Prostituiert in Deutschland

(Un)freiwillig anschaffen

von | 20. Mai 2022

Einfach, billig, schnell. Gekauften Sex gibt es 24/7 an jeder Ecke in Deutschland. Eine Welt bestimmt durch Drogen, Gewalt und Macht. Doch wie wird man eigentlich zu einer Prostituierten?

Im Jahr 2020 waren knapp 25 Tausend Prostituierte offiziell angemeldet. Die Dunkelziffer soll eine Million betragen. Auch die Ex-Prostituierte Sophie Hoppenstedt gehörte einst zu den Frauen, die Geld gegen Sex nahm. Heute ist sie 27 Jahre alt, studiert Psychologie und ist Buchautorin. medienMITTWEIDA spricht mit ihr über ihre vergangenen Erlebnisse als Prostituierte in Deutschland.

Sophie, du bist in die Prostitution in einem Alter eingestiegen, in dem deine Klassenkameraden noch Pokémon-Karten tauschten. Wie kam es so früh dazu?

Sophie: Durch das Internet. Durch eine schwierige Kindheit ohne Vaterfigur, aber mit frühkindliche Missbrauchserfahrungen hatte ich ein komisches Bild von Männern. Zu Beginn meiner Pubertät hatte ich bereits ein komisches Sexualverhalten. Mit dem Alter von zwölf Jahren traf ich mich dann mit Männern mittels der Internet Community Chatplattform Knuddels.

Das erste Angebot war Sex für hundert Euro und ich dachte mir:  Ja, warum nicht?

 

Während dieser Zeit erlebte ich viele Gewaltübergriffe, mit vierzehn einen besonders brutalen.

Zahlreiche Studien belegen, dass der Einstieg in die Prostitution oft die Folge von frühkindliche Missbrauchserfahrungen sind. Praktisch als Wiederholung erlebter Traumata. War dein Einstieg in die Prostitution freiwillig?

Sophie: Theoretisch war es freiwillig. Ich wurde nicht gezwungen. Man hat mir keine Knarre an den Kopf gesetzt. Trotzdem war ich erst minderjährig, bei meinem ersten Vertrag gerade achtzehn. Ich war aus der Jugendhilfe geflogen und in einem Methadon Entzugsprogramm. Ich war unzurechnungsfähig und habe das Ausmaß des Ganzen überhaupt nicht überblicken können. Die Missbrauchserfahrung hat sich dann in der Prostitution fortgesetzt. Männer treffen und ausgenutzt werden, war etwas Vertrautes. Ich denke, wenn ich das nicht schon gekannt hätte, hätte ich mich nicht prostituiert.

Du sagst, dass der Job nicht normal ist, aber einen primären Nutzen hat. Geld. Welche Rolle spielt Geld und für was hast du es ausgegeben?

Sophie: In den ersten fünf Tagen verdiente ich 3500 Euro und war begeistert. Ein Stundenlohn von 150 Euro gibt einem Spielraum für Botox, Kleidung und einen Haufen Drogen. Die meiste Frauen in der Prostitution konsumieren immer irgendwas. Vor allem Alkohol, THC, Kokain, Anti-Depressiva, Bezodiazepine aber auch Härteres. Um mich zu betäuben, habe ich mehrere Tausend Euro in der Woche für Drogen Rausche ausgegeben.

Kunden-Vorstellung vs. Realität: Welche Männer kaufen sich Sex?

Sophie: Wirklich alles. Die meisten sind zwischen 40 und 60 und oft verheiratet. Im Laufhaus kommt asozialere Kundschaft, überwiegend die untere Mittelschicht. Migranten, Handwerker und vereinzelt Oberschicht, aber das ist offensichtliche Sexabfertigung. Beim Escort ist alles fluider. Alles ist all-inclusive im Preis. Der Freier aus der oberen Mittelschicht oder Oberschicht wird getreu des Girlfriend Experience (GFE) angehimmelt, nicht abgefertigt.

Girlfriend Experience:

Die “feste” Freundin Erfahrung ist ein Serviceangebot einer weiblichen Prostituierten, die während der Zeit mit dem Freier so tut, als ob sie seine Freundin sei. GFE beinhaltet in der Regel Sex,  französisch küssen, umarmen, reden, ausgehen und gemeinsame Mahlzeiten essen.

 

Besonders eklig fand ich, dass viele Freier Töchter in meinem Alter hatten. Aussagen wie: “Für dein Alter bist du so reif und klug, meine Tochter ist 25, das hätte ich echt nicht gedacht”.  Mein Chef hat mich dann oft für 21 verkauft. 18 war einigen zu krass. Trotzdem kamen sie wieder. Viele fanden es aber auch toll.

Prostitution bedeutet Tag für Tag neue Kunden. Wie ist der Umgang mit diesen Fremden, mit denen man Sex haben soll?

Sophie: Es gibt angenehmere Männer und es gibt die unangenehmen. Es ist anstrengend, das ganze auszuhalten. Es geht nie um einen selbst, das was einem selber gefällt. Manche Freier fragen nach den eigenen Vorlieben. Ich habe mir aber ja trotzdem den Typ nicht ausgesucht und damit ja auch nicht die Handlungen.

Man muss den ganzen Tag eklige Typen aushalten.

 

Sich 100 Prozent auf den Freier einstellen, und scheinheilige Emotionen schauspielern und beteuern, was für ein toller Hecht er ist.

Bei solchen Praktiken stellt man sich die Frage: Spielt eigentlich geschützter Sex eine große Rolle im Milieu?

Sophie: Ja, auf jeden Fall. Viele Freier versuchen es zu umgehen. Sie versuchen absichtlich so fest zu stoßen, dass das Kondom kaputt geht. Einigen ist ihre Gesundheit wichtig. Ich habe aber immer penibel darauf geachtet.

Du sagst, Freier kommen aus allen gesellschaftlichen Schichten. Aus welchen Beweggründen kommen denn die Männer zu Prostituierten?

Sophie: Der Mythos hält sich schon lange, dass Männer oft aus Redebedarf zu Prostituierten gehen. Das ist aber nicht so. Verheiratete Männer kommen oft nach der Geburt eines Kindes, weil die Frau für sie an Attraktivität verloren hat.

Sie teilen ein in Heilige und Huren. Die Heiligen belästigt man nicht mit perversen Wünschen, sie werden in Ruhe gelassen und verehrt.

 

Jene Wünsche fertigen lieber die gesichts- und persönlichkeitslosen Prostituierten ab. Nach dem Prinzip: Wenn ich bezahle, bekomme ich alles, was ich will. Ich kann achtlos, bequem wie im Katalog aussuchen und damit machen was ich will und werde nicht enttäuscht.

Du trafst dich als Teenager privat mit Männern. Als Volljährige hast du dann für vier Jahre als Escort im Laufhaus und Bordell gearbeitet. Hat dir die Prostitution in den zehn Jahren auch mal gefallen?

Sophie: Jein, eigentlich nicht. Ich denke, es ist mehr ein Verhaltensmuster als eine Arbeit. Privat hatte ich Kontakt zu älteren Männer die altersmäßig mein Vater hätten sein können. Sie wollten Sex, ich Zuneigung, Liebe und Aufmerksamkeit. Das war ähnlich wie väterlicher Kontakt. Das ist natürlich krank, da Freier keine Väter sind, aber die Komplimente und Lebensweisheiten haben insofern ein Defizit gefüllt. Die emotionale und finanzielle Bestätigung haben mich fühlen und denken lassen, dass ich die Allertollste, Bestarbeitenste und Schönste in diesem Universum sei. Das hat mir etwas gegeben.

Prostitution ist traumatisierend, aber es gibt einen primären Nutzen dieser Tätigkeit. Geld und Zuwendung. Und den hatte ich auch. Spaß gemacht hat es mir aber nicht. Ich hatte extreme Widerstände gegen die Arbeit. Ich musste mich extrem stark betäuben und belohnen. Alles Geld habe ich sofort ausgegeben, um mir vorzugaukeln, dass ich etwas Sinnvolles und Wertvolles tue.

Gibt es konkrete Erlebnisse, die dir besonders negativ in Gedanken geblieben sind?

Sophie: Männer nackt sehen, die man nicht nackt sehen will. Ungewaschene Menschen mit allen möglichen Gerüchen und Körperflüssigkeiten. Auch Fantasien, die die Freier haben, das ist absoluter Ekel. Wo man sich denkt: Du hast sie nicht mehr alle.

Viele Freier wollen auch einfach nur angekackt werden.

 

Ein Freier bot mir 70 Tausend Euro, wenn ich ihn drei Monate einsperren und ihn mit meiner Kacke füttern würde. Nach kurzer hypothetischer Überlegung fiel mir auf, dass er dabei sterben könnte. Ein anderer wollte, dass ich ihm meinen High-Heel-Absatz in seinen Oberschenkel bohre, sodass er stecken bleibt. Er hat dann aus Schmerz angefangen stark nach säuerlich beißenden Stressschweiß zu stinken. Das war so abartig und widerwärtig. Man verbindet so viele Erlebnisse mit Gerüchen. Ich habe Geruchshalluzination mit Erinnerungsflashbacks, dann empfinde ich unaushaltbaren Ekel und denke die Welt bricht zusammen.

Die Prostitution wird als Bereitstellung sexueller Dienstleitungen gegen Entgeld definiert. Ist diese Arbeit mit anderen Dienstleistungen, wie zum Beispiel einer Friseurin zu vergleichen?

Sophie: Nein, auf keinen Fall. Es ist einfach kein normaler Job. Für eine “normale” Arbeit geht es zu stark an die Substanz. Eine ähnlich hohe Wahrscheinlichkeit mit einer posttraumatischen Belastungsstörung aus einem Beruf zu gehen, gibt es neben der Prostitution nur bei Soldaten die im Krieg waren. Als Prostituierte steht man einzig und alleine mit seinen Körperöffnungen zur sexuellen Befriedigung des Mannes zur Verfügung.

Dich hat die Prostitution traumatisiert. Kennst du Frauen, die als Prostituierte glücklich und zufrieden sind?

Sophie: Nein. Ich habe eine Freundin, die noch drinnen ist. Sie macht das aus finanziellen Gründen. Sie möchte künstlerisch groß rauskommen und braucht teure Technik. Deshalb ist sie weiterhin Prostituierte im Escort und Edelpuff. Sie sagt, sie hat sich irgendwie damit zurecht gefunden, trotzdem findet sie es scheiße und es belastet sie. Ich denke, die statistischen fünf Prozent selbstbestimmte Prostituierte, die das gerne machen, sind Dominas, die keinen Sex mit den Freiern haben.

Nach zehn Jahren im Geschäft hast du beschlossen auszusteigen. Wie gestaltete sich dein Weg aus der Prostitution?

Sophie: Im Jahr 2015 habe ich versucht, mich umzubringen. Danach bin ich religiös geworden. Trotzdem prostituierte ich mich für ein weiteres Jahr. Während eines Gebets mit einem Fremden, machte er mir bewusst, dass Missbrauch nie enden würde, wenn ich mich weiter prostituieren würde.

Meine persönlich errichtete Wand zwischen mir und der Welt brach zusammen und ich realisierte, wie massiv ich tatsächlich gelitten hatte.

 

Nachts mehrere Gramm Drogen, tagsüber wie betäubt als Bleiklumpen im Bett. Es gab keinen rationalen Grund auszusteigen, aber rationale Gründe, nicht mehr weiterzumachen.

Wie hast du dann den Ausstieg geschafft und was hat sich damit verändert ?

Sophie: Direkt nach dem Gebet rief ich meine Chefin an, dass ich ab jetzt nicht mehr dort arbeite. Sie ist komplett ausgerastet, aber mein Entschluss blieb. Mein psychischer Zustand verbesserte sich drastisch, ich baute mir eine geordnete Tagesstruktur und ein stabiles Umfeld auf.

Ich hatte richtige Aversionen gegen Männer und habe mich von ihnen geschändet gefühlt.

 

Ich hatte weiterhin das Gefühl, angebaggert zu werden. Als Gegenmaßnahme bin ich ungeschminkt, mit fettigen Haaren und Jogginghose auf die Straße gegangen. Das hat nicht funktioniert. Dann habe ich gemerkt: Okay, vielleicht muss ich mal normal werden. Ich baute mir ein stabiles Umfeld auf und holte mein Abitur nach. Heute studiere ich Psychologie und bin Stipendiatin.

Text: Alicia Rabe Titelbild: Alicia Rabe
<h3>Alicia Rabe</h3>

Alicia Rabe

ist 21 Jahre alt und studiert derzeit im vierten Semester Medienmanagement an der Hochschule Mittweida. Bei medienMITTWEIDA engagiert sie sich als Redakteurin seit dem Wintersemester 2022.