glücksspielen anerkannt. Aktuell wird jedoch die Anerkennung einer sogenannten „Medienabhängigkeit“ diskutiert. Olaf Rilke sind bisher keine Fälle einer reinen „Seriensucht“ bekannt.
Schlafstörungen bei Serienjunkies
Gesundheitliche Auswirkungen kann das Dauerschauen der Serien auf jeden Fall haben, beispielsweise kann es zu Schlafstörungen führen. Jens, der seinen ganzen Namen nicht nennen will, studiert an der TU Chemnitz und nutzt täglich mehrere Streamingdienste im Internet. „Ich schaue Serien aus Zeitvertreib, zur Unterhaltung und manchmal auch zum Einschlafen. Ich habe Probleme mit meinem Schlafrhythmus. Streamen hilft mir eher dabei, überhaupt einschlafen zu können.“
Eine Studie, die im „Journal of Clinical Sleep Medicine“ veröffentlicht wurde, untersucht das Schlafverhalten von unterschiedlichen Personengruppen. Das Fazit der Studie war, dass Menschen die mehrere Serienfolgen am Stück schauen, schlechter schlafen, als jene die keine Serien konsumieren. Laut Forscher liegt das zum einen an dem Stress, den die Handlungsabläufe einer Serie hervorrufen, da sich die Zuschauer über die Handlung, die Figuren und dem aktuellen Problem in der Serie Gedanken machen. Dadurch wird die Einschlafphase verlängert und unnötig hinausgeschoben. Zum anderen liegt es auch an dem Licht, welches vom Laptop oder Smartphone dem Nutzer entgegen strahlt. Dieses nimmt Einfluss auf das Hormon Melatonin, welches den Tag-Nacht-Rhythmus steuert. Das Licht hemmt die Produktion des Hormons und der Zuschauer kann nur erschwert oder überhaupt nicht einschlafen.
Erschreckend ist zum Beispiel bei Jens, dass er einfach Alltagshandlungen nicht mehr ohne Serien vornehmen kann. Das Gehirn wird auch in der „Entspannungsphase“ im Bett weiter mit Informationen überschüttet. Es existiert kein bewusstes Genießen und Konsumieren mehr. Für viele sind Serien eine unterhaltsame Nebenbeschäftigung. Besonders gefährlich ist die Kombination aus fesselnden Serien und einer geringen Selbstkontrolle. Das fand die Kommunikationswissenschaftlerin Wei-Na Lee von der University of Texas in Austin heraus. Die Geschichten der Serien und die Protagonisten verpassen dem eigenen Leben Glamour, Glanz und etwas Drama, welches manche Menschen in ihrem Alltag missen. Unangenehme Aufgaben werden mit einer Folge ihrer Lieblingsserie gleich viel interessanter.
Lisa, die ebenfalls anonym bleiben will, gehört auch zu diesen Menschen. Sie arbeitet in Leipzig bei einer Fernsehfirma und nutzt täglich Streaminganbieter für mindestens 90 Minuten. „Ich nutze Serien auch, um meinem Alltag zu „verschönern“. Ich stehe früh auf und nehme mein Tablet mit ins Bad und lasse nebenbei die Folgen laufen, während ich mich für die Arbeit fertigmache. So hole ich die Folgen nach, die ich am Tag davor verpasst habe, verschönere gleichzeitig unangenehme Aufgaben und habe dabei auch keine Langeweile.“
Der Tag beginnt für Lisa S., wie er für Jens B. geendet hat – mit Serien.
Warum sprechen uns Serien so an?
Wie der Medienwissenschaftler Dr. Daniel Stein in einem Interview mit dem Deutschlandfunk erklärt, funktionieren Serien dadurch, dass sie den Wunsch nach mehr, den Wunsch nach der Fortsetzung in sich selbst schon eingebaut haben, dass man wissen will, wie die Geschichte weitergeht und was der Hauptfigur in der nächsten Folge widerfährt. „Es gibt schon seit über hundert Jahren die Konvention des Cliffhangers, dass genau dann, wenn es besonders spannend wird, die Folge zu Ende ist. Und dann muss ich eben wieder einschalten, bzw. muss ich mir die nächste Episode kaufen, wenn es sich um Hefte oder Romane handelt, um zu wissen, wie es weitergeht.“
Nur besteht bei Netflix und Co. kaum noch Kontrolle mehr darüber, ob man eine Folge weiterschaut oder nicht. Clevere Streaminganbieter haben Funktionen eingerichtet, die uns die Entscheidung abnehmen. Der Student Samuel, dessen voller Name nicht genannt werden soll, schildert sein Problem mit Streaminganbietern, wie Netflix oder Amazon Prime. „Die Abhängigkeit von Serien wird schon durch gewisse Funktionen gefördert. Manchmal bin ich einfach zu faul, um auf Stopp zu drücken oder es ist so spannend, dass man es durchlaufen lässt. Die automatische Wiedergabe nimmt einem die Entscheidung in gewisser Weise ab.“
Normalerweise muss man aktiv werden, um noch eine Folge zu schauen. Bei Netflix oder Amazon Prime muss man aktiv werden, um das Schauen zu beenden. Die bequemere Lösung ist daher einfach noch eine Folge zu schauen. Dadurch wird Dauerschauen gefördert und indirekt auch auf Dauer eine gewisse Abhängigkeit erreicht. Der Befragte verwendete das Wort „Abhängigkeit“ und genau das ist auch der Fall. Serienschauen ist keine Sucht im klassischen Sinne. Jedoch hat sie sich in den Alltag von vielen jungen Menschen eingeschlichen und sich zu einem wichtigen Bestandteil derer integriert. Einfachste Handlungen kann man nicht mehr ohne die Nebenbeschäftigung Serie erfüllen. Ob es Essen, Aufräumen oder Schlafen ist, man konsumiert Serien permanent nebenbei und man kann nicht damit aufhören. Richtig gefährlich wird es dann, wenn es zum Hauptbestandteil im Leben wird und man soziale oder berufliche Aspekte vernachlässigt. Wie der therapeutische Klinikleiter von Magdalenstift Stefan Melzer erklärt gibt es bestimmte Merkmale bei einer Sucht: „Wenn die Sucht eine ganz wesentliche Rolle im Alltag einnimmt und sogar eine übergeordnete Rolle einnimmt zum Beispiel im Vergleich zu sozialen Beziehungen. Dann ist ein weiteres Suchtkriterium, dass es eine zunehmend höhere Dosis braucht. Zum Beispiel kann es der Fall sein, dass eine betroffene Person dann anfängt mehrere Serien gleichzeitig zu schauen.“ Laut Melzer, könnte es noch zu einer Intensitätssteigerung kommen. Das heißt, der Nutzer sucht nach Serien mit heftigeren Inhalten. Ein weiterer Hinweis auf ein Suchtverhalten ist das bewusste Fortsetzen des Serienkonsum, obwohl es Probleme gibt.
Durch den medialen Wandel und Zuwachs an VoD gibt es neue Formen von Süchten, die noch nicht anerkannt, aber diskutiert werden.
Die 15 Sekunden auf Netflix sind abgelaufen. Bevor sich die Serienwelt erneut vor einem öffnet, schließt sich das virtuelle Fenster. Vielleicht eine Verabredung mit Freunden, eine Vorlesung an der Universität oder ein gemütlicher Spaziergang im Park. Der ultimative Overload bleibt für heute aus.