Kommentar

Was Berlin kann, kann Chemnitz doch auch?!

von | 20. Dezember 2024

Die kühle Nachtluft vermengt sich mit Rausch und Heiterkeit. Die Tür geht auf, dahinter ein Meer aus LED-Anzeigen. Kühlschränke surren leise, die Regale prall gefüllt, die Auswahl riesig – aber die Entscheidung fällt schnell. Zielsicher greift die Hand nach dem Lieblingsbier. Ein Moment, der den Abend rettet, ihn erst richtig beginnen lässt. Solche Szenen bleiben für Chemnitz bisher nur ein Traum. Spätis, die in Berlin synonym für urbane Kultur, Gemeinschaft und Freiheit stehen, sind hier nahezu unbekannt. Die Stadt, die 2025 Kulturhauptstadt Europas wird, sucht bisher vergeblich nach einer Infrastruktur, die flexible Nahversorgung und soziale Treffpunkte bietet. Ein fehlender Baustein sind Spätverkaufsstellen. Doch warum gibt es in Chemnitz keine Spätis? Sind die Chemnitzer*innen etwa weniger durstig? Natürlich nicht. Das Problem liegt tiefer – in behördlichen Hürden, mangelnder Unterstützung und einer verpassten Chance.

Spätis, kurz für Spätverkaufsstellen, haben ihren Ursprung in der DDR. Dort sollten sie Schichtarbeiter*innen ermöglichen, auch spätabends noch einkaufen zu können. Nach der Wende wurden sie in Berlin zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Stadtkultur und versorgen Berliner*innen mit Bier, Snacks und Gesprächen bis spät in die Nacht. In anderen Städten wie Leipzig haben sich Spätis ebenfalls fest etabliert. Sie bieten Nahversorgung und stärken zugleich die soziale Infrastruktur. Und in Chemnitz? Fehlanzeige. Dabei gibt es hier junge Menschen, Studierende, Nachtschwärmer*innen und Kulturinteressierte – die perfekte Zielgruppe für ein Späti-Netzwerk.

Die Bedeutung von Spätis

Spätis sind mehr als kleine Läden, die bis in die Nacht geöffnet haben – sie sind soziale Knotenpunkte, Retter in letzter Sekunde für das Feierabendbier und Orte für spontane Begegnungen. In Berlin etwa, wo die Späti-Kultur tief verwurzelt ist, prägen sie das Stadtbild und die Lebensqualität entscheidend mit. Auch in Chemnitz gab es bereits Versuche, das Konzept eines Spätis zu etablieren. So eröffnete 2023 der „f2mini“-Kiosk in Bernsdorf – ein 24-Stunden-Shop, der völlig ohne Personal auskommt und durch eine App gesteuert wird. Das mag technologisch innovativ sein, aber ein sozialer Treffpunkt ist es nicht. Der „f2mini“ ist anonym und distanziert – das Gegenteil dessen, was Spätis eigentlich ausmacht.

Warum fehlen Spätis in Chemnitz?

Die Ursachen für das Fehlen von Spätis in Chemnitz sind vielfältig. Ein zentraler Punkt sind die gesetzlichen Einschränkungen. Das Sächsische Ladenöffnungsgesetz (SächsLadÖffG) regelt Öffnungszeiten strikt. Anders als in Berlin, wo Ausnahmeregelungen für den Verkauf an Touristen oder für Nachbarschaftsläden greifen, bleibt Sachsen restriktiv. Eine Lockerung, wie sie die Linksfraktion im Sächsischen Landtag fordert, könnte die Etablierung solcher Läden fördern. Doch bisher blockieren bürokratische Hürden diese Entwicklung. Dazu kommen hohe Anforderungen an den Betrieb in Wohngebieten aufgrund der potenziellen Ruhestörung

Auch wirtschaftliche Aspekte spielen eine Rolle. Spätis funktionieren am besten in dicht besiedelten Quartieren mit hoher Passantenfrequenz. Chemnitz, geprägt von großen Freiflächen und sinkender Bevölkerungsdichte, bietet hier weniger ideale Bedingungen. Eine verpasste Chance, denn leere Ladenflächen gibt es reichlich. Diese könnten für Spätis genutzt werden und somit die Innenstadt wiederbeleben.

Die Kulturhauptstadt ohne urbane Kultur?

Chemnitz will 2025 als Kulturhauptstadt Europas auftreten, doch es fehlt an grundlegender urbaner Infrastruktur, die in anderen Großstädten selbstverständlich ist. Der erste Eindruck zählt: Ein nächtlicher Spaziergang durch Chemnitz hinterlässt derzeit keine lebendige, pulsierende Atmosphäre. Kultur ist nicht nur Theater und Kunst – sie zeigt sich auch in der Art, wie Menschen ihren Alltag gestalten und wie sie sich begegnen.

Der gescheiterte Versuch zweier Studentinnen, einen Späti auf dem Sonnenberg zu etablieren, ist ein Symbol für die Misere. Trotz ihres Engagements scheiterte das Projekt an mangelnder Unterstützung und schwierigen Bedingungen. Laut der Technischen Universität Chemnitz habe ein solcher Späti nicht nur Studierende versorgt, sondern auch die Nachbarschaft belebt.

Wirtschaftliches Potenzial und soziale Chancen

Spätis sind in Berlin nicht nur kulturelle Treffpunkte, sondern auch bedeutende wirtschaftliche Akteure. Mit circa tausend Spätis, von denen 90 bis 95 Prozent von Menschen mit Migrationshintergrund betrieben werden, tragen sie erheblich zur lokalen Wirtschaft und zur Generierung zahlreicher Arbeitsplätze bei. Zudem fungieren Spätis als wichtige Vertriebskanäle für Produkte wie Eistee: Im unabhängigen Handel, zu dem auch Spätis zählen, erreichte die Marke Fuze Tea im Jahr 2021 einen Marktanteil von 37 Prozent. In Chemnitz, wo viele Ladengeschäfte leer stehen, könnten Spätis das Stadtbild beleben und wirtschaftliche Impulse setzen. Sie ziehen Besucher*innen an und erhöhen die Attraktivität von Wohnquartieren. Berlin macht es vor.

Was kann Chemnitz tun?

Chemnitz braucht dringend neue Impulse, um die urbane Kultur zu stärken und den Mangel an Spätis zu kompensieren. Kulturräume wie das „Raguzzi“ auf dem Sonnenberg zeigen, wie alternative Konzepte eine Lücke schließen können, indem sie Menschen einen Ort bieten, an dem sie sich treffen, miteinander austauschen und gemeinsam etwas trinken können. Solche Initiativen schaffen Gemeinschaft und fördern kulturelles Leben, das in Chemnitz häufig vermisst wird.

Die Stadt könnte ein Förderprogramm auflegen, das Leerstand reduziert und bürokratische Hürden abbaut. Ein Pilotprojekt in der Innenstadt, unterstützt durch Sonderregelungen für Öffnungszeiten, könnte den Startschuss geben. Gleichzeitig sollte die Stadt gezielt nach privaten Betreiber*innen suchen und sie aktiv ermutigen, Spätis zu eröffnen. Auch der Druck auf Landesebene muss erhöht werden. Lockerungen des Sächsischen Ladenöffnungsgesetzes sind unabdingbar, um Chemnitz flexiblere Regelungen zu ermöglichen. Berlin zeigt, dass eine liberalere Gesetzgebung die urbane Kultur und Wirtschaft stärken kann.

Chemnitz braucht Spätis – jetzt!

Der Mangel an Spätis ist nicht nur ein Problem der Nahversorgung, sondern ein Symptom für fehlende urbane Lebendigkeit in Chemnitz. Wer 2025 Kulturhauptstadt Europas sein will, muss auch kulturelle Vielfalt im Alltag bieten. Spätis könnten ein erster Schritt sein, um Chemnitz lebenswerter, sozialer und moderner zu machen. Die Stadt hat die Chance, leere Räume mit neuem Leben zu füllen und gleichzeitig wirtschaftliche sowie soziale Potenziale zu nutzen.

Es ist Zeit, dass Chemnitz aufwacht – am besten mit einem kühlen Getränk in der Hand, spät in der Nacht, an einem Ort, der Menschen zusammenbringt.

Text: Emma-Leonie Kmoch, Titelbild: KI-generiert

<h3>Emma-Leonie Kmoch</h3>

Emma-Leonie Kmoch

ist 21 Jahre alt und studiert derzeit im 5. Semester Medienmanagement an der Hochschule Mittweida. Bei medienMITTWEIDA engagiert sie sich als Redakteurin und Leiterin des Lektorats seit dem Sommersemester 2024.