Nachhaltigkeit

Die Welt retten durch Urban Gardening?

von | 2. Dezember 2022

Urban Gardening wird trendy. Aber inwieweit macht das gemeinsame Gärtnern in der Stadt unsere Welt wieder gesund?

Ich bin angekommen. Mitten in der Stadt. Aber doch ist es hier so ruhig und grün. Die Vögel zwitschern. Ich fühle mich, als wäre ich mitten in der Natur – weit weg von dem Großstadtlärm und den Autoabgasen. Dafür, dass ich in einer Großstadt bin, fühle ich mich plötzlich so gelassen und ruhig. Ich befinde mich in einem urbanen Garten.

Was ist Urban Gardening?

Urban Gardening ist privates oder gemeinschaftliches Gärtnern auf kleinen Flächen mitten in der Stadt oder auf dem eigenen Balkon. Der Fokus liegt auf nützlicher Tätigkeit, umweltschonender Produktion und bewusstem Konsum der landwirtschaftlichen Erzeugnisse. Dabei können die Menschen nicht nur Naturerfahrungen in der Stadt sammeln, sondern auch selbst aktiv werden. Außerdem kann Urban Gardening das städtische Gemeinschaftsleben verbessern sowie Stadtteile verschönern. Durch das gemeinsame Gärtnern wird der kommunikative Austausch angeregt. Das gärtnerische Engagement in der Stadt wird oft auch als Mittel der Selbstbestimmung und Integration sowie des politischen Protests angesehen.

 

Die Ursprünge von Urban Gardening

Wie die modern klingende englische Bezeichnung “Urban Gardening” zu glauben vermag, ist der Anbau von Pflanzen in Städten gar keine so neue Entwicklung. Man kann sogar von einer Rückkehr der Gärten in die Stadt reden, denn schon im Mittelalter gab es sogenannte Selbstversorgergärten. Diese wurden im Laufe der Zeit aufgrund von Stadterweiterungen und Bebauungsverdichtungen verdrängt. Eine Brachfläche, also eine temporär aus der wirtschaftlichen Nutzung entnommene Fläche,  wurde unter naturschutzfachlichen Kriterien meist besser bewertet als landwirtschaftlich genutzte Flächen. Selbstbegrünungsflächen waren also der Grund, dass die Nutzung dieser Flächen für Obstanbau ins Wasser fiel.

In den 1970er Jahren in New York kam die Urban Gardening Bewegung dann neu auf. Hierbei wurden die Brachflächen durch Gartenaktivist*innen besetzt, um so auf die Armut und die soziale Verwahrlosung aufmerksam zu machen. Am bekanntesten sind die in den 1990er-Jahren entstandenen „Interkulturellen Gärten“, von denen es derzeit 110 in 14 Bundesländern gibt. In Deutschland wurde 2009 dann einer der bekanntesten urbanen Gärten eröffnet. Damit ist der Prinzessinnengarten in Berlin gemeint.

„Urban Gardening ist ein Phänomen vieler Städte weltweit. Vorreiter waren hier meist Städte in Nordamerika. Ob Singapur, Tokio oder Amsterdam – überall gibt es Gartenprojekte”, so Florian Demling, Projektbearbeiter der Urban Gardening Demonstrationsgärten Bayern in einem schriftlichen Interview mit medienMITTWEIDA. „Da hier aber vor allem die lokale Produktion im Vordergrund steht, gibt es meist nur wenig Austausch auf internationaler Ebene, außer auf wissenschaftlichen Kongressen.“

Gesellschaftlicher Zusammenhalt

Bei Urban Gardening Projekten zählt auch der sozialgesellschaftliche Aspekt.  „Learning by doing“ wird zu „learning by digging“. Bei den Projekten sind die Mitglieder keine professionellen Gärtner*innen, sondern „unprofessionelle“ Personen jeden Alters und Geschlechts, die voneinander und miteinander lernen wollen. Die Bürger*innen werden durch die Projekte unter anderem auf die Bedeutung von Biodiversität und Nachhaltigkeit aufmerksam gemacht. Florian Demling schreibt medienMITTWEIDA: „Bei Workshops und Führungen kommunizieren wir natürlich verstärkt nachhaltige Formen des Gärtnerns, wie zum Beispiel den Einsatz von torffreien Substraten.“

Gemeinsam, statt jeder für sich, heißt es. Im Gegensatz zu Kleingartenvereinen wird die Umgebung direkt mit einbezogen und es findet keine Abschottung statt. Im Idealfall gelingt es diesen Gärten, Gemeinschaften dort zu schaffen, wo es vorher keine gab.

 Nicht nur für gesellschaftliche Zwecke helfen die Gärten, auch für jeden einzelnen haben sie Vorteile. Die Ökologin Dr. MaryCarol Hunter sagt der pharmazeutischen Zeitung in einem Interview: „Wir wissen bereits, dass es Stress reduziert, wenn man Zeit in der Natur verbringt.” Für viele „Großstädter” ist das oftmals schwierig, denn der nächste Wald ist meist Kilometer entfernt und somit nicht schnell besucht. Die Gärten bieten hier die Räume, sich in der Natur mitten in der Großstadt zu bewegen, ohne lange Fahrten bis in den nächsten Wald.

Die Wissenschaftler*innen der Universität Michigan hatten einer Gruppe von 36 Freiwilligen eine regelmäßige „Naturpille” verordnet: Die Verschreibung der “Naturpille” beinhaltet mindestens drei Spaziergänge pro Woche mit einer Dauer von zehn Minuten oder mehr. Im Verlauf eines Experiments wurden die Cortisol-Werte der Teilnehmer*innen durch Analyse einer Speichelprobe bestimmt.

Cortisol

Cortisol wird auch als Stresshormon bezeichnet. Es wird in der Nebennierenrinde hergestellt und in der Leber abgebaut. Cortisol sorgt dafür, dass wir nicht zu schnell erschöpft sind. Bei chronischem Stress oder privaten Problemen dreht sich der positive Effekt von Cortisol um. Ein zu hoher Cortisol-Spiegel wird oftmals mit Schlafstörungen, Angstzuständen und Stimmungsschwankungen in Verbindung gebracht.

„Sie sollten das Experiment „Naturpille“ bei Tageslicht durchführen, keine sportlichen Übungen machen und Social Media, das Internet, Telefonanrufe, Unterhaltungen und Lesen vermeiden“, erklärt Hunter. Nach dem Experiment ist klar, dass schon 20–30 Minuten in der Natur ausreichen, um effektiv den Cortisol-Spiegel im Körper zu senken. „Ärzte könnten unsere Ergebnisse als Faustregel dafür verwenden, was in der Verschreibung einer „Naturpille“ enthalten sein muss”, fasst Hunter zusammen.

Der Aspekt der Nachhaltigkeit

Gesunde, junge Bäume, Schmetterlinge und hochgewachsene Pflanzen. Hier beim Urban Gardening Projekt wird gegossen, gepflegt und gequatscht. Wachstum, wohin ich schaue. Doch nur auf dieser Fläche … Ich gehe raus. Überall Leute in der Stadt, aber niemand gießt oder pflegt. Ich sehe keine Leute miteinander reden, sondern nur mit ihren Smartphones. Ich schaue mir auf meinem Heimweg die Bäume hier an. Die meisten Bäume hier sind tot. Die Pflanzen vertrocknet und überall nur Parkplätze statt Pflanzflächen.

„Meist werden die Gärten als Aufwertung des Geländes oder des Standortes gesehen.“, so Herr Demling. „Eine besondere Ausprägung zur Nachhaltigkeit konnten wir noch nicht erfassen.“ Nachhaltigkeit betrifft zwar alle Betrachtungsebenen lokal, regional, national oder global, jedoch wird hinsichtlich der ökologischen Perspektive zunehmend ein globaler Ansatz verfolgt. In puncto wirtschaftlicher und sozialer Nachhaltigkeit steht oft der nationale, wenn nicht sogar regionale und lokale Blickwinkel im Vordergrund. Das Ziel der Gärten ist es, durch praktisches Handeln die Diskussionen über Themen der ökologischen Landwirtschaft anzuregen, auf den nachhaltigen Umgang mit Ressourcen und den Umweltschutz aufmerksam zu machen und das Wissen zu erweitern. Ein weiteres Ziel solcher Projekte ist, die Vielfalt der Pflanzen und die Biodiversität zu erhalten und auszubauen. Schätzungen zufolge sind innerhalb der letzten 100 Jahre weltweit 75 Prozent der genetischen Vielfalt bei Kulturpflanzen verloren gegangen.

Ansehen von Urban Gardening in der Politik

Bei den Urban Gardening Projekten werden Herausforderungen aus der heutigen Zeit aufgegriffen. Es fängt schon bei dem Mangel an Grün- und Freiflächen an, geht über die Sortenarmut in den Supermärkten bis hin zum Klimawandel. Auch für die kommunale Stadtplanung ist das Urban Gardening eine Herausforderung, da die Planungssicherheit mit längeren Verträgen noch nicht gegeben ist. Aufgrund dessen, dass die Stadt die Pachtverträge für die Urban Gardening Flächen immer nur um ein Jahr verlängert, setzen die meisten Projektmitarbeitenden die Pflanzen in transportable Behältnisse, um so notfalls umziehen zu können. Aber Urban Gardening bringt im politischen Sinne nicht nur Herausforderungen mit sich. Durch das Do-It-Yourself Vorgehen sind die urbanen Gärten auch Lern- und Lehrräume, die das Umfeld für alle verändern.

Problemabwälzung auf Individuen?

Doch auch wenn Urban Gardening politisch ist, kommt von den Politiker*innen nicht viel. Sie reagieren mit Verweis auf die Macht der Verbraucher*innen. Wie das Onlinemagazin Zeitjung berichtet, wird durch Urban Gardening ein Grundbedürfnis ausgedrückt, welches die Politik in den vergangenen Jahrzehnten ignoriert hat. Es kann als stummer politischer Akt gesehen werden, um die Politik und die Gesellschaft im Gesamten zu einem Umdenken zu zwingen. Noch ist jedoch nicht bekannt , ob und in welchem Maße das Urban Gardening eine unmittelbare Wirkung hat. Die Projekte stehen und fallen mit denen, die sich kümmern. Es lässt sich kaum überprüfen, inwieweit die Nutzflächen das Problem der Klimakrise verringern. Entscheidend ist die ökopädagogische Arbeit, die sich indirekt auf die Vielfalt auswirkt.

Urban Gardening erhebt nicht den Anspruch, im Großen zu verändern. Bei den Projekten geht es darum, im lokalen, bei sich selbst und seinem Umfeld anzufangen. In Zukunft auch mit mehr Unterstützung der Politik.

Text: Karolin Nemitz Titelbild: Melissa Berthold
<h3>Karolin Nemitz</h3>

Karolin Nemitz

ist 20 Jahre alt und studiert derzeit im 5.ten Semester Medienmanagement an der Hochschule Mittweida. Bei medienMITTWEIDA engagiert sie sich als Leitung des Lektorats seit dem Wintersemester 2022.