Filmkritik

„Kann man das nicht löschen?“

von | 11. November 2022

Schockierend echt die Wahrheit nachahmend: Der Skandal um Claas Relotius auf der großen Leinwand.

„Die Liste seiner Fälschungen ist enorm. Die Zahl der Lügen und Erfindungen geht in die Hunderte, seine Reportagen sind fast alle unsauber.“ So beschreibt der SPIEGEL-Reporter, Juan Moreno, in seinem Buch „Tausend Zeilen Lüge“, die Arbeit seines ehemaligen Kollegen Claas Relotius. Basierend auf diesem Buch, hat es einer der größten Skandale des deutschen Journalismus nun auch in die Kinos geschafft. Die Verbindung zum realen Fall, wie er in Morenos Buch beschrieben wird, macht unter anderem der Filmtitel „Tausend Zeilen“ unmissverständlich deutlich. Es handelt sich dabei jedoch nicht um einen Dokumentarfilm, sondern um eine Art neues Genre, das den Skandal auf seine ganz eigene Art kommentiert. Unter der Regie von Michael „Bully“ Herbig kam die Mediensatire am 29. September auf die große Leinwand.

 

Starreporter Lars Bogenius und sein Kollege Juan Romero arbeiten bei der Chronik, der Avantgarde des deutschen Journalismus, so ihr Gesellschaftsressortleiter. Spielend leicht, schafft es Bogenius immer wieder, mit seinen emotionalen Reportagen sowohl seine Leser, Kritiker als auch Vorgesetzten von sich zu überzeugen. Zahlreiche Journalisten-Preise zieren seine Karriere als Reporter und er schafft es, die fallenden Blattauflagen mit seinen einzigartigen Geschichten aufzufangen. Das Blatt fängt sich allerdings an zu drehen, als Bogenius und Romero zusammen für die Titelstory “Jaegers Grenze” recherchieren müssen. Eigenständig deckt Romero immer mehr Ungereimtheiten in Bogenius’ Texten auf, bis er hinter Bogenius’ bröckeliger Fassade einen der größten Journalismus-Skandale Deutschlands entdeckt.

Der Fälscher-Skandal um Claas Relotius – Was wirklich passiert ist

Am 3. Dezember 2018 gewann der ehemalige SPIEGEL-Reporter und Redakteur des Gesellschaftsressorts Claas Relotius zum vierten Mal den Deutschen Reporterpreis. Diese viermalige Auszeichnung stellt allerdings nur einen kleinen Teil seiner Trophäen-Sammlung dar, denn für seine Texte, größtenteils Reportagen, wurden an ihn insgesamt circa vierzig verschiedene Preise verliehen. Etwa zur gleichen Zeit der Preisverleihung sendete eine PR-Mitarbeiterin einer Bürgerwehr in Arizona eine E-Mail an Relotius mit der Frage, wie er in seiner Reportage „Jaegers Grenze“ über die Bürgerwehr schreiben könne, ohne vor Ort recherchiert zu haben. An dieser Reportage arbeitete Relotius zusammen mit Juan Moreno. Was Relotius jedoch noch nicht wusste, war, dass diese Geschichte sein System zu Fall bringen würde. Denn neben der PR-Mitarbeiterin aus Arizona fielen auch Moreno, während des gemeinsamen Verfassens der Geschichte immer mehr Ungereimtheiten auf.

Sehr lange ignorierte die Chefetage des SPIEGEL dabei Morenos Warnungen und vertraute ausschließlich auf Relotius‘ Wort. Dabei spielten besonders der Gesellschaftsressortleiter Matthias Geyer und der angehende Chefredakteur Ullrich Fichtner eine entscheidende Rolle. Moreno begann auf eigene Kosten, Relotius hinterher zu recherchieren und riskierte dabei seinen eigenen Job. Relotius brach erst ein, als die Beweislast von Morenos Seite zu erdrückend wurde und ihm seine Vorgesetzte Özlem Gezer direkt sagte, dass sie Relotius nicht mehr glaube. Es folgte ein langes Aufklärungsgespräch mit den Ressortleitern sowie einem Chefredakteur. Am 19. Dezember 2018 enthüllte der SPIEGEL den Skandal im eigenen Haus und beauftragte eine unabhängige Aufklärungskommission damit, einen Abschlussbericht zu verfassen, der den Fall detailreich aufarbeitet. Im SPIEGEL wurden von Relotius als Autor und Co-Autor 55 Originaltexte veröffentlicht. Außerdem schrieb er in seinen zehn bis elf Jahren als Journalist unter anderem auch für die taz, das SZ-Magazin und ZEIT online, sodass es wahrscheinlich und teilweise nachgewiesen ist, dass auch andere Blätter von Fälschungen betroffen waren.

Zwei Hauptprotagonisten, aber keine Gegenspieler

Als Michael „Bully“ Herbig in einem Interview von Deutschlandfunk Kultur zum Genre seines Films befragt wurde, antwortete er: „Ein bisschen Thriller, ein bisschen Drama, ein bisschen Satire.“ Der Film „Tausend Zeilen“ bedient sich also einer bunten Mischung verschiedener Genres, wobei Herbig jedoch klar war, dass für die Verfilmung von Morenos Buch eine eigene Interpretation gefunden werden musste. Diese Interpretation spiegelt sich in einem überdeutlichen Verweis auf den realen Fall wider, was beispielsweise an den Namensadaptionen der Figuren im Film gut zu erkennen ist. So heißt Juan Moreno im Film Juan Romero und wird von Elyas M’Barek gespielt, wobei Romero eine der ernsteren Rollen in der Filmographie M’Bareks darstellt. Ähnlich verhält es sich mit Claas Relotius, der im Film Lars Bogenius genannt und von Jonas Nay verkörpert wird. Aus dem ehemaligen Gesellschaftsressortleiter Matthias Geyer wird Rainer M. Habicht und aus dem ehemals angehenden Chefredakteur Ullrich Fichtner geht im Film Christian Eichner hervor. Es lohnt sich an der Stelle einen Blick auf die Nachnamen zu werfen.

Relotius‘ Vorgesetzte Özlem Gezer trägt im Film den Namen Yasmin Saleem und wird als, im Vergleich zu ihren Kollegen in der Chefetage, kompetentere Mitarbeiterin dargestellt. Sie ist die Einzige in einer höheren Position, die Bogenius etwas kritischer beäugt und auch ein ungutes Gefühl zu haben scheint. Auf die Warnungen Romeros geht sie jedoch auch nicht näher ein und würgt seine Anrufe mehrmals ab, aus Angst sich gegen die hohe Meinung der Chefetage über dem Starreporter Bogenius zu stellen. Moreno sagte gegenüber der Süddeutschen Zeitung, Bezug nehmend auf Relotius‘ guten Ruf: „Du hast hier also auf der einen Seite den sympathischsten Kollegen, den es auf dem Planeten gibt – ich habe ihn nie gesehen, aber alle, mit denen ich spreche, sagen, es gäbe keinen netteren Menschen. Und auf der anderen Seite mich, der sich etwas seltsam benimmt.“ Für Herbig war es innerhalb des Films wichtig, eine Geschichte mit zwei Hauptdarstellern zu erzählen, die beide ihren Weg gehen und ihre Motivation haben, jedoch nicht hauptsächlich als Gegenspieler agieren.

„Die Wahrheit. Sonst nichts.“

Der Film konzentriert sich ausschließlich auf die letzten Monate des Claas Relotius als Reporter und damit auf die Co-Produktion mit Juan Moreno an der Reportage „Jaegers Grenze“. So arbeiten die Reporter Juan Romero und Lars Bogenius beide bei der Chronik unter dem Motto „Die Wahrheit. Sonst nichts.“ (publizistisches Ideal des SPIEGEL: „Sagen, was ist.“). Sie sind dabei die gemeinsame Reportage zu verfassen, als Romero Unstimmigkeiten im Text von Bogenius auffallen und seine Enthüllungsrecherche beginnt. Der Stil des Films ist geprägt von Metaebenen und Metaphern. Die Figuren Romero und Bogenius treten immer wieder aus der eigentlichen Szene heraus und sprechen direkt mit ihrem Publikum, natürlich beide auf ihre eigene Weise. Bei Romero ist klar zu erkennen, dass er innerhalb der Szenen wiederholt kleine Fußnoten setzt, das Geschehen dadurch kurz pausiert und kommentiert, um die Zuschauer über Ungereimtheiten aufzuklären. Bogenius hingegen kommentiert die Schwierigkeiten von Romero bei dessen Enthüllungsrecherche oft verschmitzt oder läuft durch die Chronik-Redaktion, als würde er gerade ein Lehrvideo drehen, indem er den, natürlich absolut akkuraten, journalistischen Arbeitsalltag vorstellt. In diesem Zusammenhang wird eine sarkastisch angehauchte Szene gezeigt, in der Bogenius den Text prüfenden Dokumentar als den natürlichen Feind des Journalisten beschreibt. Diese Aussage wird gebrochen, als Bogenius dem Dokumentar etwas Süßes gibt und dieser sich über seine Lieblings-Süßigkeit freut. Die mangelnde kritische Distanz von Dokumentar zum Journalisten, die auch im realen Fall um Claas Relotius vorhanden war, wird an dieser Stelle unterstrichen. Wie wenig Bogenius den Dokumentar wertschätzt, wird deutlich, als Bogenius die Reste der Süßigkeit nicht selbst isst, sondern dem Bürohund zum Fressen vorwirft.

Im Verlauf des Films versucht Bogenius immer wieder den Zuschauer mit seiner verschmitzt-charmanten Art auf seine Seite zu ziehen, bis er sich gegen Ende des Films an den Zuschauer wendet und sagt, dass er ihm doch glauben wollte. Die direkte Ansprache lässt den Zuschauer dadurch nicht umhinkommen, sich selbst zu hinterfragen, denn zu keiner Zeit im Film erscheint Bogenius extrem unsympathisch, wie es bei einem richtigen Antagonisten der Fall wäre. Man stellt sich die Frage: Hätte ich selbst skeptischer sein sollen? Besonders eindrücklich und teilweise überspitzt zeichnet der Film ein Bild davon, wie viel Misstrauen Moreno im realen Fall entgegengebracht wurde. In einer weiteren Szene des Films wird gezeigt, wie Habicht und Eichner sich die Probeversion eines Imagefilms für die Chronik ansehen, in dem sie selbst auftreten. Beide wirken dabei sehr von sich überzeugt und haben auch nur Augen und Ohren für sich und nicht für Romeros Warnungen, die genau in diesem Moment kommen und von Habicht natürlich abgewimmelt werden. Der Imagefilm ist ihnen in dieser Situation wichtiger als die Seriosität ihres Blattes, durch diese sich das Blatt eigentlich auszeichnen sollte. Denn der Verkaufserfolg liegt ja eigentlich im Journalismus und nicht im Marketing.

Morenos Gefühl, als Relotius seinen Teil der Reportage „Jaegers Grenze“ aufgrund seines Schreibstils stark kritisierte und ihm ständig Vorwürfe gegen sein Verhalten gemacht wurden, wird in einer weiteren Szene klar. In dieser sitzt Romero wie ein Schüler an einer Schulbank. Vor ihm steht Bogenius, beugt sich wie ein Lehrer zu ihm herab und schimpft ihn für seine Arbeit aus. Die Szene spiegelt wider, wie sich Bogenius als Profi seines Fachs positioniert und Romero als unerfahrener Reporter dargestellt wird, der noch viel zu lernen hat. Moreno ist im Übrigen 13 Jahre älter als Relotius. Laut dem Schauspieler Jonas Nay stand der gesamte Text, den Bogenius aufsagt, hinter ihm auf der Tafel. Nay musste daher für die Szene diesen Text Wort für Wort richtig aufsagen. Es wird das Gefühl eines Aufsatzes erzeugt, den Romero lernen soll. Den Aufsatz und die Wahrheit von Lars Bogenius.

Eine weitere, besonders tiefgehende Metapher zeigt der Film, als sich das Blatt für Bogenius zu wenden droht. Romero stellt sich dabei vor, wie er Bogenius in dessen Wohnung konfrontiert und ihn vor Wut mit dessen Trophäen der Preisverleihungen bewirft. Als Schutz nimmt Bogenius ein Bild von sich selbst bei einer Preisverleihung von der Wand. Eine der Trophäen trifft auf das Bild und das Glas zersplittert. Mit dem Glas beginnt auch seine Fassade zu bröckeln. Romeros Warnungen und Beweise kommen gerade noch rechtzeitig, da sowohl Habicht, Eichner und Bogenius kurz vor einer Beförderung standen. Genau wie ihre Äquivalente im Film, sollten auch Matthias Geyer Blattmacher, Ullrich Fichtner Chefredakteur und Claas Relotius Gesellschaftsressortleiter werden.

Der Journalismus als Opfer und Retter

Der Film entlässt den Zuschauer auf keinen Fall mit einem schlechten Gefühl aus dem Kino, sondern mit der Botschaft, dass der Journalismus betrogen und von Bogenius ausgenutzt wurde, der Journalismus aber gleichzeitig auch in der Lage ist, diesen Fehler zu beheben. Herbig verweist darauf, dass Relotius zwar nicht der erste Betrüger sei, der Fall aber gerade in Zeiten von „Fake News“ eine große Wucht besitze. Der Film gibt außerdem einen Anreiz zum kritischen Hinterfragen von Informationen sowie zu der Erkenntnis, dass die Wahrheit nicht immer in der spannendsten Story zu finden ist. Auch wenn Herbig seinen Film zum Teil als Thriller beschreibt, baut er, gerade wenn man die Vorgeschichte schon kennt, mit seiner dokumentarischen Art nicht genügend Spannung auf, um den Zuschauer vor Adrenalin aus dem Sessel zu heben. Trotzdem ist er aufgrund seiner Metaphern und Metaebenen aber interessant umgesetzt und der Zuschauer kann sich über jedes kleine Detail freuen, das er in Verbindung zum realen Fall finden kann. Auch für Zuschauer, die den Skandal nicht kennen, ist der Film verständlich und regt zum Nachlesen an. Dabei sollte man aber Morenos Worte im Hinterkopf behalten: „Wenn man als Reporter aber eines lernt: Es ist immer grau, nie schwarz oder weiß.“

Text: Anna Lisa Kießlich
Titelbild: Arian Kerkhoff

<h3>Anna Lisa Kießlich</h3>

Anna Lisa Kießlich

Anna Lisa Kießlich ist 22 Jahre alt und studiert derzeit im 5. Semester Medienmanagement an der Hochschule Mittweida. Bei medienMITTWEIDA engagiert sie sich als Redakteurin seit dem Wintersemester 2022/23.