Wenn man in Hochschulbibliotheken einen Blick auf die Schreibtische wirft, dann fallen einem meist Laptops und Tablets auf. Meist sieht man auch Kopfhörer und andere technische Hilfsmittel, die den Studierenden den Alltag erleichtern sollen. Schon in der stillen Lernatmosphäre der Bibliothek wird sichtbar, wie sehr finanzielle Ressourcen darüber entscheiden können, wie studiert wird.
Ein zweiter Blick verrät, dass einige Marken wie Apple und Samsung deutlich dominieren. Man sieht jedoch auch ältere Geräte von unbekannteren oder auch günstigeren Marken. Schon diese ersten Indizien lassen häufig auf die finanziellen Mittel der Studierenden schließen. In Hochschulen, wo eigentlich alle die gleichen Voraussetzungen haben sollten, liegen demnach große Unterschiede in den Möglichkeiten. Doch was bedeuten Statussymbole in einer Umgebung, die eigentlich Chancengleichheit verspricht?
Der schwierige Weg durch eine kulturell fremde Welt
Julian (Name zum Schutz der Privatsphäre geändert) ist 21 Jahre alt und studiert Wirtschaftspsychologie an einer deutschen Hochschule. Er ist ein Kind aus einer Arbeiterfamilie. Julians Eltern haben nicht studiert, denn sie haben beide nach der zehnten Klasse eine Ausbildung absolviert. Die Familie lebt in einem kleinen Dorf und schon Julians Schulweg ist sehr lang gewesen. Für sein Studium musste er deshalb in eine größere Stadt ziehen. Seine Eltern können ihn kaum finanziell unterstützen, da er zwei Geschwister hat, die noch zu Hause wohnen und von den Eltern versorgt werden müssen.
Für Julian sei das Leben in einer Großstadt und die Kultur an der Hochschule eine völlig neue Welt. Er habe zu Beginn große Schwierigkeiten gehabt, sich überhaupt in seinem Studiengang zurecht zu finden und das Prinzip des Studierens zu durchschauen. In einem persönlichen Interview mit MedienMITTWEIDA berichtet er: „Ich musste mir alles selbst beibringen. Vom richtigen Zitieren bis hin zu der Frage, wie man einen Professor anspricht“ . Hier spielt der sogenannte Bildungshabitus eine große Rolle. Er prägt, wie selbstverständlich man sich im akademischen Umfeld bewegt.
Bildungshabitus
Der Bildungshabitus bezieht sich auf die Art und Weise, wie Individuen Bildung wahrnehmen und nutzen. Er wird von sozialen Praktiken und Erfahrungen geprägt und beeinflusst das Verhalten und die Wahrnehmung von Bildung in verschiedenen sozialen Kontexten. Ein Bildungshabitus kann sich aus familiären Prägungen und der sozialen Struktur der Gesellschaft ableiten, was zu unterschiedlichen Bildungserfahrungen führen kann (Vgl. Springer, 2014).
Studium als Selbstverständlichkeit
Klara (Name zum Schutz der Privatsphäre geändert) ist 19 Jahre alt und studiert Lehramt in Dresden. Sie kommt eigentlich aus Leipzig, aber sie habe für ihr Studium unbedingt umziehen wollen, weshalb sie sich für die Universität in Dresden entschieden hat. Sie hat für ihren Umzug und auch für weitere finanzielle Hürden die Unterstützung ihrer Eltern bekommen. Klara kommt aus einer Akademikerfamilie. Ihre Eltern haben studiert und Klara sei sich ihrer privilegierten Situation durchaus bewusst. Für sie sei schon immer klar gewesen, dass sie einmal studieren wird. Über finanzielle Sorgen habe sie sich keine Gedanken machen müssen. „Es war nie die Frage, ob (ich studieren werde), sondern was“, erzählt Klara glücklich.
Marken, Möglichkeiten, Milieus: Wenn Technik zur Grenze wird
Bei Klara wird eine zweite Lebensrealität deutlich, die sich genau wie Julians in einem Hörsaal befindet. Allerdings haben sie jeweils völlig unterschiedliche Voraussetzungen. Statussymbole spielen hierbei eine erhebliche Rolle. Zu diesen Statussymbolen gehören Gegenstände wie technische Hilfsmittel, etwa Laptops, Handys und Tablets, aber auch die Kleidung. Diese fallen im Hörsaal sofort auf und lassen oft auf die finanziellen Mittel der betroffenen Person schließen. Eindeutige Klischees, wie die des „BWL-Justus “, sind mehrheitlich bekannt und sind auch in der Realität deutlich erkennbar: teure Markenpullover, gute Anzughosen und hochwertige Designer-Hemden sollen Qualität vermitteln.
Markenkleidung als unausgesprochener Dresscode, Foto: Loreen Pohl
Heutzutage kann man sich Studieren ohne technische Hilfsmittel nicht mehr vorstellen. Die Lernmaterialien der Studierenden sind hauptsächlich online abrufbar, teilweise werden Veranstaltungen ausschließlich in digitalen Konferenzen abgehalten und auch Prüfungen werden digital gestaltet. Die Studierenden benötigen diese also dringend, um eine gute Chance auf einen reibungslosen Lernprozess zu haben. Wie teuer solche Hilfsmittel dabei sind, wird jedoch oft unterschätzt. Neue Apple MacBooks kosten ab 800 Euro aufwärts und auch andere Marken wie Laptops von Lenovo starten bei 600 Euro. Jasmin Friese von ArbeiterKind.de berichtet in einem schriftlichen Interview mit medienMITTWEIDA, dass auch das Zugehörigkeitsgefühl dadurch beeinflusst werde. Sie spricht von „kulturellen Codes“: „Dazu gehören Kleidung und Statussymbole. Teure Markenkleidung, Apple-Laptops und Smartphones oder auch die richtige Freizeitkleidung“.
Auslandsjahr oder Supermarktjob – wie Herkunft Zukunftspläne formt
Auch der Tagesablauf des Studiums fällt durch den Unterschied der familiären Hintergründe sehr unterschiedlich aus. Während Klara vor ihrem Studium eine einjährige Reise nach Australien machte, ging Julian ein halbes Jahr Vollzeit in einem Supermarkt arbeiten, um sich etwas Geld für sein Studium ansparen zu können. Ein Auslandssemester steht für Klara bereits fest – sie weiß nur noch nicht wohin. Julian möchte direkt ein studienbezogenes Pflichtpraktikum machen. Falls dieses jedoch unbezahlt ist, kommt es für ihn gar nicht infrage, weil er sich das nicht leisten kann.
Klaras Erinnerungen an ihr Auslandsjahr auf ihrem iPhone, Foto: Loreen Pohl
Zwischen Fremdheit und Selbstverständlichkeit: Wer fühlt sich an der Hochschule zu Hause?
Die Zugehörigkeit im Hochschul-Alltag wird an vielen verschiedenen Stellen sichtbar. Sie entsteht an Hochschulen oft dort, wo sie nicht eindeutig erkennbar ist. In Seminaren, in Lerngruppen und in Gesprächen vor dem Hörsaal fällt auf, wer sich bereits auskennt und dadurch selbstverständlich bewegt. Aber es wird auch klar, wer versucht, nicht aufzufallen. Für Studierende wie Julian bleibt die Universität ein Ort, an dem sich Unsicherheit wie ein feiner Schatten mit in den Raum schiebt. Offene Fragen über die Begriffe, die andere mühelos verwenden, die Namen von Theoretiker*innen, die scheinbar allen etwas sagen, oder die beiläufige Frage nach dem letzten Auslandsaufenthalt bleiben für Viele nicht aus. All das formt Grenzen, die niemand bewusst zieht, die aber dennoch wirken.
Für Erstakademiker*innen bedeutet das oft eine doppelte Herausforderung, da sie beide Seiten des Hochschulalltags kennenlernen müssen. Sie lernen nicht nur den Stoff, der für alle Studierenden relevant und häufig auch neu ist, sondern auch das System. Dabei lernen sie, wie man wissenschaftlich diskutiert, wie man sich in Sprechstunden verhält und welche Codes und Erwartungen unausgesprochen im Raum stehen. Jasmin Friese berichtet, viele Betroffene würden davon sprechen, sich „fremd“ zu fühlen, selbst dann, wenn sie längst gute Noten schreiben. Ihre Herkunft bleibt unsichtbar und gleichzeitig jederzeit präsent. „Ich hatte immer das Gefühl, ich müsste beweisen, dass ich hier richtig bin“, sagt Julian. „Andere wirkten so, als wären sie schon mit diesem Selbstbewusstsein geboren worden.“
Das Gefühl des Außenseiters ist lang kein Einzelfall mehr
Jasmin Friese berichtet von genau solchen Vorkommnissen: „Aus unserer praktischen Arbeit können wir bestätigen: Das Gefühl, ‚nicht dazuzugehören’ oder ‚sich verstellen zu müssen’, ist eines der häufigsten Themen in den Gesprächen zwischen Ehrenamtlichen und Ratsuchenden“. Rund 78% aller Kinder aus Akademikerfamilien starten ein Hochschulstudium. Aus Arbeiterfamilien sind es hingegen nur 25%. Dies macht deutlich, wie schwer der Zugang zu Hochschulen für Kinder aus Arbeiterfamilien ist.
Anteil der Studienanfänger in Prozent
Anteil der Studienanfänger aus Arbeiter- und Akademikerfamilien in Deutschland in Prozent, Grafik: Loreen Pohl, Quelle: Arbeiterkind.de
Auf der anderen Seite des Spektrums stehen Studierende, die von klein auf mit kulturellem Kapital vertraut sind. Für sie fühlt sich die Universität nicht wie ein Neustart an, sondern wie die natürliche Fortsetzung eines Weges. Sie kennen die Spielregeln, lange bevor sie sie bewusst wahrnehmen. Oft merken sie gar nicht, dass ihre Selbstverständlichkeit für andere wie ein stummer Hinweis auf soziale Herkunft wirkt. Für Klara etwa ist es normal, dass ihre Eltern ihr helfen können, wenn sie sich unsicher ist – sei es mit Literaturtipps, Kontakten oder einfach dadurch, dass sie sich voll auf das Studium konzentrieren kann.
Als Julian am ersten Tag zu den Einführungsvorlesungen ging, hatte er das Gefühl, dass sich alle anderen Studierenden bereits auskennen, alle außer er. „Ich habe mich nicht getraut bei den anderen nach Hilfe zu fragen, weil ich nicht wollte, dass die denken ich wäre total lost oder so“, erzählt er mit einem verhaltenen Lächeln. Mittlerweile sei ihm egal, ob sich andere schon auskennen oder teurere Geräte benutzen als er. Doch bis er dazu gekommen sei, habe es eine Weile gedauert. Auf den ersten Blick wirken Hochschulen wie Orte, an denen alle dieselben Chancen haben. Doch wer genauer hinschaut, merkt schnell, dass Unterstützung nicht für alle sofort sichtbar ist. Viele Programme zur Förderung sozialer Durchlässigkeit existieren zwar – doch sie erreichen oft genau jene nicht, für die sie eigentlich gedacht sind.
Erste Anlaufstellen für Erstakademiker*innen: Wie Initiativen Orientierung schaffen
Eine der bekanntesten Initiativen, die sich gezielt an Studierende aus nicht akademischen Familien richtet, ist ArbeiterKind.de. Das Netzwerk entstand, weil viele Erstakademiker*innen den Weg an die Hochschule ohne Orientierung gehen mussten – und weil jemand gemerkt hat, wie viel leichter dieser Weg wird, wenn man nicht alleine unterwegs ist. ArbeiterKind.de bietet lokale Gruppen, regelmäßige Treffen, Beratungen und Mentorings, in denen Studierende sich austauschen können. Beispielsweise über Dinge, die für andere selbstverständlich scheinen: Wie finde ich ein Stipendium, obwohl ich keinen perfekten Lebenslauf habe? Welche Praktika lohnen sich wirklich? Wie finanziere ich ein Auslandssemester? Und wie gehe ich damit um, wenn ich das Gefühl habe, nicht richtig dazuzugehören?
Andere Anlaufstellen für Rat-Suchende sind häufig auch in den Hochschulen selbst zu finden. Studentenwerke bieten sowohl Sozialberatungen, als auch psychische Beratungsstellen an, zu denen die Studierenden gehen können. So treffen an der Hochschule zwei Realitäten aufeinander: Diejenigen, die Netzwerke und Informationen von klein auf mitbekommen haben, und diejenigen, die sie sich mühsam selbst erarbeiten müssen oder erst durch Initiativen wie ArbeiterKind.de entdecken, dass ihnen diese Türen überhaupt offenstehen.
Die Suche nach Unterstützung
Am Ende zeigt sich: Unterstützung allein reicht nicht. Sie muss auch gefunden werden. Manchmal beginnt das mit einem Satz in einer Bibliothek oder einer Einladung zu einem Treffen – genau dort, wo die Unsichtbarkeit der eigenen Herkunft ein erstes Mal durchbrochen wird. Vielleicht entsteht gerade in diesen kleinen Momenten ein neuer Blick darauf, was im Hörsaal wirklich zählt: nicht das Markenlogo auf dem Pullover und nicht der Apfel auf dem Laptop, sondern die Chance, sich inmitten all der unausgesprochenen Codes einen Platz zu nehmen.
Denn wo Dresscodes bröckeln und Statussymbole an Bedeutung verlieren, wird Raum frei für Begegnungen, für Aufstieg, für Zugehörigkeit. Es wird Platz für ein Studium, das nicht von außen definiert wird, sondern von den Menschen, die es Tag für Tag mit in Angriff nehmen ohne auf Marken achten zu müssen.
Text, Titelbild, Fotos, Grafik: Loreen Pohl
