Am 9. November 1989 mündete die friedliche Revolution im Fall der Berliner Mauer. 30 Jahre später gehen die Menschen in Deutschland nach wie vor auf die Straße. Wie sich der Protest in Deutschland entwickelt hat und wie wirksam er ist, erzählt Soziologe Simon Teune im Interview mit medienMITTWEIDA.
Herr Teune, wie hat sich der Protest in Deutschland seit der friedlichen Revolution 1989 in Deutschland entwickelt?
Die Entwicklung in Deutschland ist relativ eindeutig. Es gibt keine gerade Linie, die nach oben zeigt, aber Wellen, die sich auf einem höheren Niveau immer wieder stabilisieren. Das heißt, es gibt Mobilisierungswellen, bei denen viele Leute auf die Straße gehen, dann gehen wieder weniger. Wenn danach neue Proteste anfangen, beginnen diese auf einem neuen Level. Das ist aber auch regional sehr unterschiedlich. Es gibt einzelne Städte, in denen sich in den letzten zehn Jahren die Zahl der Proteste verdoppelt hat.
In Berlin haben 2018 durchschnittlich rund zwölf Demonstrationen pro Tag stattgefunden. Statistik: Maria Marle
Laut rbb ist die Protestbereitschaft ist seit Mitte der 2000er gestiegen. Vor allem in großen Städten wie Berlin, Hamburg oder Leipzig gibt es einen Anstieg von Versammlungen pro Einwohnender. Worauf ist das zurückzuführen?
Dafür sind sich sehr stark diversifizierende Themen unter anderem mitverantwortlich. Das heißt, wir haben mehr Proteste, die aber nicht unbedingt größer sind. Der Protest wurde von vielen Gruppen als Mittel entdeckt, mit dem man seine Forderungen in die Öffentlichkeit tragen kann. Das war früher, vor 40 bis 50 Jahren, die Sache einer begrenzten Bevölkerungsgruppe – vor allem Studierende und das besser gebildete Bürgertum, die auch heute noch die Mehrheit der Demonstrierenden ausmachen. Aber die Form des gesellschaftlichen Protestes hat sich auch in anderen Gruppen ausgebreitet.
Man muss immer im Blick haben, dass ziviler Ungehorsam nie am Anfang eines Konflikts steht, sondern dass der Konflikt bereits weit fortgeschritten ist.
Wie wirksam sind Demonstrationen, wenn sie eher viele kleine Gruppen als die Mehrheit ansprechen?
Man hat natürlich ein Problem damit, weil es bei Protesten immer darum geht, Aufmerksamkeit zu erzeugen und auf sich zu ziehen. Wenn die Zahl der Proteste steigt, sinkt damit auch die Wahrscheinlichkeit, dass der eigene Protest wahrgenommen wird. Das heißt, man muss sich etwas einfallen lassen, wie man die Aufmerksamkeit trotzdem bekommen kann. Dazu können Entscheidungsträger direkt adressiert, der Protest bildmächtig inszeniert oder viele Leute auf die Straße gebracht werden. Eine andere Sache ist, dass man Proteste auch besser zeitlich plant, also zu dem Zeitpunkt ansetzt, wenn die öffentliche Aufmerksamkeit auf ein Thema gerichtet ist. Gleichzeitig wird mit Regierungsentscheidungen oder Hauptversammlungen großer Firmen somit auch der Protest wahrgenommen. Dadurch findet die Berichterstattung nicht nur über die Hauptversammlung statt, sondern auch über den Protest, der Kritik daran deutlich macht.
Dr. phil. Simon Teune ist Soziologe und beschäftigt sich vorrangig mit sozialen Bewegungen und Protesten. Er ist Mitbegründer des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung und Ko-Leiter des Bereichs „Soziale Bewegung, Technik und Konflikte” der Technischen Universität Berlin.
Foto: Chris Grodotzki
Von welchen Faktoren ist die Wirksamkeit eines Protests, bezogen auf die politischen Konsequenzen, abhängig?
Das ist sehr schwierig, pauschal zu beantworten. Man kann nicht sagen, dass eine Demonstrationsform per se wirksam ist, sondern das ist immer sehr stark von der Konstellation verschiedener Faktoren abhängig. Ein Faktor ist die Form, in der der Protest vorgetragen wird, der andere die Masse – wie viele Leute kann man auf die Straße bringen und inwiefern gibt es eine reale oder wahrgenommene Resonanz für den Protest. Also inwiefern gelingt es, auch Leute zu bewegen, die nicht auf der Straße gewesen sind. Wenn diese Faktoren zusammenkommen und es eine Medienberichterstattung gibt, sodass der Protest zu einem Thema gemacht wird, dann ist es deutlich leichter, eine Entscheidung herbeizuführen. Es ist aber auch immer stark davon abhängig, worauf der Protest abzielt. Wenn es eine sehr kleinteilige Entscheidung ist, zum Beispiel ob eine Person abgeschoben werden soll, dann ist das eine andere Konstellation als wenn allgemein über Klimapolitik gesprochen wird und sehr unterschiedliche Maßnahmen mit einer Forderung verbunden werden können. Das sind alles Faktoren, die dabei eine Rolle spielen. Deshalb kann man auch nicht sagen, dieser Protest oder diese Form ist wirksamer als andere.
Die Gruppierung Extinction Rebellion setzt vor allem auf zivilen Ungehorsam als Protestform. Wann kommt es zu dieser Form und wie erfolgsversprechend ist sie?
Extinction Rebellion ist ein Beispiel dafür, dass es gelingt, mit starken Bildern und mit dem Anspruch, etwas Neues zu machen, Aufmerksamkeit zu bekommen. Tatsächlich kam es auch davor in der Klimabewegung schon zu Aktionen zivilen Ungehorsams. Fridays for Future sind aus zivilem Ungehorsam hervorgegangen: nicht zur Schule gehen, sondern auf die Straße. Ziviler Ungehorsam ist dann eine Möglichkeit, Aufmerksamkeit zu bekommen, wenn andere Protestformen versagen oder nicht dazu geführt haben, dass es eine größere Aufmerksamkeit gibt. Man muss immer im Blick haben, dass ziviler Ungehorsam nie am Anfang eines Konflikts steht, sondern dass der Konflikt bereits weit fortgeschritten ist. Ziviler Ungehorsam ist für die allermeisten Protestierenden auch das letzte Mittel, das sie legitim finden.
Text: Alexander Grau/ Titelbild: Peter H, Pixabay Lizenz/ Statistik: Maria Marle/ Foto: Chris Grodotzki