Streaming

Bye Bye, Netflix?

von | 15. November 2019

Netflix, AppleTV+, Disney+: Wer erobert die Streaming-Spitze und wie wird der Markt reagieren? Ein Interview.

Seit diesem Monat gibt es zwei neue Player auf dem Video-on-Demand Markt: AppleTV+ und Disney+. In Deutschland ist bislang zwar nur Apples neuer Streaming-Dienst verfügbar, jedoch könnte auch Disney den Entertainment-Markt langfristig verändern. Wie gut sind die neuen Anbieter? Wird es Netflix bald schwer haben? Und wer setzt sich durch? Diese und weitere Fragen hat Markus Heinker im Interview mit medienMITTWEIDA beantwortet. Er ist Professor für Medienwirtschaft und -politik an der Hochschule Mittweida. Seit Oktober diesen Jahres vertritt er als Präsident den Medienrat der Sächsischen Landesanstalt für privaten Rundfunk und neue Medien.

Herr Heinker, was ist am internationalen Video-on-Demand-Markt (VoD) besonders?

Markus Heinker: Man muss wohl grundsätzlich den amerikanischen Markt vom Rest der Welt unterscheiden. Aufgrund der viel ausgeprägteren Pay-TV-Kultur in den USA ist dort die Marktdurchdringung mit VoD etwa doppelt so stark wie in den europäischen Märkten. Die europäischen Märkte, vor allem der deutsche, haben durch die Tradition eines starken öffentlich-rechtlichen Rundfunks eine ausgeprägte Kostenlos-Kultur. Auch wenn das objektiv betrachtet natürlich ein Trugschluss ist, da für die Angebote der öffentlich-rechtlichen ja über den Rundfunkbeitrag erhebliche Mittel von den Haushalten aufgebracht werden müssen. Die meisten Prognosen gehen nicht davon aus, dass der europäische Markt auf absehbare Zeit das amerikanische Niveau erreichen wird.

Netflix ist ja momentan weltweit einer der größten Streaming-Anbieter in Bezug auf Filme und Serien. Das Unternehmen hat eine besondere Unternehmensstrategie. Wie würden Sie die beschreiben?

Heinker: Wofür Netflix steht, daran kann kein Zweifel bestehen. Der Anbieter befasst sich sehr konsequent mit seinem Kerngeschäft, der IP-basierten Distribution von Bewegtbildinhalten. Das ist bei Amazon und Apple beispielsweise anders. Dort ist das VoD-Angebot nur Teil einer Gesamtstrategie. Netflix ist damit weniger breit aufgestellt und damit möglicherweise verletzbarer bei Marktveränderungen. Andererseits wird die Marke dadurch nicht verwässert. 

Abonnenten von Netflix weltweit in den Jahren von 2001 bis 2018

Quelle: Netflix. Grafik: Leon Heyde

Ist der Markteintritt von zwei großen Playern ein Risiko für Netflix? Laut heise online soll das Unternehmen immerhin über zehn Milliarden Euro Schulden haben.

Heinker: Marktteilnehmer sagen ja sogar, dass Netflix Schulden in Höhe von 20 Milliarden US-Dollar hat. Ich glaube aber, dass das eine ganz typische und auch notwendige Maßnahme der verfolgten Expansionsstrategie ist. Die Zukunft wird zeigen, ob man ausreichend refinanzieren kann, um die Schulden abzutragen. Der Markt glaubt das offenbar, sonst würde das Unternehmen ja nicht in solchen Größenordnungen Geld bekommen. Gewissheit dazu gibt es im Moment allerdings nicht, da das eine Wette auf die Zukunft ist.

Welche Strategie fahren die neuen Player Apple und Disney?

Heinker: Das ist vor dem Start schwer zu sagen. So wie es aussieht, hält sich Apple nicht mit „gebrauchten“ Rechtekatalogen auf, sondern fährt eine reine „Originals“-Strategie – mit lediglich etwa zwei Handvoll Titel zum Start – was gut zur Exklusivität der Marke passt. Disney dagegen verfügt über einen riesigen, hoch attraktiven Titelkatalog mit etlichen Klassikern. Dieser Katalog scheint jetzt für den Bereich VoD unter der Marke Disney+ exklusiv vermarktet zu werden. Das stellt eine Schwächung für Netflix dar, die bisher einiges aus diesem Katalog im Programm hatten.

Wie reagiert ein Markt, wenn zwei so große Player zur gleichen Zeit eintreten? Abonniert bald jeder vier Anbieter oder überleben nur die „Besten“ ?

Heinker: Ich glaube nicht, dass die VoD-Budgets der Haushalte ausreichend große Reserven haben, um die Entgelte für zwei weitere Dienste, zusätzlich zu bestehenden Abonnements, zu tragen. Amazon Prime Video als „Zugabe“ zum Prime-Versandkosten-Abo ist da nicht mitgerechnet. Es wird in den nächsten Monaten, neben einem Wachstum der VoD-Umsätze, also vor allem zu Umverteilungen kommen. Das wird wahrscheinlich erst Anfang 2020 sichtbar werden, wenn klar ist, wie viele Nutzer nach dem Probemonat dabei bleiben und wie stark sich das Weihnachtsgeschäft ausgewirkt hat.

Nutzungshäufigkeit von Mediatheken und Streamingdiensten in Deutschland im Jahr 2019 (in Prozent)

Quelle: ARD/ZDF-Onlinestudie 2019. Grafik: Leon Heyde

Sie sprechen von Umverteilungen. Wird Netflix Kunden verlieren?

Heinker: Das Wachstum von Netflix wird sich natürlich nicht dauerhaft fortsetzen lassen. Ich halte auch Reichweitenverluste für denkbar. Langfristig ist es für Netflix auch nicht entscheidend, ob man der größte oder der am schnellsten wachsende Anbieter ist, sondern, dass die Rendite stimmt. Hier wird Netflix nach meiner Einschätzung auf Dauer nicht daran vorbeikommen, seine sehr großzügige Mitnutzungserlaubnis zu begrenzen, so wie Spotify das gerade eingeleitet hat. Aktuell können für 16 Euro vier HD-Streams parallel ohne Geräte-Beschränkung betrieben werden. In der Beschränkung dieser Option liegen meines Erachtens erhebliche Potentiale.

Neben AppleTV+ und Disney+ starten in den USA bald auch HBO Max und Comcast. Das Feld der VoD-Player wird insgesamt also deutlich größer. Wird sich der Markt bald wieder in Nischen aufteilen oder geht man hier auf strikte Konkurrenz?

Heinker: Ich habe keinen Zweifel, dass wir in den nächsten Jahren Konzentrationsprozesse sehen werden. Eine Möglichkeit wäre, dass jemand, der selbst Video-on-Demand-Anbieter ist, weitere Anbieter mit an Bord nimmt: Das macht beispielsweise schon Sky Q mit Netflix oder die Telekom. Oder ein sogenannter Superaggregator, der keine andere Rolle im Markt hat, als zu aggregieren, bündelt solche Angebote. Vor allem Anbieter von Managed-IP-TV wie beispielsweise die Telekom werden versuchen, möglichst viele VoD-Anbieter in ihre Pakete zu integrieren. Zum einen, um die Angebote attraktiv zu halten und zum anderen, um die „Herrschaft über die Fernbedienung“ nicht zu verlieren. Ähnliche Entwicklungen haben wir in der Vergangenheit bei der Integration der Mediatheken der öffentlich-rechtlichen gesehen, zuletzt bei Joyn. Darüber hinaus sehen wir ja schon jetzt Nischenangebote, allerdings eher als Sub-Channels innerhalb eines Subscription-Video-on-Demand-Dienstes, zum Beispiel „Starzplay“ bei Amazon Prime Video.

Warum sollten wohlhabende VoD Dienste mit hohem Umsatz bei einem Bündelangebot mitmachen?

Heinker: Das ist zum einen eine Frage der Marktmacht. Schon jetzt schafft das ein Anbieter wie die Telekom. Die ist besonders stark motiviert, als Managed-IP-TV Anbieter ihre Hardware, also die „Kontrolle über die Fernbedienung“, zu sichern und zusätzlich ja auch sehr kapitalstark. So einem Anbieter würde ich schon zutrauen, so viel Marktmacht aufzubauen (beziehungsweise zu sichern), dass andere Anbieter nur noch begrenzt disponieren können. Außerdem kann es auch für den aggregierten VoD-Anbieter attraktiv sein, solche Umsätze mitzunehmen.

Was bedeuten VoD, OTT, Managed-IP-TV und so weiter?

Aggregation: Bündelung von einzelnen Anbietern in einem Gesamtangebot; laut Gabler Wirtschaftslexikon „Zusammenfassung mehrerer Einzelgrößen hinsichtlich eines gleichartigen Merkmals, um Zusammenhänge zu gewinnen“

IP-basierte-Distribution: Vertrieb von audiovisuellen Inhalten über Rechnernetze, nach dem Internetprotokoll

IP-TV: Laut onpulson Wirtschaftslexikon ist IP-TV „die Abkürzung für ,internet protocol television’ und bezeichnet den Fernsehempfang über einen Internetanschluss.“

Managed-IP-TV: laut onpulson Wirtschaftslexikon: „Neben dem an das Internet angeschlossene Empfangsgerät wird auch noch ein zusätzliches Empfangsgerät benötigt, das das Signal verarbeitet, wie zum Beispiel ein Receiver oder eine Set-Top-Box. Außerdem wird auch ein Vertrag mit dem Sender des TV-Programms für den Empfang benötigt.“

OTT (Over-the-Top Streaming): Distribution im Internetprotokoll, das auf beliebigen Endgeräten empfangen werden kann

Pay-TV: laut DudenFernsehprogramm eines Privatsenders, das gegen Zahlung einer bestimmten Gebühr mithilfe eines zusätzlich benötigten Decoders empfangen werden kann

SVoD (Subscription-Video-On-Demand): Ein Video-on-Demand Angebot, das nur durch ein monatliches Abonnement erhältlich ist

Usability: zu Deutsch: Benutzerfreundlichkeit, Bedienbarkeit; laut Gabler Wirtschaftslexikon „die Eigenschaft eines Softwareprodukts, auf die Anforderung des Endbenutzers zugeschnitten zu sein.“

VoD (Video-on-Demand): zeit-souveränes Fernsehen, bei dem der Zuschauer zu jeder Zeit, an jedem Ort und auf jedem Gerät das sehen kann, was er sehen möchte; laut Gabler WirtschaftslexikonProgramm-Konzept, bei dem der Kunde Zeitpunkt und Inhalt seiner TV-Nutzung frei bestimmen kann, sofern der Inhalt vom Sender überhaupt angeboten wird

Laut Handelsblatt plant Apple angeblich sogar, ein Hollywood Studio zu kaufen. Wie schätzen Sie die Chancen von Apple als Techkonzern ein? Immerhin konkurriert das Unternehmen gegen erfahrene „Entertainment-Giganten“ wie Disney und Netflix.

Heinker: In der Verbindung von Hardware-Hersteller und Betriebssystem-Betreiber liegen erhebliche Potentiale, wie Apple mit dem iTunes– und App Store bereits bewiesen hat. Dasselbe gilt für die entsprechende Google-Welt. Wenn nun auch noch die Rolle als Content-Produzent hinzukommt, vergrößern sich die Möglichkeiten noch einmal. Sollte sich ein großer Back-Katalog als notwendig erweisen, wird Apple sich diesen zukaufen können. Mit Interesse verfolge ich, ob ein riesiger Tech-Konzern in der Lage ist, die Rahmenbedingungen, die die Produktion von Bewegtbildinhalten erfordert, bereitzustellen, vor allem unter den Gesichtspunkten des Managements von Talent und Kreativität. Die ersten Kritiken zu den AppleEigenproduktionen sind ja eher verhalten.

Viele Vermutungen sagen, dass gerade Disney eine große Gefahr für Netflix werden kann. Wie AppleTV+ ist das Angebot preislich günstiger, auch die Auswahl an Inhalten ist groß. Was denken Sie dazu?

Heinker: Das sehe ich auch so. Soweit man das im Moment sehen kann, wird Disney+ das Angebot sein, das Netflix am ähnlichsten ist, also Subscription-Video-on-Demand (SVoD), over-the-top-Streaming (OTT), riesiger Titel-Katalog, inhaltlich breit. An Kapital für die Finanzierung eines imposanten Marktauftritts wird es auch nicht fehlen.

Einstiegsabonnement ausgewählter Video-on-Demand Anbieter

In Deutschland kostet das monatliche Abonnement von Amazon Prime 7,99€. Quelle: Netflix, Apple, Disney. Grafik: Leon Heyde

Schauen wir mal nach Deutschland. Auch Sky hat hier noch eine Rolle im VoD-Markt. Wie schätzen Sie die Zukunft von Sky ein?

Heinker: Der Pay-TV-Pionier Sky wurde bislang von seinem Sportrechte-Katalog, vor allem von der Bundesliga, getrieben. Ohne diese Rechte sehe ich Probleme auf Sky zukommen, da – jedenfalls nach meiner Wahrnehmung – Sky eine Profilierung mit anderen Inhalten noch nicht gelungen ist. Zwar laufen dort exklusive, aktuelle Serien, allerdings kommt die Synchronisation oft spät, Untertitel sind häufig nicht verfügbar und das OTT-Angebot von Sky (Sky-Ticket) bleibt von der Usability hinter anderen, zum Beispiel Netflix, zurück. Hier meine ich, spüren zu können, dass die Infrastruktur im Hintergrund die eines klassischen Pay-TV-Anbieters ist. Und wenn jetzt drei Dinge zusammenkommen: Sportrechte weg, kein umfassender Backkatalog und keine klare Inhalte-Strategie, dann kann das natürlich gefährlich werden. Aber das müssen wir abwarten.

Herr Heinker, wie wird sich der internationale und der deutsche Video-on-Demand-Markt insgesamt verändern?

Heinker: Die wesentlichen Trends sind in beiden Märkten: Starker und noch zunehmender Wettbewerb mit entsprechend attraktiven Angeboten für die Nutzerseite, wahrscheinlich gefolgt von Konzentrationsprozessen, vor allem aber Aggregation.

Interview, Text und Grafiken: Leon Heyde, Titelbild: Christin Post und Ariana Bešić

<h3>Leon Heyde</h3>

Leon Heyde

ist 21 Jahre alt und kommt aus Leipzig. Er studiert Medienmanagement an der Hochschule Mittweida mit der Vertiefung Media and Business. Bei medienMITTWEIDA hat er sich als Ressortleiter im Ressort Medien und als Redakteur von 2019-2021 engagiert.