Virtuelles Skalpell

von | 28. Januar 2010

Mit der sogenannten virtuellen Autopsie entwickelten Schweizer Wissenschaftler ein Verfahren, bei dem sie Todesursachen erkennen können, ohne den Leichnam aufschneiden zu müssen.

In modernen Krimiserien sind die Gerichtsmediziner meist hochintelligent, jung, hübsch und liefern ihre wissenschaftlichen Befunde mit beinahe übersinnlich anmutender Schnelligkeit und Genauigkeit ab. Dank dieser Fernseh-Pathologen erlebte der Beruf des Rechtsmediziners in den letzten Jahren einen Boom und die Anzahl der Bewerber steigt im „CSI-Zeitalter“ rasant an.

Im Gegensatz zu vielen ihrer meist US-amerikanischen TV-Kollegen sieht der Arbeitsalltag für die Wissenschaftler vom Institut für Rechtsmedizin an der Universität Bern zwar wesentlich unglamouröser aus, jedoch ist ihre Arbeit fortschrittlicher. Die Schweizer Forscher rund um den Direktor Prof. Michael Thali greifen seit 2001 für eine Autopsie nicht mehr zum Skalpell. Sie entwickelten die Virtopsie, ein Verfahren, das in vielen Fachpublikationen als „revolutionär“ beschrieben wurde. Virtopsie steht für virtuelle Autopsie und dokumentiert sowohl den äußeren als auch den inneren Zustand eines Leichnams auf das Genauste, ohne dass dieser aufgeschnitten werden muss.

Zunächst wird dafür die komplette Körperoberfläche mit einem Laserscanner millimetergenau abgetastet, sodass ein dreidimensionales Bild entsteht. Der Laser registriert dabei auch kleinste Unregelmäßigkeiten und Verletzungen. Anschließend kommt der jetzt aus hygienischen Gründen in einen Leichensack gehüllte Tote in einen Kernspintomografen, wo das Körperinnere durch die radiologischen Verfahren der Magnetresonanztomographie (MRT) und der Mehrschicht-Spiral-Computertomographie (MSCT) dokumentiert wird. Mithilfe von spezieller Software können die Wissenschaftler den Toten nun am Computer betrachten. Statt die verschiedenen Schichten angefangen von der Muskulatur, über die Organe bis hin zum Skelett mit dem Skalpell freizulegen, können die Pathologen sie nun per Mausklick auswählen und in hoher Auflösung einzeln untersuchen. Wenn zuvor das Blut vollständig entfernt und durch ein Kontrastmittel ersetzt wird, lässt sich nach dem Scanvorgang auch der ganze Blutkreislauf bis in die kleinsten Kapillaren auf dem Bildschirm darstellen. Zum Schluss entnehmen die Rechtsmediziner per Biopsie Gewebeproben, die im Labor untersucht werden.

Aufklärung von Verbrechen 

Mit einer Virtopsie kommt der Pathologe oft schneller zum Ziel als durch eine herkömmliche Autopsie. Außerdem zerstören zum Beispiel das Aufsägen von Schädeldecke und Brustkorb keine potentiellen Beweise. Alle gesammelten Daten werden dauerhaft gespeichert und können bei Bedarf an Experten in aller Welt geschickt werden, um eine unabhängige zweite Meinung einzuholen. Mit den subjektiven Protokollen, die bei einer traditionellen Autopsie erstellt werden, ist das kaum möglich. Auch wenn durch die gerichtsmedizinische Untersuchung nachgewiesen wird, dass ein Mensch durch Fremdverschulden starb, ist der Fall damit nicht automatisch gelöst. Oft werden zum Beispiel Hinweise auf den Täter oder Tathergang erst viel später gefunden.

Diese können dann ganz einfach mit den bei der Virtopsie entstandenen Daten abgeglichen werden. Dabei hilft, dass nicht nur Leichen digital erfasst werden können. Auch die Oberfläche beinahe jedes beliebigen Gegenstands kann gescannt werden. Alles wird maßstabgetreu abgebildet, sodass Verletzungen zum Beispiel jederzeit mit potentiellen Tatwaffen abgeglichen werden können. Hilfreich ist das auch bei Aufklärung von Autounfällen, deren genauer Ablauf so rekonstruiert werden kann.

Bis die Virtopsie allerdings zum Standard gehört, werden mindestens zehn Jahre vergehen. Das Verfahren ist noch sehr teuer, allein die Anschaffungskosten für die komplette technische Ausrüstung liegen bei knapp 1,5 Millionen Euro und eine gerichtsmedizinische Untersuchung durch die Virtopsie ist bisher noch mehr als doppelt so teuer wie eine herkömmliche Autopsie.

Religiöse und militärische Bedeutung

Trotzdem wird beim US-amerikanischen Militär bereits eine leicht vereinfachte Version der Virtopsie regelmäßig angewendet. Ungefähr 3.000 in Afghanistan oder dem Irak gefallene Soldaten wurden seit 2004 schon auf diese Weise untersucht. Die gewonnen Daten dienen nicht nur zur Aufklärung der genauen Todesumstände jedes Einzelnen, sondern sollen auch dabei helfen, die Schutzausrüstung weiter zu optimieren. Auch Vertreter verschiedener Religionen, die eine Obduktion oft ablehnen, zeigten sich schon an dem neuen Verfahren interessiert. Für strenggläubige Juden stellt die Autopsie zum Beispiel eine Entweihung des Körpers dar, die mit der minimal-invasiven Virtopsie umgangen werden kann.

Generell ergänzt die virtuelle Autopsie die traditionelle bisher nur. Mit der Virtopsie lassen sich ungefähr 60 bis 80 Prozent der untersuchten Todesfälle aufklären. Bestimmte Befunde wie zum Beispiel die Verfärbung von Organen, die auf verschiedene Todesursachen hinweisen können, lassen sich trotz modernster Technik nicht stellen. Zudem ist die Virtopsie bisher nicht als Methode vor Gericht zugelassen, sodass alle durch sie entdeckten Beweise durch eine traditionelle Obduktion untermauert werden müssen.

Die Rechtsmediziner von CSI verwendeten die Virtopsie in zwei Episoden, während deren fiktiver Serienkollege beim NCIS in einer Folge wie bei einer Virtopsie Computertomographie und MRT zur Klärung einer Todesursache einsetzte. Langsam springen also auch die Hollywood-Pathologen auf den virtuellen Zug auf.

<h3>Annegret Hintze</h3>

Annegret Hintze