Charli xcx’ Album „Brat“ verbreitete sich diesen Sommer wie ein Lauffeuer. „Brat“ war irgendwie überall und alles war irgendwie „Brat“. Direkt nach Release stieg das Album auf Platz acht der Deutschen Charts, es überrannte als Internetphänomen in Form des „brat summer“ Tiktok und Co. und wurde sogar vom Wörterbuch-Verlag Collins in Großbritannien zum Wort des Jahres gekürt. Der Grund: Musik, die das Genre Pop weit an seine Grenzen bringt und ein Marketing, welches das Internet mehr als nur verstanden hat. Ein Überblick.
Wenn man „Brat“ zusammenfassen möchte, dann ist es mittlerweile mehr als nur ein Album. Es ist ein Lebensgefühl, das, wie Charli xcx selbst in einem Podcast mit der BBC konkretisiert, nicht viel mehr braucht als „a pack of cigs, a Bic lighter and a strappy white top with no bra“. Im Juni 2024 erschien „Brat“ als sechstes Studioalbum der Künstlerin Charli xcx, die in den 2010er-Jahren mit Songs wie „I Love It” mit Icona Pop oder „Fancy” mit Iggy Azalea Berühmtheit erlangte. Neben diesen radiotauglichen Popausflügen geht Charli xcx mit „Brat“ zurück zu ihren musikalischen Anfängen – nämlich zum Sound der Zeit von MySpace und illegalen Warehouse-Raves der späten 2000er.
DIY-Rave-Energy
Um zu verstehen, weshalb „Brat“ so klingt, wie es klingt, muss man verstehen, wo und wann Charlotte Emma Aitchison aka Charli xcx’ Karriere begann. Und zwar vor 17 Jahren auf MySpace.
Im Alter von 15 Jahren veröffentlichte Charli xcx 2008 ihr erstes inoffizielles Debütalbum „14“. Auftritte bei Londoner Warehouse-Raves folgten. Bereits in diesem Album deutete sich an, was 2024 Spotify und TikTok musikalisch überrennen wird. Besonders auffällig ist hierbei der „14“-Opener „!Franchesckaar!“: Mit seiner einfachen, aber experimentellen Struktur, basierend auf dreckig klingenden Drums, Acid Synthie-Sounds und eingängiger Baseline, erinnert der Song überraschend stark an ihre aktuellen Werke. Avantgarde konnte Charli xcx nämlich auch schon damals, als sie in feinster DIY Manier an ihrer ersten musikalischen Auskopplung arbeitete.
Der Song „!Franchesckaar!” skizziert hierbei das Bild einer jungen Frau, die von allen bewundert wird und damit perfekt in das heutige Bild eines „That Girl“ passt. Schon hier setzt sich Charli xcx kritisch mit der Oberflächlichkeit moderner Schönheitsideale auseinander und thematisiert die Faszination der Menschen für Äußerlichkeiten.
Back to „Brat“
17 Jahre, fünf Alben und viele Raves später sind die Themen bei Charli xcx und ihrem neusten Werkzyklus „Brat“ weitgehend ähnlich geblieben. Die Musik ist nach wie vor brachial elektronisch, die Perspektive jedoch zunehmend erwachsener. Es geht um Selbstzweifel, Rivalität unter Frauen, aber natürlich auch um das ironische Portraitieren des „365-party-girl”.
Tracks wie „Van Dutch“, „Mean Girls“ und „Club Classics“ liefern den Soundtrack für wilde Nächte und entfalten das Lebensgefühl eines hedonistischen Partyexzesses. Gleichzeitig zeigen Songs wie „I might say something stupid“ und „Rewind“ die melancholische Seite dieses Lebensstils und fangen das Gefühl von Unsicherheit und Selbstzweifeln ein, das in solchen Nächten auch seinen Platz findet.
„You have to be known, but at the same time unknowable”
Im Musikvideo von „360” sind Charli xcx und weitere „Internet It-Girls” wie Julia Fox, Rachel Sennott oder Hari Nef auf der Suche „a new hot internet girl“ zu finden. Die Kriterien: „You have to be known, but at the same time unknowable.” Dieser Satz beschreibt im Kern auch Charli xcx Standing in der Pop-Industrie. „I’m famous but not quite” heißt es später im Verlauf ihres Albums in „I might say something stupid”. Sie ist bekannt, dennoch ist sie nicht Taylor Swift oder Beyonce und nicht Teil des Vorzeige-Pop-Mainstreams. Der SPIEGEL bezeichnet Charli xcx daher treffender Weise als „coole Außenseiterin des Pop”.
Auch das Albumcover von „Brat“ trägt zu diesem Image bei. Das limettengrüne Cover mit der verschwommenen Typografie bildet nicht unbedingt den Zahn der Zeit in Sachen Ästhetik ab – repräsentativ für den dirty rave Sound ist es trotzdem. Auch Marketingabteilungen greifen dieses Design immer häufiger auf, wie beispielsweise im Wahlkampf der US-Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris. Zeitweise änderte ihr Kampagnen X-Account seinen Banner ins „Brat“ -Design, nachdem Charli xcx „kamala IS brat” auf X postete.
kamala IS brat
— Charli (@charli_xcx) July 22, 2024
#bratsummer
Besonders der Lifestyle der zu einer Brat gehöre, ging in Form des #bratsummer auf Tiktok und Instagram viral. Dazu gehörten unter anderem Postings mit der von der Creatorin Kelley Heyer erfundenen Choreografie zum Song „Apple“, mit dem bratgenerator erstellte Fonts sowie das Embracen des chaotischen Brat-Party-Lifestyles.
In Zeiten, in denen der Clean-Girl-Trend lange Social Media dominierte, ist der #bratsummer ein Gegenentwurf, der zeigt, dass auch verwischter Eyeliner und wochenlang unbeantwortete Mails ebenso seine Daseinsberechtigung haben. Ein Clean-Girls zu sein sein, bestand vor allem darin, fünf Uhr aufzustehen, geschminkt zu sein, aber nach „no makeup“ auszusehen und in Brandy Melville Tops, die mehr als eine Größe S nicht hergeben, den Tag zu bestreiten. Brat ist hier mehr: eine hedonistische Abwechslung, die mehr zulässt als das ständige Repräsentieren eines zutiefst klassistischen und körperfeindlichen Size-Zero-Lifestyles.
Die Gründe für den Erfolg von „Brat“ sind vielseitig – das Marketing war hierfür jedoch entscheidend. Die Kampagne hat das Potential ihrer chronisch online Community erkannt und aktiv genutzt. Durch ein einheitliches Worldbuilding – von der ästhetisch einheitlichen Kulisse bei Konzertvideos der „Sweat“-Tour bis zu Events wie ihrem Boiler Room-Set auf Ibiza – schuf „Brat“ eine eigene, in sich stimmige Welt. Die Deluxe-Version „Brat and it’s the Same but There’s Three More Songs So It’s Not” sowie das Remix-Album „Brat and it’s completely different but also still brat” folgten diesem Erfolg. Auch die Einbindung ihrer Fans durch viele Videos, welche sie mit Credits auf ihren Social Media repostet hat, lud dazu ein, Teil der Welt von „Brat“ zu werden und dem Party-Eskapismus zu folgen.
Nicht alles in #8ACE00 (dem brat-grün) ist Gold
Dennoch ist nicht alles im Zusammenhang mit ihrem Album gänzlich unproblematisch. So kooperierte Charli xcx auch mit der fast-fashion Marke H&M, welche im September eine Charli xcx-Kollektion veröffentlichte. Noch vor einem Jahr dokumentierte die Menschenrechtsorganisation Business and Human Rights Resource Centre (BHRRC) in H&Ms Lieferketten Fälle von willkürlichen Lohnkürzungen, unmenschlichen Arbeitsbedingungen und erzwungenen Überstunden in Bekleidungsfabriken in Myanmar.
Dann gibt es auch noch Zeilen auf dem Album wie „Should we do a little key? Should we have a little line?” auf dem Song „365“, die offensichtlich darauf anspielen, Drogen in Pulverform zu konsumieren. Auch Ausschnitte ihres Boiler Room-Sets auf Ibiza diesen Juli erwecken den Anschein, dass es bei Charli xcx auch anders schneie, wie der Österreicher Falco zu sagen pflegte.
Natürlich könnte man dies jetzt zutiefst anprangern und eine Büchse der Pandora über Moral öffnen, dem Image sowie der Authentizität von „Brat“ zahlt es dennoch ein. Wie Charli xcx einmal selbst in einem Promovideo über die Bedeutung von brat sagte:
„You’re just, like, that girl who is a little messy and likes to party, and, like, maybe says some, like, dumb things sometimes, who, like, feels herself but then also, like, maybe has a breakdown, but kinda, like, parties through it, is very honest, is very blunt, a little bit volatile. Yeah, does, like, dumb things, but, like, it’s brat. You’re brat. That’s brat.“
Das beschreibt natürlich im Kern zum einen sie selbst als Schöpferin von „Brat“, aber viele andere – und um ehrlich zu sein, auch irgendwie mich.
Text, Titelbild: Ottilie Wied