Von öffentlichen Toiletten über Bekleidungsgeschäfte bis hin zu Sportvereinen, das gesellschaftliche Leben ist durch eine fast allgegenwärtige Zweiseitigkeit geprägt: Mann und Frau. Von klein auf bekommen Kinder von Erziehungsberechtigten, ihrem sozialen Umfeld, Lehrkräften und Medien diese binäre Weltanschauung vermittelt. Und auch wenn das Bewusstsein für trans und nicht-binäre Personen immer weiter in die Mitte der Gesellschaft rückt, beschränkt sich dieses oftmals nur auf die soziale Geschlechtsidentität. Diese beschreibt, welchem Geschlecht sich eine Person zugehörig fühlt und kann vom zur Geburt zugewiesenen Geschlecht abweichen. Außen vor gelassen wird oftmals das biologische Geschlecht. So lernen Kinder in der Schule noch immer ein fast unumstößliches Bild von männlich und weiblich. Doch, dass es sich auch beim biologischen Geschlecht um ein Spektrum handelt, wird dabei meist völlig ausgeblendet.
Das bekannte Geschlechtermodell
Allgemein ist bekannt, dass die Spermien nach einem Wettrennen durch die Gebärmutter auf die Eizelle treffen. Nur die Schnellste kann mit dieser verschmelzen. Beide Zellen enthalten jeweils einen halben Satz Chromosomen. Diese beinhalten Pakete komprimierter DNA. Unter den je 23 Chromosomen findet sich jeweils ein Geschlechtschromosom. Dieses ist entweder ein X- oder ein Y-Chromosom, wobei ersteres die Erbanlagen für das weibliche und letzteres die des männlichen Geschlechts enthält. Daraus entstehen zumeist zwei Kombinationen – XX und XY.
Der Embryo entwickelt zunächst rudimentäre Formen aller Geschlechtsorgane. In der sechsten Schwangerschaftswoche werden die Gene auf den Geschlechtschromosomen aktiv und starten somit die gonadale Geschlechtsentwicklung. Hierbei bestimmen die jeweiligen Gene, welche Geschlechtsorgane sich entwickeln und welche sich zurückbilden. So bilden sich bei Menschen mit einem X- und einem Y-Chromosom typischerweise die Hoden. Diese produzieren dann Hormone, welche die Entwicklung der typisch männlichen Geschlechtsorgane fördern und dafür sorgen, dass die Anlagen, für zum Beispiel den Uterus, zurückgebildet werden. Spätestens bei der Geburt kann dann das biologische Geschlecht des Kindes eindeutig anhand der sichtbaren Geschlechtsorgane bestimmt werden.
Dass dies allerdings nicht immer der Fall ist, zeigen Menschen mit Abweichungen in der geschlechtlichen Entwicklung, bekannt als inter Personen. In der Wissenschaft und Medizin gab es in den letzten Jahren immer wieder Debatten um die Begrifflichkeiten, da Betroffene sich nicht immer mit einem diversen Geschlecht, sondern als Mann oder Frau identifizieren. Somit ist man dazu übergegangen, dieses Spektrum an Menschen mit der englischen Abkürzung DSD (Differences in Sexual Development) zu bezeichnen. Doch dieser Begriff ist unter Betroffenen ebenfalls umstritten. Laut einer Stellungnahme der Bundesärztekammer fühlen sich Menschen dieses Spektrums zu Unrecht als krankhaft darstellen.
Es sind keine Einzelfälle
2017 schätzte das Bundesverfassungsgericht die Zahl von inter Personen, die in Deutschland leben, auf 160.000. Laut der Bundesärztekammer kommen bei uns im Jahr etwa 150 Kinder auf die Welt, die in das DSD-Spektrum zu verordnen sind. Da vielerorts, auch in Deutschland, Ärzte und Eltern DSD lange Zeit vor den Betroffenen geheim hielten und manche Formen erst im Erwachsenenalter festgestellt werden, ist nicht genau klar, wie viele Personen weltweit in dieses Spektrum fallen. Schätzungen zufolge weisen 1,7 Prozent der Lebendgeburten Abweichungen in der geschlechtlichen Entwicklung auf. Das mag zunächst wenig klingen, würden jedoch all diese Menschen in einem Land leben, hätte dieses mehr als die anderthalbfache Bevölkerung Deutschlands und wäre auf Platz neun der bevölkerungsreichsten Länder der Welt.
Formen der DSD
In der Heranreifung eines Menschen kann es an mehreren Punkten zu Variationen der Geschlechtsentwicklung kommen. So entstehen bei der Verschmelzung der Ei- und Samenzelle nicht immer eindeutige Paarungen aus X- und Y-Chromosomen. Durch untypische Zellteilungen kann es dazu kommen, dass Personen mehr oder weniger Geschlechtschromosomen haben. Beispielsweise können Menschen drei statt zwei X-Chromosomen besitzen. Diese weisen oft einen schlanken Körperbau auf und haben manchmal leichte Lernbeeinträchtigungen. Menschen mit einem X- und zwei Y-Chromosomen hingegen produzieren meist mehr Testosteron als üblich und leiden daher unter stärkere Akne. Menschen mit dem Ullrich-Turner-Syndrom hingegen haben lediglich ein X-Chromosom. Sie werden meist als weiblich wahrgenommen und machen keine wirkliche Pubertät durch. Zudem sind sie unfruchtbar. Die häufigste chromosomale DSD ist das Klinefelter-Syndrom. Es zeichnet sich durch zwei X- und ein Y-Chromosom aus. Personen mit dem Klinefelter-Syndrom produzieren meist weniger Testosteron und haben weniger ausgeprägte Hoden. Allerdings können besonders hier die Symptome so gering ausfallen, dass eine Diagnose oftmals nur ein Zufallsbefund einer späteren Untersuchung sein kann.
Verteilung der X- und Y-Chromosomen bei vier verschiedenen chromosomalen Varianten der Geschlechtsentwicklung. Bild: Arian Kerkhoff
Doch auch wenn es zu einer Paarung von zwei X- oder einem X- und einem Y-Chromosom kommt, kann der Embryo dennoch ein uneindeutiges genetisches Geschlecht aufweisen. So zum Beispiel beim Mosaizismus. Hier entsteht aus einer einzelnen, befruchteten Eizelle ein Organismus mit genetisch unterschiedlichen Zellen. Solche Personen haben dann sowohl Zellen mit einem X- und einem Y- als auch Zellen mit zwei X-Chromosomen.
Selbst wenn eine Person eindeutig XX oder XY aufweist, können Formen der DSD auftreten. Zum Beispiel kann es bei der Bildung der Ei- und Samenzellen passieren, dass das X- und das Y-Chromosom Gene tauschen. Durch verschiedene Prozesse können diese Gene auch kopiert, verändert oder gelöscht werden. Wenn das männliche Gen SRY beispielsweise auf den Chromosomen einer XX-Person auftaucht, kann das dazu führen, dass sie Hoden statt Eierstöcke bildet. Wenn das Gen WNT4 hingegen vermehrt in einer XY-Person auftritt, kann dies dazu führen, dass die Bildung männlicher Geschlechtsorgane gehemmt wird und sich unvollständige, weibliche Keimdrüsen entwickeln.
Die Keimdrüsen sind für die Ausschüttung geschlechtsspezifischer Hormone verantwortlich, die die Geschlechtsentwicklung vorantreiben. Die Körper mancher Personen können jedoch nur eingeschränkt oder gar nicht mit diesen Hormonen arbeiten. So gibt es Menschen mit einer kompletten Androgenresistenz. Der Stoffwechsel dieser Personen kann die männlichen Geschlechtshormone (unter anderem Testosteron) nicht verwerten und sie weisen daher trotz eines vorhandenen Y-Chromosoms und Hoden uneindeutige äußere Genitalien auf. Bei der kongenitalen adrenalen Hyperplasie (CAH) wiederum produziert der Körper zu wenig des lebenswichtigen Stresshormons Cortisol und zu viele männliche Geschlechtshormone. Dies kann dazu führen, dass eine XX-Person innerlich weibliche Geschlechtsorgane und äußerlich männliche Genitalien aufweist.
Die Formen und Varianten der Geschlechtsentwicklung sind so vielseitig, dass das binäre Geschlechtermodell – männlich und weiblich – wohl nicht ausreichend ist. Genau wie die persönliche Geschlechtsidentität eines jeden Menschen, bewegt sich das biologische Geschlecht ebenfalls in einem Spektrum.
DSD und das alltägliche Leben
Doch das Bewusstsein für die Vielseitigkeit der Geschlechtsentwicklung findet sich im Alltag kaum wieder. Besonders bei öffentlichen Toiletten gibt es oft nur eine für Männer und eine für Frauen. Für Betroffene ist es meist zu mühselig, nach einer dritten Option zu suchen. „Viele geben dann auf. Die haben dann einfach nicht die Kraft dafür.”, erzählt Charlotte Ariane Krumbholz im Interview mit medienMITTWEIDA. Sie ist Beauftragte für geschlechtliche Vielfalt an der Charité Berlin und selbst mit einer DSD behaftet. Laut ihr passen sich viele DSD-Personen an die gegebene WC-Situation an. „Dann muss jede Person selbst herausfinden, welche für sie richtig ist.”
In der Vergangenheit wurde in der Therapie von Kindern mit DSD besonders eine Strategie angewandt: Die „optimal gender policy”. Diese stand laut der Stellungnahme der Bundesärztekammer seit einigen Jahren in der Kritik von Betroffenen. Ein Teil der Strategie beinhaltete operative Eingriffe an Kleinkindern, „die zum Teil ohne wissenschaftlich ausreichende Evidenz vorgenommen wurden”, so die Bundesärztekammer. Im Mai 2021 verabschiedete der Bundestag ein Gesetz zum Schutz von Kindern vor geschlechtsverändernden operativen Eingriffen. Dieses verbietet solche Operationen an nicht einwilligungsfähigen Kindern, wenn diese das alleinige Ziel haben, sie eindeutig an das männliche oder weibliche Erscheinungsbild anzupassen. Erlaubt seien die Operationen laut Gesetz nur dann, wenn sie nicht bis zur selbstbestimmten Entscheidung des Kindes aufgeschoben werden können oder wenn dessen Gesundheit gefährdet ist. Allerdings berichtet Krumbholz: „Die Anzahl der Operationen ist meines Erachtens nicht zurückgegangen.” Laut ihr können in der Medizin verschiedene Erscheinungen mit unterschiedlichen Diagnosen erklärt werden. „Wenn man der Person aberkennt, dass sie eine DSD-Variante ist, dann ist sie ein Junge oder Mädchen mit Defekt.” Und für solche Kinder gelte das Gesetz nicht.
In der Medizin gäbe es allerdings noch weitere Baustellen. So fehle es an vielen Stellen an Wissen über die meisten Varianten. Laut Krumbholz sei das Vertrauen in Ärzt:innen stark eingeschränkt. „Man geht hin, erzählt was und stellt fest, mein Gegenüber ist eine studierte Person mit Promotion und allem drum und dran und versteht gar nicht, was ich sage.” Sie habe schon persönliche Erfahrungen mit medizinischem Personal gemacht, welches diese Wissenslücke zunächst nicht zugab. Durch diese fehlenden Kenntnisse könne es dann zu Fehlbehandlungen kommen. Der Bundesärztekammer zufolge, sollten sich Ärzt:innen daher in Zusammenarbeit mit spezialisierten Zentren weiterbilden. Jedoch berichtet uns Krumbholz, dass selbst diese Versorgungszentren oftmals nicht alle Varianten der Geschlechtsentwicklung behandeln können. „Du musst mit deiner persönlichen Variante, die du hast, eben den entsprechenden Arzt finden. Es gibt keinen Arzt, der alle behandelt.”
Hinzu kommt, dass im öffentlichen Diskurs verstärkt Kinder im Vordergrund stehen. Erwachsene werden oftmals kaum beachtet. Dies spiegelt sich auch in der Gesetzgebung und der Medizin wider. Frau Krumbholz berichtet uns: „Diagnostisch ist an der Charité alles nur auf Kinder ausgerichtet. Erwachsene brauchen hier gar nicht hergehen.” Laut ihr fallen nur 0,02 Prozent der DSD-Personen bei der Geburt oder im Säuglingsalter auf. Viele weitere werden in der Pubertät oder erst im Zusammenhang mit Kinderwunsch diagnostiziert. Manche Varianten fallen das ganze Leben lang nicht auf.
Im Zusammenhang mit der „optimal gender policy” wurde Betroffenen und Eltern lange Zeit empfohlen, ihre Diagnose vor dem sozialen Umfeld geheim zu halten. Auch Frau Krumbholz hat viele Jahrzehnte nicht über ihre Diagnose gesprochen. Heute steht sie ganz offen dazu. „Dann setze ich mich aber der Gefahr auch aus, ein Kuriosum zu sein.”, erzählt sie uns. So bringe es ihr zufolge auch Schwierigkeiten mit sich, als besondere Person wahrgenommen zu werden. „[Man] fasst es dann so auf: Okay, die Person ist interessiert, die mag mich. Und dann stellt man irgendwann fest: Scheiße es ging gar nicht darum. Es ging darum: Wie ist meine Körperlichkeit.” Für manche Betroffene sei der Umgang mit dieser Sensationslust schwer. Sie verheimlichen ihre Diagnose oder ziehen sich komplett von anderen Menschen zurück.
Laut Krumbholz fühlen sich viele DSD-Personen allein. „Weil du merkst, du bist anders, dann wird dir das auch noch gesagt: Du bist anders. Aber keiner sagt dir, wo die anderen sind.” Sie fordert mehr Peer-Beratungsstellen. Dabei wird man als betroffene Person von ebenfalls Betroffenen beraten. Diese Anlaufstellen sollten dann gemeinsam mit der Diagnose vom medizinischen Personal empfohlen werden. Solche Beratung bietet zum Beispiel der “Intergeschlechtliche Menschen e.V.” an. Auch an der Charité gab es dieses Jahr ein Programm namens Empower DSD. Dabei kamen betroffene Kinder und ihre Eltern zusammen. Hinzu stieß eine erwachsene DSD-Person. Bisher ist unklar, ob das Projekt auch im nächsten Jahr fortgesetzt wird. Laut Krumbholz nehmen solche Beratungs-Programme die Hälfte des Therapiebedarfes einer DSD-Person ab. Die Menschen fühlen sich dadurch nicht mehr allein gelassen. “Du bist in einem Raum, in dem du dich nicht erklären musst. Ich gehöre hier hin und wir können uns auf einer Ebene unterhalten.”
Text , Titelbild, Bild: Arian Kerkhoff