Menschenrechtsverletzung

Weibliche Genitalverstümmelung

von | 11. Februar 2022

Freiheit und Selbstbestimmung sind grundliegende Menschenrechte. Trotzdem werden noch immer in vielen Ländern junge Mädchen genital verstümmelt – die meisten bevor sie das 14. Lebensjahr erreichen.

Triggerwarnung: Der folgende Text beschreibt explizit Szenen der sexualisierten Gewalt. Wenn ihr mit so einem Thema nicht umgehen könnt, lest den Artikel nicht oder nicht alleine. 

Weltweit sind mehr als 200 Millionen Mädchen und Frauen von weiblicher Genitalverstümmelung (Female Genital Mutilation – FGM) betroffen. Dabei handelt es sich um eine uralte, äußerst gefährliche und gewaltsame (Teil-) Entfernung des weiblichen äußeren Genitals. International gilt FGM als anerkannte Menschenrechtsverletzung. Auch in Deutschland nehmen die Fälle laut Bundesamt für Migration zu, da immer mehr Menschen aus anderen Ländern nach Europa kommen, in denen FGM fester Kulturbestandteil ist.

Wurzeln der Genitalverstümmelung

Griechische Geschichtsschreiber berichten von der Beschneidung heiratsfähiger Mädchen in Äthiopien und Ägypten – Herodot im fünften Jahrhundert v. Chr. und Strabo im Jahr 25 v. Chr.. Im Römischen Reich konnten Sklavinnen für einen höheren Preis verkauft werden, die zugenäht waren, daher nicht schwanger werden konnten und ununterbrochen arbeitsfähig blieben. Auch Mythen und Irrglauben, die zu einem verschrobenen Umgang mit dem weiblichen Genital geführt haben. In der Zeit der Pharaonen gab es einen Mythos, nach dem ein Mensch sowohl mit einer männlichen als auch weiblichen Seele geboren wird und anatomisch gesehen der männliche Teil bei der Frau in der Klitoris liegt und der weibliche Teil beim Mann in der Vorhaut des Penis. Um sich in die geschlechtsspezifischen wie auch sozialen Rollen einzufügen, erachtete man bei der Frau die Entfernung der Klitoris als nötig, beim Mann die der Vorhaut.

Laut Dr. Jana Graf, die zum Thema Weibliche Genitalverstümmelung und die Praxis in Deutschland promoviert hat, gab es im Mittelalter sowohl in Europa als auch Nordamerika Genitalverstümmelungen an Frauen. Bereits damals war bekannt, dass die Klitoris ein Knotenpunkt von Nervenenden ist (heute weiß man, dass es rund 8000 sind). Eine Beschneidung der Klitoris und der inneren Schamlippen sollte als Prävention und Therapie Abhilfe leisten – sowohl gegen „Verhaltensauffälligkeiten“ wie Masturbation, lesbische Neigungen, hysterisches Verhalten, Nervosität, Aversion gegen Männer oder die Nervenkrankheit Epilepsie, als auch gegen psychische Krankheiten wie depressive Verstimmungen, Melancholie oder den psychologischen Trieb, zu stehlen (Kleptomanie).

Es ist davon auszugehen, dass den Europäern und Amerikanern im Zuge der Kolonialisierung die in Afrika verbreitete weibliche Genitalverstümmelung bekannter wurde. Dies beeinflusste das medizinische Geschehen in Europa, wo die Praktiken nicht kritisch hinterfragt wurden, sondern vielmehr eigene Theorien aufgestellt wurden, die die Praktik in Afrika eher legitimierten.

Beschneidung und Genitalverstümmelung bereits als etablierte Praktik im alten Ägypten Bild: NALA e. V.

Begründungsansätze im 21. Jahrhundert

Kulturkreise, die Genitalverstümmelung heute in großem Ausmaß durchführen, tun dies aus folgenden Beweggründen:

„Das macht man schon immer so“: Über Generationen hinweg werden Mädchen und Frauen beschnitten oder zugenäht, weil es die Tradition will. Das soll Respekt gegenüber den vorangegangenen Generationen und der eigenen Kultur ausdrücken. Die Genitalverstümmelung soll den Übergang von einem Mädchen zu einer „vollwertigen“ Frau mit sozialer Identität und Anerkennung markieren (Initiationsritus). Allerdings werden die meisten Mädchen schon zwischen dem vierten und 14. Lebensjahr beschnitten, einige auch schon wenige Tage nach der Geburt.

In verschiedenen Religionen gibt es die Überzeugung, dass die Praktik (geistige) Reinheit schafft und eine Einheit zwischen Menschen und spirituellen Wesen oder höherer Gewalt erzeugen kann. In manchen Ländern gilt eine zugenähte Vulva als hygienischer oder ästhetischer – ohne sei das Genital schmutzig und hässlich. Mancherorts dürfen nur Mädchen, die dem Ritual der Genitalverstümmelung unterzogen wurden, Essen für Männer zubereiten.

Es gibt auch Mythen, mit denen weibliche Genitalverstümmelung gerechtfertigt wird. Mancherorts nimmt man an, dass ein Kontakt mit der Klitoris tödlich enden oder Impotenz, das heißt Erektionsprobleme beim Mann, hervorrufen könne. Andere glauben, dass eine Frau zugenäht werden müsse, da sonst innere Organe oder ein heranwachsendes Baby aus der „offenen“ Vulva herausrutschen könnte. Umgekehrt werden negative gesundheitliche Folgen der Praktik oft nicht mit der Genitalverstümmelung in Zusammenhang gebracht, sondern anderweitig erklärt.

Oft sind die Familien aus den Kulturkreisen, in denen weibliche Genitalverstümmelung praktiziert wird, sehr arm. Umso höher der Beschneidungsgrad der Tochter ist, desto höher fällt oft das Brautgeld aus, das die Herkunftsfamilie bekommt. Das Brautgeld beträgt meist ein Monatsgehalt. Ohne Beschneidung würde das Mädchen oder die Frau aus der Gemeinschaft und der Familie ausgeschlossen werden.

Ein Hauptproblem ist weiterhin, dass die Gleichberechtigung des männlichen und weiblichen Geschlechts in vielen dieser Ländern nicht relevant ist. Christa Müller von “INTACT”, einer internationalen Initiative gegen Beschneidung von Mädchen und Frauen:

„Das Interesse des Mannes spielt die größte Rolle. Wenn er heiratet, will er eine Sicherheit haben, dass das Mädchen, das er heiratet, Jungfrau ist. Und die Frauen sollen auch nicht so viel Freude am Sex haben, damit sie in der Ehe nicht fremdgehen.“

Formen der weiblichen Genitalverstümmelung

Die WHO definiert FGM wie folgt: „Female Genital Mutilation umfasst alle Praktiken, bei denen das äußere weibliche Genital teilweise oder vollständig entfernt wird sowie andere medizinisch nicht begründete Verletzungen am weiblichen Genital.“ Die Formen der weiblichen Genitalverstümmelung klassifiziert die WHO in vier Typen. Wundheilungsstörungen oder das gewaltsame Wiederöffnen der Narbe vor dem Geschlechtsverkehr oder Geburten erschweren eine Zuordnung. TERRES DES FEMMES, ein Verein, der sich für Menschenrechte von Frauen einsetzt, beschreibt die vier Typen wie folgt:

TYP I – Klitoridektomie oder „Sunna-Beschneidung“

Die „Klitoridektomie“ ist die teilweise oder vollständige Entfernung des äußerlich sichtbaren Teils der Klitoris und/oder der Vorhaut der Klitoris Ist von der „milden“ Sunna-Beschneidung (sunna: arabisch für „empfohlen“) zu lesen, bezeichnet dies häufig einen kleinen Schnitt in der Klitoris, sodass ein Bluttropfen fließt. Mitunter werden jedoch auch Eingriffe als „sunna“ bezeichnet, bei denen Gewebe entfernt wird.

TYP II – zusätzlich zu Typ I werden die inneren Schamlippen gekürzt oder komplett entfernt

Bei der „Exzision” werden der äußerlich sichtbare Teil der Klitoris und die inneren Schamlippen teilweise oder vollständig entfernt, ab und an auch die äußeren Schamlippen entstaltet. Diese Form wird oft zur „Initiation“ (vgl. oben) praktiziert. Regelmäßig gehört zum Initiationsritus, dass das Mädchen dabei weder weinen noch schreien darf, um seinen erwachsenen Charakter zu beweisen und um zu zeigen, dass es würdig ist, seine in der Gesellschaft bestimmte Rolle zu erfüllen.

Typ III – komplettes äußeres Genital wird entfernt und bis auf ein kleines Loch zugenäht

Die „Infibulation“ ist die schwerste Form weiblicher Genitalverstümmelung. Das gesamte Genital (Klitoris(vorhaut) und Schamlippen) wird entfernt und die Wunde bis auf ein kleines, stecknadelgroßes Loch zugenäht. Das Loch wird dadurch erzeugt, dass bis zur Wundheilung ein Fremdkörper eingeführt wird. Urin, Menstruationsblut und Vaginalsekret sollen abfließen können, eine Penetration aber nicht möglich sein. Die beiden Seiten der Vulva werden anschließend beispielsweise mit Dornen, Seide oder Tierdarm so vernäht, dass sich eine Brücke aus Narbengewebe über der Vagina bildet.

Diese Form praktizieren vor allem Gemeinschaften, in denen der Wert einer Frau allein durch ihre Jungfräulichkeit und eheliche Treue bestimmt wird. In der Hochzeitsnacht wird die Frau aufgeschnitten (Deinfibulation) oder so lange penetriert, bis sie aufreißt. Die Penetration in der Hochzeitsnacht oder eine Geburt können den Schmerz und das Trauma der Genitalverstümmelung reaktivieren oder sogar noch übertreffen. Nach einer Geburt werden Frauen oft wieder zugenäht (Reinfibulation).

Typ IV – jegliche andere Praktiken die teilweise physische und/oder psychische Schäden hinterlassen

Diese Form bezeichnet alle weiteren medizinisch nicht begründeten Eingriffe, welche die Vulva und Klitoris der Frau irreversibel schädigen. Darunter fallen zum Beispiel Ätzen, Brennen, Scheuern und das Auftragen von nervenschädigenden oder betäubenden Substanzen. Praktiken wie das Räuchern, Tupfen oder Auflegen von magischen Gegenständen hinterlassen zwar keine physischen Schäden, werden aber dennoch mit der Absicht ausgeübt, die Sexualität des Mädchens zu kontrollieren.

Die vier Typen der weiblichen Genitalverstümmelung Bild: End FGM EUROPEAN NETWORK

Der Ablauf der Beschneidungszeremonie in Somalia – Fadumo Korn¹

Am Vorabend feiern die Familie und die Gemeinschaft das aufkommende „Ereignis“. Es wird eine Ziege oder ein Schaf geschlachtet, Fadumo darf allerdings nur weichen Brei essen oder süßen Tee trinken. Die ganze Familie isst und tanzt – Fadumo sitzt daneben. Eine Wahrsagerin liest aus den Innereien des Tieres die Zukunft des Mädchens. Das Blut des Tiers wird auf den Boden gespritzt, um die Erdgeister zu besänftigen. Die kleine Fadumo bekommt Geschenke, die um sie drapiert werden – sie wird behandelt wie eine Prinzessin. Es werden Loblieder gesungen und Fadumo wird gesegnet. Keiner verliert ein Wort über den bevorstehenden Tag. Wenn die Gäste weg sind, muss Fadumo ins Bett, sie bekommt in dieser Nacht einen besonderen Schlafplatz.

Ganz früh am Morgen werden Fadumo und andere Mädchen aus dem Dorf oder der Stadt in Hinterhöfe oder die Wüste gebracht, damit man Schreie nicht hören kann. Dort verbleiben sie eine Weile, damit die Familie, die auf dem Land in der Regel nur einen Raum bewohnt, nicht vom Wundgeruch gestört wird. Fadumo sieht mit an, wie ein Mädchen nach dem anderen geholt und genitalverstümmelt wird. Die ganze Prozedur wird ohne Narkotisierung bei vollem Bewusstsein durchgeführt.

Für alle Mädchen benutzt die „Beschneiderin“ dasselbe Instrument zum Abschneiden der Genitalien. Es wird nicht desinfiziert oder gereinigt.

Die Schneidewerkzeuge sind beispielsweise rostige Scheren, Messer, Dolche, Dosendeckel, Fingernägel, Dornen, Glasscherben oder Rasierklingen, die allerdings als Luxuswerkzeug gelten.

Für die Naht werden zum Schwanzhaare eines Elefanten oder Sisalfäden genommen. Diese werden, damit die Naht hält, in Zickzack-Form um die im Fleisch steckenden Dornen geschnürt.

Einige Stunden nach der Beschneidung müssen die Mädchen zur Probe urinieren. Dafür wird ein kleiner Platz auf dem Sandboden flachgeklopft, das Mädchen dorthin getragen und auf die Seite gelegt. Alles wird genau beobachtet, falls mehr als ein paar Tropfen auf einmal rauskommen, wird die Öffnung als zu groß bewertet und es wird nachgenäht. Die Öffnung darf nicht größer sein als ein Maiskorn.

Die Beine der Mädchen werden vom Knöchel bis zur Hüfte zusammengebunden, bis sich das Narbengewebe über der Wunde gebildet hat – was die Mädchen mehrere Wochen immobil macht. Die Mädchen können nur noch auf der Seite oder auf dem Rücken liegen.

Fadumo Korn wurde 1964 in Somalia geboren und ist selbst als siebenjährige Opfer der weiblichen Genitalverstümmelung. Sie leidet an den Folgen bis heute. Sie ist Autorin, Bundesverdienstmedaillen-Trägerin und lebt heute mit ihrem Mann und ihrem Sohn in München und engagiert sich unter anderem für afrikanische Asylsuchende.

Fadumo Korn ist heute Menschenrechtsaktivistin gegen FGM Bild: PLAN INTERNATIONAL

Medizinische Auswirkungen¹

Primäre Komplikationen

Die Haupttodesursache von FGM sind laut WHO extreme Schmerzen, die zu einem Schock führen, (Ver-)Blutungen oder Infektionen wie Tetanus oder HIV, verursacht durch das Werkzeug. Das Verletzen der hochsensiblen Nervenenden im Genitalbereich führt zu extremen Schmerzen. Da der Vulvabereich stark durchblutet ist, können während und nach der FGM lebensbedrohliche Blutungen auftreten. Die Verletzung der Harnröhre kann zu Inkontinenz oder durch Schwellung zu Harnverhalten führen, also zum Drang, Urin abzulassen, ohne physisch dazu in der Lage zu sein. Die erlittenen Schmerzen lösen oft schwerste Traumatisierungen aus, die die Betroffenen ein Leben lang begleiten. Auch der Vertrauensverlust zur Mutter oder Großmutter, die oft selbst beschneiden oder den unerträglichen Schmerz zulassen, führt kann zu lebenslang anhaltenden Schwierigkeiten führen, Beziehungen einzugehen.

Sekundäre Komplikationen

Die Vernarbung im Genitalbereich kann chronische Schmerzen verursachen, besonders beim Geschlechtsverkehr. Sie begünstigt auch chronische Zystenbildung und Blasen- und Niereninfektionen. Wegen der Mikroöffnung staut sich Menstruationsblut. Die (Teil-) Zerstörung der hochsensiblen Nervenareale wie der Klitoris führt regelmäßig zu Anorgsamie (Unfähigkeit, einen Orgasmus zu erleben). Bei der Geburt eines Kindes ist häufiger ein Kaiserschnitt nötig, teilweise müssen Betroffene zur Geburt aufgeschnitten werden (Deinfibulation).

Verbreitung weltweit sowie in Deutschland

TERRE DES FEMMES dokumentiert, dass FGM hauptsächlich in 32 Ländern Afrikas, auf der Arabischen Halbinsel, in einigen Ländern Asiens sowie in Ländern Südamerikas ausgeübt wird. In mindestens 60 weiteren Ländern, etwa Sri Lanka, Saudi-Arabien und Malaysia, ist FGM durch indirekte Schätzungen, kleine Studien oder anekdotische Evidenz und Medienberichte dokumentiert.

Verbreitung der weiblichen Genitalverstümmelung auf dem afrikanischen Kontinent Bild: TERRES DES FEMMES

Weltweit sind derzeit mindestens 200 Millionen Mädchen und Frauen von FGM betroffen. Weitere vier Millionen Mädchen gelten als gefährdet. Durch Migration erreicht FGM auch Deutschland. In Deutschland leben nach den Berechnungen von TERRE DES FEMMES Dunkelzifferstatistik 2020 knapp 75.000 bereits von FGM betroffene Frauen, weitere 20.000 gelten als gefährdet. Deutschland wie auch 192 weitere UN Länder verfolgen die Ziele für Nachhaltigkeit und Entwicklung (Sustainable Developementgoals – SDGs). Das Ziel Nummer Fünf ist die Geschlechtergleichstellung und Selbstbestimmung von Mädchen und Frauen. Unter anderem soll physische und psychische Gewalt an Mädchen und Frauen abgeschafft werden. Darunter fällt auch die international als Menschenrechtsverletzung anerkannte weibliche Genitalverstümmelung. In Deutschland kann sie mit bis zu 15 Jahren Gefängnishaft bestraft werden.

In Berlin im Krankenhaus Waldfriede können Frauen im Desert Flower Center (DFC)  vaginale Rekonstruktionen machen lassen. Frau Dr. Cornelia Strunz ist ärztliche Koordinatorin und führt die Sprechstunden durch. Sie ist außerdem auch Generalsekretärin der deutschen Zweigstelle der Internationalen Desert Flower Foundation, gegründet von Waris Dirie. Frau Dr. Strunz ist der Auffassung, dass es in Deutschland noch zu wenig Hilfsangebote gibt, die deutsche Regierung zu wenig tut und dass man geschädigten Frauen besonders finanziell noch viel stärker helfen könnte. 

Dr. Cornelia Strunz Bild: Kai Abresch

¹ Fritschen, U., Strunz, C., & Scherer, R. (Eds.). (2020). Female genital mutilation: medizinische Beratung und Therapie genitalverstümmelter Mädchen und Frauen. Walter de Gruyter GmbH & Co KG.

Text: Alicia Rabe, Titelbild: Alicia Rabe

<h3>Alicia Rabe</h3>

Alicia Rabe

ist 21 Jahre alt und studiert derzeit im vierten Semester Medienmanagement an der Hochschule Mittweida. Bei medienMITTWEIDA engagiert sie sich als Redakteurin seit dem Wintersemester 2022.