Megaprojekt in Saudi-Arabien

Mehr als nur ein Strich in der Landschaft

von | 19. Januar 2024

Was steckt hinter „The Line“? Ein Blick auf die Licht- und Schattenseiten.

Science-Fiction-Liebhaber kommen beim Trailer zur saudischen Megacity auf ihre Kosten: Was anfangs wie ein Teaser für einen neuen utopischen Kinofilm wirkt, stellt tatsächlich ein Bauvorhaben dar, welches mitten in der Wüste Saudi-Arabiens umgesetzt wird. Neben ambitionierten Plänen für die Zukunft gibt es jedoch auch einige kritische Aspekte zu betrachten.

Ein 170 Kilometer langer Spiegel

Bei „The Line“ handelt es sich um ein Bauprojekt in Saudi-Arabien, welches den Nordwesten des Landes mit dem Roten Meer verbinden soll. Der Name, übersetzt „die Linie“, ist dabei Programm: Das fertiggestellte, komplett verspiegelte Gebäude soll 170 Kilometer lang, 200 Meter breit und 500 Meter hoch sein. Dabei sollen auf einer Fläche von nur 34 Quadratkilometern zukünftig neun Millionen Menschen leben und arbeiten. Das entspricht einer Bevölkerungsdichte von 260.000 Menschen pro Quadratkilometer fast zehnmal so viel wie in New Yorks Stadtteil Manhattan. Für insgesamt 200 Milliarden US-Dollar soll die Stadt mitten in der Wüste erbaut werden. Inbegriffen sind dabei nicht nur Wohn- und Arbeitsplätze, sondern auch eine Vielzahl an Freizeitangeboten wie Schwimmbäder, Freiluftflächen oder ein Stadion. Darüber hinaus soll es eine unterirdische Hochgeschwindigkeitsbahn geben, mit der zukünftige Bewohner beide Enden der Stadt in 20 Minuten erreichen sollen. Die Bauarbeiten für die Megacity haben bereits im Oktober 2022 begonnen und sollen bis zum Jahr 2030 abgeschlossen sein.

Teil eines größeren Plans

Die Wüstenstadt ist zugleich Teil eines übergeordneten Megaprojektes namens „NEOM“. Zusammengesetzt aus dem altgriechischen Wort „neo“ für „neu“ und dem ersten Buchstaben des Wortes „Mustaqbal“, welches man mit „Zukunft“ übersetzen kann, bedeutet „NEOM“ so viel wie „neue Zukunft“. Auf 26.500 Quadratkilometern, einer Fläche fast so groß wie Albanien, sollen neben mehreren Städten beispielsweise auch Urlaubsresorts entstehen. So befindet sich neben „The Line“ bereits „Oxagon“ im Bau, ein automatisierter Hafen im Roten Meer in Form eines Achtecks. Im Zentrum der Region findet man des weiteren „Trojena“, ein Resort für Winter- und Outdoorsportler, welches 2026 eröffnet werden soll. Außerdem soll das Berggebiet als Gastgeber der asiatischen Winterspiele im Jahr 2029 dienen. Das letzte der vier bisher bekannten Projekte heißt „Sindalah“: Neben drei Luxushotels werden auf dem Inselresort im Roten Meer unter anderem auch 86 Anlegeplätze für Yachten zu finden sein. Das Schweizer Nachrichtenportal Watson gibt mithilfe einer Karte einen guten Überblick zur geografischen Lage der einzelnen Projekte. Für all diese Vorhaben ist bisher ein Budget von 500 Milliarden US-Dollar angesetzt.

Die Person hinter dem Megaprojekt ist Mohammed bin Salman, der saudische Kronprinz. Bereits im Jahr 2017 wurde „NEOM“ durch ihn ins Leben gerufen. Das Bauvorhaben, welches zum Großteil aus dem Staatsfond Saudi-Arabiens finanziert wird, ist Teil seiner „Vision 2030“. Der de facto Machthaber verfolgt mit dieser Initiative das Ziel, das Land aus seiner Abhängigkeit vom Erdöl zu lösen und es im wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Sinn diverser zu gestalten.

„The Line“ als Vorreiter für die Zukunft des Städtebaus

Das Bauvorhaben „The Line“ ist das erste seiner Art und bringt dementsprechend Potenzial mit sich. So liegt der Fokus des Projektes darauf, den Städtebau nachhaltig zu verändern. Ein Grundgedanke wurde durch das Konzept der „15-Minuten-Stadt“ inspiriert. Statt der langen Pendelei auf vier Rädern soll es den Bewohnern der Megacity möglich sein, alle zentralen Einrichtungen des alltäglichen Lebens, wie Schulen oder Supermärkte, mit einem fünfminütigen Fußweg zu erreichen. Diese Strategie soll sich positiv auf die Lebensqualität auswirken, indem Emissionen verringert, Pendelzeiten gesenkt und das allgemeine Wohlbefinden erhöht wird. Erweist sich dieses Konzept in „The Line“ als Erfolg, könnte das einen nachhaltigen Eindruck auf den Städtebau der Zukunft hinterlassen.

Des Weiteren bemüht sich die Wüstenstadt um einen möglichst kleinen ökologischen Fußabdruck. Der gesamte Gebäudekomplex soll ausschließlich mit erneuerbaren Energien, also Solar- und Windkraft sowie Wasserstoff, betrieben werden. Im Einklang mit dem Konzept der „15-Minuten-Stadt“ wird es in „The Line“ keine Autos und keine Straßen geben. So war allein in Deutschland 2021 der Straßenverkehr für knapp ein Fünftel der Gesamtemissionen verantwortlich. Mit der Eliminierung dieser Infrastruktur fällt demnach ein großer Teil an Kohlenstoffdioxid weg. Dies könnte sich positiv auf den Gesamthaushalt der Stadt auswirken und demnach zum internationalen Vorbild für andere Großstädte werden. Auch in der Architektur wird auf nachhaltige Bauelemente und Physik gesetzt: Mit einem offenen Dach und dem Nutzen des sogenannten „Kamineffekts“ soll beispielsweise eine natürliche Belüftung erzielt werden. Aufgrund der Höhe des Blockes steigt die warme Luft nach oben und entkommt über das offene Dach. Dadurch steigt der Luftdruck in den höher gelegenen Gebäudeabschnitten, weshalb kältere Luft in die tieferen Etagen gelangt.

Durch die Integration neuester Technologien will „The Line“ außerdem den weltweiten technischen Fortschritt vorantreiben. Der Alltag der Menschen soll, laut der hauseigenen Webseite, durch künstliche Intelligenz vereinfacht werden. Auch Drohnen, welche als Paketzusteller dienen, sind im Trailer zur Wüstenstadt zu sehen. Mitten in der Wüste Saudi-Arabiens soll so, auch durch das Anwerben weltweit etablierter Konzerne, ein „Zentrum für Innovation“ entstehen, welches frischen Wind in die weltweite Forschung bringen soll.

Kontroversen um Menschenrechte, Umwelt und Mobilität

Dennoch gibt es auch Bedenken in Bezug auf die Megacity „The Line“. Gerade die Menschenrechtslage in Saudi-Arabien steht hierbei im Fokus. So stellt die Region, in welcher der Gebäudekomplex errichtet wird, das Zuhause des Stammes Howeitat dar. Um das Bauvorhaben wie geplant durchzusetzen, erfolgten Zwangsräumungen, bei denen schätzungsweise 20.000 Personen ihre Heimat verlassen mussten. Ein Stammesmitglied, Abdul Rahim al-Huwaiti, stellte im April 2020 Videos dieser Räumungen ins Internet, um Kritik an dem Vorgehen zu üben. Berichten zufolge wurde er am nächsten Morgen durch saudische Sicherheitskräfte getötet. Die Menschenrechtsorganisation ALQST zählt des weiteren mindestens 47 Verhaftungen von Stammesmitgliedern, weil sie sich gegen die Vertreibung gewehrt haben. Dabei wurden geringstenfalls fünf dieser Menschen zu Tode verurteilt. Als Folge dieser Entwicklungen zogen sich zahlreiche Architekturbüros von dem Bauvorhaben zurück.

Weiterhin stellen Kritiker die tatsächliche Nachhaltigkeit des Projektes in Frage. Das Ziel von „The Line“ ist es, klimaneutral zu sein. Für das 170 Kilometer lange Gebäude werden jedoch große Mengen an Baumaterialien, wie beispielsweise Beton, benötigt. Dieser besteht zu einem Großteil aus Zement – und die Zementherstellung zählt zu einem der emissionsstärksten Prozesse der Erde. So entstehen acht Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen allein durch die Produktion dieses Stoffes. Experten schätzen, dass durch den Bau von „The Line“ ungefähr 1,8 Milliarden Tonnen an Kohlenstoffdioxid entstehen. Für sie ist es daher fraglich, ob diese Menge an Emissionen durch etwaige andere umweltschützende Maßnahmen aufgewogen werden kann.

Eine Studie aus Wien, welche im Juni 2023 veröffentlicht wurde, kritisiert zudem das Mobilitätskonzept hinter „The Line“. So führe laut den Forschern der linienartige Aufbau dazu, dass zwei Menschen im Durchschnitt 57 Kilometer voneinander entfernt leben. Um für alle Einwohner gleichermaßen erreichbar zu sein, müssten laut den Berechnungen der Studie 86 Stationen für die Hochgeschwindigkeitsbahn in der Stadt verteilt werden. Eine Vielzahl der Einwohner wäre so – statt den beworbenen 20 Minuten – zwischen zwei Standorten durchschnittlich 60 Minuten unterwegs.

Blick in die Zukunft

Inwiefern das Megaprojekt tatsächlich wie geplant umgesetzt wird, wird sich in den kommenden Jahren zeigen – auf den neuesten Satellitenbildern ist in jedem Fall ein Baufortschritt zu sehen. Insgesamt betrachtet liefert das unkonventionelle Konzept von „The Line“ eine Vielzahl an Ansätzen, welche den Städtebau der Zukunft nachhaltig verändern könnten. Dennoch bringt es auch Kontroversen mit sich. Es bleibt abzuwarten, wie diese Herausforderungen im Verlauf des Projekts bewältigt werden und welchen Einfluss sie letztendlich auf die Umsetzung und den Erfolg von „The Line“ haben werden.

Text: Antonia Bentlin, Titelbild: Antonia Bentlin via Adobe Firefly
<h3>Antonia Bentlin</h3>

Antonia Bentlin

ist 22 Jahre alt und studiert derzeit im 5. Semester Medienmanagement an der Hochschule Mittweida. Seit dem Wintersemester 2023/2024 engagiert sie sich als Mitglied im Lektorat bei medienMITTWEIDA.